get shorties labor
 
Mittwoch, 30. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 18 (Dienstag, 29. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute war ich beim Arzt. Ich wollte mir eine Überweisung für die Suchtklinik holen. Schon am Morgen zitterte ich ein wenig. Meine Nasenspitze war kalt, mir fielen ständig Sachen zu Boden wie das Essen, die Zeitung oder die Küchengeräte. Ich lief in meiner Wohnung auf und ab und hin und her wie ein hungriger Tiger im Zookäfig. Zähne fletschend, fauchend, ungehalten. Zum Glück kam mir niemand in die Nähe. Die arme Sau hätte ich bestimmt so laut angeschrien, dass sie einen Herzinfarkt bekommen, mindestens aber fluchtartig meine Gegenwart verlassen hätte. So viele Sinne hatte ich aber noch beisammen, dass ich als aufgeklärter Fußballjunkie sofort wusste, was das war: ganz klar die ersten Entzugserscheinungen von der EM. Ein Tag ohne Live-Fußball, das ist wirklich hammerhammerhart. Lange darf das nicht andauern, allenfalls bis heute Abend. Sonst raste ich völlig aus.

Ich schaltete das Radio an. Oh nein! Der Moderator auf „Das Ding“ war genau so drauf wie ich. Er fragte doch tatsächlich seine Hörer um Rat, wie er mit dem fußballfreien Tag umgehen solle und holte sich sodann einen weibliche Beistand aus der Redaktion ins Studio, die ihn erstmal sanft beruhigte. Doch so leicht ließ sich der Mann am Mikro nicht abkühlen. Mindestens ein Mal pro halbe Stunde sagte er mir über den Sender, „DASS HEUTE KEIN LIVESPIEL IM FERNSEHEN IST!“ „JA, HEULSUSE, ICH WEIß ES JETZT!!“, und schaltete um auf SWR3. Doch auch da fragte die Moderatorin ihre Hörer, was sie heute am zweiten fußballfreien Tag machen und holte auch ihren Redakteur ins Studio. Der sagte, er werde erst mal seine Wohnung von einer kompletten Schicht Kronkorken befreien und anschließend mit dem Dampfstrahler drüber gehen. Die Hörerumfrage auf SWR3 wollte ich mir erst gar nicht antun und versuchte es mit SWR1. Die älteren Herrschaften dort überbrückten den Tag mit der „Kleinen Länderkunde“ über die EM-Teilnehmer. Heute: Portugal. Und mit einem O-Ton-Beitrag über die Familie des Stuttgarter Linienrichters, der im Finale am Sonntag die Seitenlinie auf und ab laufen und immer dann mit der Fahne winken wird, wenn die Spieler etwas falsch machen. WER WILL DAS DENN HÖREN? Und auf allen Kanälen lief der EM-Song „Forca!“ von Nelly Furtado rauf und runter. ICH WILL DIESES LIED JETZT NICHT HÖREN!

Irgendwie musste ich einsehen, dass es heute doch kein Livespiel gab, schaltete das Radio aus und ging ins Internet. Fußball wenigstens lesen und klicken. Das neueste, allerneueste und brandaktuellste von der EM erfahren. Yahoo, Kicker.de, Sport1, Spiegel Online. Und vielleicht meldet dpa ja, dass das Spiel Portugal gegen England wegen großer Publikumsnachfrage in ARD oder ZDF wiederholt, besser noch, neu angepfiffen wird. Oder vielleicht gibt’s ja irgendwo wenigstens ein paar Videostreams vom Spiel Holland gegen Tschechien aus der Vorrunde? Natürlich nicht und so vertrieb ich mir online die Zeit, um alle Nachrichten und Berichte zur und über die EM mindestens zwei Mal zu lesen und auswendig zu lernen. Die Schlagzeilen: „Deutschland doch im Finale – Markus Merk pfeift das EM-Endpiel“. „DFB wartet auf Zusage Hitzfelds“. „Hitzfeld wird kein Schnäppchen – er bekommt vier Millionen Euro pro Jahr“. „Porträtfoto von David Beckham in London beschmiert“. „Kritik an MV wegen Führungstils“, „Eilts nominiert 18 Spieler für U-19-EM“. „Kroatiens Trainer Otto Baric zurückgetreten“. „Erklärung des DFB zur Trainersuche“. „Schwarze Serie der Gastgeber bedroht Portugal“. „Rehhagel will nach EM über griechische Bürgerschaft entscheiden“. „Holland gegen Portugal ohne Kapitän de Boer“. Und so weiter und so fort. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs, in der Vorrunde hätte jetzt ein Spiel begonnen. Ich suchte im Internet Ablenkung mit anderen Themen. Vielleicht ein bisschen Boulevard auf Bild.de? „Schwangere Britney qualmt weiter“. Igitt! Hier kippt Britney ihren Aschenbecher vom Hotelbalkon“. Oder T-Online: „Bierkonsum – nur ein Land schlägt Deutschland“. Das kann ja nur Irland sein. Richtig geraten. Diese Erkenntnis nötigte mir aber auch nur ein Lippenzucken ab. Ich biss mir auf die Unterlippe und surfte ziellos weiter. Vielleicht ein bisschen Geld ausgeben auf Amazon.de? Jaaaaaaa! Ich fand das Buch, das mir garantiert helfen wird: „Bernd Müllender: Fußballfrei in 11 Spieltagen – Eine Entziehungskur für Süchtige“, Fischer-Verlag, 16,90 Euro. Aber elf Tage? Dann bin ich längst tot und die EM ist vorbei. Ich nahm von dem Kauf Abstand und sah wieder auf die Uhr: 20.30 Uhr.

Ich machte den PC aus, ging wie in Trance ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Vielleicht doch ein Wiederholungsspiel in der ARD? Nix da. Eine entsetzlich Serie lief - „Familie Dr. Kleist“. Aaaaargl! Und im Zweiten? Vielleicht analysieren Poschi und sein Franz für mich nochmal die vergangenen Spiele und haben ein Exklusivinterview mit Mayer-Vorfelder zur Trainerfrage in petto? Nein, der Film im ZDF hieß „Die Stunde der Offiziere – ein Dokudrama“. Es ging um Graf Stauffenberg und das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. WARUM ZEIGEN SIE ES DANN NICHT AUCH AM 20. JULI UND WIEDERHOLEN STATTDESSEN PORTUGAL GEGEN ENGLAND? Vielleicht haben sie ja was auf DSF, Eurosport oder in den Dritten? In den Dritten gab’s aber nur Heimatkunde und die Sportkanäle konnte ich nicht sehen, weil ich immer noch keinen Kabelanschluss beziehungsweise eine Satellitnschüssel habe. Ich war der Verzweiflung nahe. Das Zittern am Körper nahm zu, ich begann zu schwitzen. Kalter Schweiß rann die Wangen hinunter. Meine Zähne klapperten, die ersten Tränen kullerten aus den Augen und mein Mund war so ausgetrocknet wie nach vier Wochen Sahara ohne Oase. Ich trank einen Liter Wasser, doch der Mund war so trocken wie vorher. Jetzt wurde mir richtig kalt, ich zog die Beine an den Körper und klammerte die Arme drum herum. Was sollte ich nur tun? Wo hätte ich jetzt meinen Stoff her bekommen sollen? Da konnte nur einer helfen.

Ich rief meinen Hausarzt zu Hause an. „Sie müssen mir helfen“, winselte ich ihn an. „Kommen Sie in fünf Minuten in meine Praxis“, sagte er und legte auf. Ich raffte mich auf, zog mich langsam und überraschend ohne unkontrollierte Slapstick-Einlage an und fünf Minuten später war ich in seiner Praxis. Mein Arzt war völlig erschrocken: „Um Gottes Willen, wie sehen Sie denn aus? Was ist denn passiert? Kommen Sie, legen Sie sich auf die Liege“ „Herr Doktor, ich kann nicht mehr. Ich glaube, ich bin fußballsüchtig! Können Sie mich einweisen?“ „Sie sind ein Fußballjunkie?“ Ich schilderte ihm mit zitternder Stimme meinen Tag und der Doc hörte geduldig zu. Dann schüttelte er verständnislos den Kopf und ließ sich langsam in seinem Sessel nieder. „Da muss erst mal nachsehen.“ Er griff sich einen dicken Wälzer aus dem Regal und blätterte und blätterte. „Hm, das gibt’s bei mir gar nicht“, murmelte er. „Sie sind wahrscheinlich etwas überlastet zurzeit. Ich gebe Ihnen mal diese Pillen hier mit. Nehmen Sie jetzt gleich eine, noch eine vor dem Schlafengehen und morgen nach dem Aufstehen wieder eine. Und morgen Abend ist das bestimmt wieder weg.“ Ich riss ihm die Pillen aus der Hand und untersuchte sie eingehend. Sie waren aber weder silberfarben noch rund noch führten zwei schwarze Streifen über ihre Pole. Und auf der Packung stand auch nicht „Roteiro“ drauf. „Was? Das sollen Pillen gegen Fußballsucht sein?“, schrie ich meinen Doc empört an, holte mit einer Armbewegung alle seine Instrumente zu Boden, warf das Bücherregal um, knallte die Türe hinter mir zu, erschreckte die Assistentin am Empfang mit einem lauten Aufschrei („Foul! Böse Blutgrätsche!! Ihr Chef gehört vom Platz gestellt!!!“) und fegte großen Schrittes aus der Praxis.

Liebes Tagebuch, ich glaube, mir ist nicht zu helfen. Ich bin fußballsüchtig im fortgeschrittenen Stadium. Es gibt nur einen Trost, eine Perspektive: morgen Abend, 20.45 Uhr. Der nächste Schuss, der nächste Kick. Zum Glück gibt es keinen Goldenen Schuss mehr (das „Golden Goal“ ist ja abgeschafft worden), sondern allenfalls noch das „Silver Goal“. Das heißt, es wird immer weitergehen, und immer am Rande des Abgrunds. Mein Arzt hatte recht: Heute Abend geht’s weiter. Halbfinale Portugal gegen Holland. Lechz, sabber, geifer. Meine Stimmung steigt. Wem ich die Daumen halte? Keinem. Denn nach zwei Tagen auf Entzug will ich 120 Minuten Fußball auf höchstem Niveau sehen. Und dann Elfmeterschießen mit einem 22:21. Denn alles andere ist schnullibulli!

Bis Morgännn!!!


 
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