get shorties labor
 
Dienstag, 13. März 2007

Horst braucht Hilfe


Es war an einem Sonntag Abend kurz nach Zehn. Ich schaue aus meinem Schlafzimmerfenster, während ich meine Rollländen runterlasse. Da sehe ich ihn: Ein alter Mann auf dem Bürgersteig im Kampf mit sich, seinem Gleichgewichtssinn und der Erdanziehungskraft. Man könnte meinen, er tanzt: 2 vor, 1 nach links und 1 zurück. Ich beschließe ihm zu helfen. Nach kurzem Abschätzen der Gefahren gehe ich runter. Er ist noch nicht viel weiter gekommen. Ein Strauch erfreute ich gerade seiner Gesellschaft. Ich spreche ihn an. Ein Passant, der gerade sein Auto parkt, schaut sich die Situation an. Ich beziehe ihn in meine Überlegung, die Jungs mit der „grünen Minna“ zu holen mit ein. Er befürwortet. Doch unser Mann mit dem Gleichgewichtsproblem lehnt dies entschieden ab: „Keine Polizei!“ Dabei wäre das die einfachst Lösung. Die Polizeidienststelle ist nur 300m entfernt. Ich könnte hinlaufen. „Keine Polizei!“, erinnert er mich. Also los! Er hat mein Unterstützung. Ich werde ihn nach Hause bringen. Langsam aber stetig ging es voran. Mein linker Arm leistete ihm gute Hilfe bei der Aufgabe die Spur zu halten. Wir mussten uns erst einmal aufeinander einspielen. Nach 200m fing die Puste an auszugehen. Der Tross hielt. Ein schweres Schnauben setzte ein. Ich fragte wie ein promovierter Anästhesist nach Vorerkrankungen. Nach circa drei Minuten ging es weiter. Der nächste Halt war Ecke Neuffenstraße – Rosenstraße an einem Elektrokasten. Ich fragte nach der Straße, in der er wohnte. „Ladentalstraße! In der Nähe der Albstraße!“ Die Albstraße kannte ich, aber Ladentalstraße ? Ich suchte nach dieser, während er verschnaufte. Nachdem wir die Hauptstraße passiert hatten, fragten wir ein älteres Paar nach dem Weg. Der hilfsbereite Herr muss gedacht haben, ich wäre sein Enkel. Er berichtigte mich, sagte mir, das es die Gnadentalstraße sei, zeigte uns die Richtung, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Lass dich mal gut nach Hause bringen!“ Ein paar Schritte später sah ich, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Horst kam auf einmal alles noch bekannter vor. Nun übernahm er wieder die Streckenführung, während ich mich darum kümmerte, dass wir dies auf je zwei Beinen taten. Ich fing mit ihm ein Gespräch an: „Wie heißen Sie?“ „Lube! Lube!“ „Wie bitte?“ „Lube ist mein Name! Horst Lube! Geboren in Danzig, Ostpreußen.“ Durch unser Gespräch wurde jetzt einiges klarer: Horst Lube, 73 Jahre alt, geboren in Danzig hatte gerade einen kleinen Umtrunk hinter sich. Auf die Frage, wie er denn in die missliche Lager und den Kontrollverlust über seinen Körper gekommen ist, entgegnete er:“ Ein Bier, ein Schnaps. Ein Bier, ein Schnaps. Ein Bier, ein Schnaps.“ Das zehrt. Er war mir dankbar: „Du wirst 100 Jahre alt!“ Ich dachte mir: Preußen müssen zusammenhalten! 200 Meter vor seiner Haustür verweigerten die Beine ihren Dienst. Wir legten eine Verschnaufpause ein. Er setzte sich auf den Bürgersteig. Ich stütze seinen Rücken, damit er nicht rückwärts in die Hecke kullerte. Jetzt bloß keine Kolateralschäden an meinem Patienten! Es dauerte wieder ein paar Minuten. Beim gemeinsamen Aufstehen griff ich ihm im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme. Jetzt stand, besser gesagt, wankte er wieder. Kurz vor seinem Haus wechselte er die Sprache. Nun redete er nur noch auf polnisch. Ich verstand nur noch Bruchstücke. Über die Straße zum anderen Bürgersteig schafften wir es noch. Horst steuerte auf seinen Block zu: Gnadentalstraße 12 ! Wir waren fast am Ziel. Dann war der Akku schon wieder leer. Kurze Zeit später erreichten wir den Hauseingang. Nachdem wir die Hälfte der Nachbarn durch unkontrolliertes Betätigen der Klingeln über unser Ankommen informiert hatten, rührte sich noch immer nichts im Haus. Keiner öffnete! Keiner beschwerte sich! Waren sie das schon gewohnt? Dann ging das Fenster neben dem Hauseingang auf: „Horst?“, sagte ein alte Frau mit grauen Haaren. Ja, es war Horst. Erschöpft saß er auf der untersten Stufe des Eingangs und lehnte sich an die Tür. Als seine Frau kam und die Tür öffnete, saß er immer noch. Dann macht er ein paar Bewegungen Richtung Eingang. Die Tür stand weit offen. Doch der Körper gehorchte dem benebelten Geist nicht mehr. Er nahm auf seinen vier Buchstaben Platz. Rien ne va plu! Nichts geht mehr ! Seine Frau schaute sich ihn mit einem musternden Blick an. Mit einem herzhaften Griff in sein noch vorhandenes, graues Haupthaar prüfte sie seine Sinne. Diese waren auf ein Minimum herunter gefahren. In Gedanken wird sie zu ihm gesagt haben: „Na da hast du dich ja wieder schön besoffen!“ Um ihn „anzufeuern“ aufzustehen, piekste sie ihn zweimal mit den Pantoffeln ins Bein. Keine Besserung am Patienten feststellbar. Zwar konnte er nicht mehr laufen, aber sonst ging´s ihm den Umständen entsprechend gut. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich ihn nicht bis nach Hause geschleppt hatte, nur damit sie mit ihm Fußball spielen konnte. Sie stellte klar: „Ich trage dich nicht rein!“ Das war ihr auch nicht zu zumuten. „Ich mag dich nicht!“, sagte Frau Lube ehrlich. Dann schaute ich mir die Situation weiter an. Ich war im Inbegriff zu gehen. Die Frau bedankte sich mit einem Handschlag und „Djinkujem!“ „Prosche!- Bitte“ entgegnete ich ihr. Doch ich sah meine Tat noch nicht als vollendet an. Er lag ja noch im Hauseingang. Also hieß es: Aufrichten an der Tür, ran ans Treppengeländer und los! Die Treppe nahmen wir gemeinsam. Doch dann versagten die Beine abermals. Ich setzte ihn langsam ab. Doch nun lag er in einer solch günstigen Position, dass er locker und leicht auf allen Vieren in die Wohnung hätte robben konnte. Jetzt kenne ich den wahren Grund, warum die alten Menschen so gerne parterre wohnen. Darauf hin verließ ich die beiden. Ich verabschiedete mich mit einem akzentfreien „Dowidsenja!“ – Auf Wiedersehen! Einsatzende mit Rückkehr zur Einsatzstelle: 22:40. Ob er es allein nach Hause geschafft hätte? Vielleicht! – Aber nicht in der Zeit! Es heißt: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Das es so schnell passieren sollte, hätte ich nicht gedacht. Zwei Tage später parkte ich meine Auto in der Neuffenstraße. Es war kurz nach 21 Uhr. Wer kommt da unter dem Licht einer Laterne zum Vorschein? Mein Freund Horst. Wieder nicht ganz nüchtern. Er erkannte mich nicht. Ist er etwa Gelegenheitstrinker? Es wäre schade! Er könnte bestimmt ein guter Mensch sein. Kommen wir nun zur rechtlichen Seiten: Wer Hilfe gibt, geht auch Pflichten ein. Wäre Horst mir aus dem Arm geglitten und unglücklich gefallen, hätte ich ein blutendes Problem gehabt. Noch größer wäre das Übel, wenn seine Brieftasche gefallen wäre. Und zwar aus seiner Tasche auf dem Weg nach Hause, bevor wir uns getroffen hätten. Denn wenn er sagt, sie ist weg und ich hätte sie, müsste er es mir beweisen, doch würde sich die Situation gegen den Helfenden drehen und er würde zum Sündenbock für die Fehltritte des Promillefreundes. Hätte ich, wie am Anfang überlegt, den grünen, staatlich monopolisierten Hol- und Bringdienst gerufen, dann wäre ich gut aus dem Schneider. Ich hätte meine Bürgerpflicht zu helfen erfüllt und könnte nach fünf Minuten wieder seelenruhig auf meiner Couch liegen. Doch nichts ist umsonst im Staate Deutschland! Die Rechnung kommt. Per Post. Und wenn sie dir noch ein gekacheltes Zimmer anbieten, das ganz und gar nicht wie dein Schlafzimmer aussieht, wird noch mal eine Extra-Pauschale berechnet. Fazit: Wenn einer gar nicht mehr kann, die grünen Jungs anrufen und gut. Wer austrinkt, muss auch die Zeche zahlen.

Kornwestheim, 26.03.2006


 
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Dienstag, 16. Januar 2007

Leichter leben ohne Harndrang


Neulich musste ich vom Vatertag bis zum Muttertag zum „Deutschen Baumeistertag“ nach Baden-Baden. Sozusagen als Entspannungsmaßnahme entschied ich mich diesmal für eine Zugfahrt. Im digitalen Zeitalter geht man ja nicht mehr so einfach ins Reisebüro um die Ecke, sondern bucht bequem im Internet. Ich glaube, ich hatte noch nie einen so gut ausgestatteten Platz von einem Reisebüro-Mitarbeiter ausgesucht bekommen: Handy-Empfang, Video-Bildschirm, extrem viel Beinfreiheit. Da hat sich das Internet mal echt viel Mühe gegeben.

Ich fahre also mit einem Frühlings-Special für supergünstige 39 € von Berlin nach Baden-Baden. Meine selbst ausgedruckte Fahrkarte weist neuerdings im oberen rechten Teil ein ca. 5 x 5 cm großes, wie Tetris aussehendes Quadrat als mein sogenanntes „Erkennungsmerkmal“ auf. So eine Art digitaler Leberfleck, damit auch ja nicht ein anderer Schmarotzer sich für mich ausgibt, wenn er mir die Fahrkarte klaut!

Leider habe ich erst nach Ausdruck meiner Fahrkarte herausgefunden, dass es für die Rückfahrt keinerlei Frühlings-Specials mehr gibt. Vielleicht irgendwann einmal. Dann aber ein Herbst-Special, WM-Special oder ein Berlin-Hauptbahnhof-Eröffnung-am-28.Mai-sieht-trotzdem-unfertig-aus-und-Weichen-funktionieren-auch-noch-nicht-aber-vom-Bahnhof-Zoo-fahren-geht-auch-nicht-mehr-Special!

Nun zahle ich für die Rückfahrt dreimal so viel, kann aber jeden Zug nehmen, den ich ich will, z. B. einen, der nachts um Mitternacht losfährt und morgens um 9:00 nach einer doppelt so langen Fahrt in Berlin ankommt. Wahrscheinlich wartet der Zug zwischendurch drei Stunden im Bahnhof „Friedrichstraße“ auf andere S-Bahnen.

Ich stehe auf dem Bahnsteig. Der Bahnsteig-Stadion-Sprecher quäkt aus dem Lautsprecher, dass der Zug in umgekehrter Wagenreihenfolge einfahren wird. Sofort setzt eine Völkerwanderung ein. Alle Reisenden von Abschnitt D und E hasten zu Abschnitt A und B und andersherum. Kinder schreien und kleckern Eis. Mütter beruhigen und wischen die Münder der Kinder ab. Väter schleppen schweißüberströmt die Koffer. Irgendwo in Abschnitt C kommt es zum Menschenknäul mit sich knubbelnden und zahlreich verhakelnden Koffern.

In meinem Wagen sitzt neben mir eine Gruppe von Leuten mit Verhältnis: 1 Person zu drei Koffern und 1 Tasche und 2 Tüten. Ihre Sachen stehen so ungünstig neben den Sitzen, dass ich fast über sie falle, während ich nach meinem Sitz schaue. Auch ein Schaffner bittet darum, die Taschen etwas zur Seite zu stellen.

Der Zugchef begrüßt uns über die knisternde Lautsprecheranlage. Er bietet uns großzügig an, ihn jederzeit ansprechen zu dürfen. Ich frage mich, wie das gehen soll, wenn man nicht weiß, welcher von den vielen Schaffnern der Zugchef ist. Bis zum Ende der Bahnfahrt werde ich es auch nicht herausfinden. Und überhaupt: Was ist der Unterschied zwischen Schaffner und Zugchef? Kann der ersterer Fahrkarten abknipsen, während der Zugchef auch noch Anschlussverbindungen aufsagen darf?

Später meldet sich der Zugführer per Durchsage. Er bittet darum, dass das Zugpersonal ihn ansprechen soll. Einen Grund nennt er nicht. Vielleicht hat er Hunger oder möchte eine Nackenmassage. Später sieht man gar kein Zugpersonal mehr. Vermutlich werden illegale Pokerrunden in denjenigen Abteilen veranstaltet, die nur für das Personal da sind.

Ab und zu werden die Durchsage-Lautsprecher für musikalische Experimente missbraucht. In regelmäßigen Abständen werden drei Töne abgespielt. Ihre Bedeutung hat sich mir bisher nicht erschlossen. Bei der S-Bahn bedeuten diese Töne, dass gleich die Türen geschlossen werden und der Zug losfährt. Bei einem mit 250 km/h verdammt schnell fahrenden ICE kann ich mir das eher nicht vorstellen. In dem Film „Die unheimliche Begegnung mit der dritten Art“ wurde mit Hilfe solcher Töne mit den Außerirdischen kommuniziert.

In Göttingen informiert uns der von mir langsam für sympathisch befundene, aber immer noch nicht visuell identifizierte Zugchef, dass der sogenannte „mobile Eisladen“ zugestiegen ist. Das Wort „mobil“ fasziniert mich. Ich fühle mich gleich um 30 Jahre gealtert und sehe mich vor meinem geistigen Auge in einem Altersheim, von einem mobilen Pflegedienst und „Essen auf Rädern“ versorgt.

Zwanzig Minuten später entpuppt sich der mobile Eisladen tatsächlich als „Essen auf Rädern“ – nur „mit ohne“ Räder: eine kleine Studentin darf eine Kühlbox aus dem Karstadt-Gartencenter, auf dem 4 Eissorten-Aufkleber angebracht sind, durch die Wagen schleppen. Sie sieht ziemlich mitgenommen aus. Ich kaufe aus Mitleid ein Magnum für 1,90 €. Zehn Cent Trinkgeld erscheinen mir zu knauserig. Dann lieber gar kein Trinkgeld geben.

Ein paar Reihen vor mir sitzt eine junge Mutter mit einem Sohn im Kindergarten-Alter. Er turnt auf den Sitzen herum und kräht zu der Eisverkäuferin aus zehn Metern Entfernung „Hallo! Hier her!“. Ich grinse ihn an und stecke die Zunge heraus. Anscheinend scheint ihn das zu verschrecken. Er lässt sich auf den Sitz fallen und erzählt es aufgeregt seiner Mutter. Sofort dreht sie sich um und linst durch den Spalt zwischen den Sitzen. Ich komme mir vor wie ein Kinderschänder, dessen Gesicht man mit einem schwarzen Balken über den Augen auf Seite 1 einer Boulevardzeitung unkenntlich gemacht hat. Später steigen drei Polizisten in den Zug. Ob die Mutter sie verständigt hat? Ich sehe mich vor meinem geistigen Auge, wie ich von den Polizisten abgeführt werde.

Auch der Kaffee wird als „Essen auf Rädern“ serviert. Diesmal jedoch wirklich auf Rädern: Wiederum eine kleine Studentin – diesmal eine andere, eine ganze Uni scheint mir hier unterwegs zu sein - verkauft diverse Getränke und Snacks aus Kisten, die sie auf einer Art Sackkarre im Zug vor sich her schiebt. Als sie weitergeht, sehe ich die Speisekarte, die auf die Rückseite ihres T-Shirts gedruckt ist. Leider erkennt man dies erst, wenn man bereits etwas gekauft hat. Vielleicht sollte ich Herrn Mehdorn oder besser gleich dem Nachfolger einen Brief schreiben und ihn bitten, in Zukunft die Speisekarte vorne auf das T-Shirt drucken zu lassen.

Gibt es eigentlich eine Untersuchung, wie oft Reisende, die alleine reisen, bestohlen werden, wenn sie die Toilette aufsuchen und ihr Gepäck alleine am Platz lassen müssen? Ich merke, dass ich eine Flasche Wasser und einen großen Kaffee getrunken habe und dringenst auf die Toilette muss. Ich stürme los, in der Hoffnung, dass potentielle Diebe wenigstens den leeren, ausgeräumten Koffer zurücklassen.

Als ich das WC verlasse, fällt mein Blick auf ein Plakat, das gegenüber der WC-Tür angebracht ist und für ein Medikament wirbt: „Leichter leben ohne Harndrang“. Wie wahr. Oder anders herum wird ein Schuh draus: „Ausgeraubt werden mit Harndrang“.

Der Zugchef sagt an, dass wir demnächst Baden-Baden erreichen. Erleichtert hiefe ich meine noch vollzählig vorhandenen Utensilien von der Gepäckablage. Ich hoffe, den Zugchef vor dem Aussteigen noch einmal kennenlernen zu dürfen. Ihm vielleicht die Hand zu schütteln. Leider taucht er nicht auf. Als ich aussteige, komme ich zu der Erkenntnis, dass es ihn „in echt“ gar nicht gibt und er nur eine neue Erfindung von google ist. Nach „google earth“ jetzt „google zugchef“ oder so. Da hat sich das Internet mal wieder echt viel Mühe gegeben!


 
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Der Mittwochsbahnhof


Dienstag Nachmittag

Sin starrte das Telefon an. Gleich würde es wieder unentwegt klingeln, und die Leute am anderen Ende der Leitung sagen, wie schlecht der Service doch sei und warum sie eigentlich viel lieber fliegen würden!

Der Zeiger seiner Armbanduhr rückte unaufhaltsam auf die 15 Uhr-Marke zu. In seinem Dienstplan stand, dass er dienstags von 15 bis 16 Uhr telefonische Auskünfte erteilen müsse. Wie sehr er das hasste! Noch fünf Minuten Zeit. Sin stand auf und ging zum Fenster seines Büros, das im vierten Stock lag und einen schönen Blick über den Vorplatz erlaubte.

Merkwürdig, dachte er sich. Heute waren erstaunlich wenige Leute unterwegs, die mit ihren Koffern herumirrten und verzweifelt an den Türen rüttelten. Sin machte das nichts mehr aus. Früher wäre er nach unten gegangen und hätte entweder den Familien mit ihren schreienden Kindern, Tüten und Taschen oder den Geschäftsleuten, die nur eine Aktentasche bei sich hatten, lang und breit alles erklärt. Aber nachdem einige handgreiflich wurden, blieb er lieber oben in seinem Büro und beobachtete das ganze Geschehen von oben. Verträumt schaute er den Schneeflocken hinterher, die nur unter dem Schein der vereinzelt aufgestellten Laternen sichtbar wurden.

Rrrrrring! Sin erschrak und drehte sich zum Telefon um, das wie wild klingelte und fast vom Tisch tanzte.

"Berlin Hauptbahnhof. Information. Guten Tag. Meine Name ist Gechen, was kann ich für Sie--", wollte er seinen Spruch herunterleiern. Doch bevor er den Satz zuende gesprochen hatte, ergoss sich ein ungeheuer lautes Gebrabbel in sein Ohr, das nur aus wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen zu bestehen schien. Sin seufzte und bemühte sich, den Anrufer zu beruhigen und zufrieden zu stellen.

Scccchhhhhh.... Krrrhhhh...... Schhhhhhhh. Sin öffnete langsam ein Auge. Was war das für ein Geräusch? Er musste eingeschlafen sein. Die eine Stunde Telefondienst am Dienstag Nachmittag nahm ihn immer so sehr mit, dass er danach sofort einschlief. Er schaute auf seine Uhr. 19 Uhr! Ach Du meine Güte! Er hatte fast drei Stunden geschlafen.

Scchhhhhh. Da war wieder dieses Geräusch. Sin ächzte, als er sich aus dem Bürostuhl erhob. Er schlich langsam zur Tür und öffnete sie vorsichtig einen Spalt. Wie kleine Geister huschten vor seinen Augen die Putzmänner auf ihren Maschinen vorbei, nur dieses leichte Zisch-Geräusch erzeugend.

Sin beschlich ein latentes Gefühl der Hektik. Er hätte längst auf seinem täglichen Rundgang sein müssen. Er dachte an die Eiseskälte in der Halle und entschloss sich, heute die warme Daunenjacke anzuziehen. Als er seinen Garderobenschrank öffnete, fiel sein Blick auf die neue Uniform, die er morgen Abend das erste Mal anziehen würde. Fein säuberlich hing sie wie ein Fremdkörper in seinem grauen Spind, bei dem die Farbe schon an den Ecken abgeplatzt war. Ein dunkelroter, samtartiger Stoff mit goldenen Knöpfen, die seine Initialien trugen. Dazu passend ein weißes Hemd, auf dessen Brusttasche mit einem geschwungenen Schriftzug ebenfalls sein Name gestickt war.

Sin trat in die dunkle Halle und fröstelte. Sein Atem kondensierte sofort und erzeugte abertausende von kleinen Schneekristallen, die wie Watte zu seinen Füßen fielen. Er blickte auf seine dunklen Schuhe, die im Schein der Notbeleuchtung matt glänzten. Der Schnee schmolz und bildete einen kleinen See, in dessen spiegelglatter Oberfläche sein müdes Gesicht mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln zu sehen war. Morgen würde alles anders werden.

Tock-tock!

Sin kniff die Augen zusammen. Nur mühsam konnte er die Gestalt erkennen, die völlig eingeschneit vor den verschlossenen Eingangstüren stand und wie wild an die Scheibe klopfte. Dass diese verdammten Reisenden nicht lesen konnten! Dabei hatte er doch voller Hingabe alles handschriftlich auf einen Zettel geschrieben, 20-fach kopiert und an jede Tür gehängt.

Tock-tock-tock!

"Jetzt reicht es aber", dachte sich Sin und rannte förmlich in Richtung des immer lauter werdenen Klopfens. Er schloss die Tür auf und sah vor sich einen Mann, der einen Reiseführer in der Hand hielt und ihn mit großen Augen ansah.

"Hören Sie", sprudelte es aus Sin heraus. "Heute ist Dienstag! Der Bahnhof ist geschlossen. Kommen Sie morgen wieder. Dann fährt bestimmt auch Ihr Zug".

Der Mann runzelte die Stirn und schaute ihn ungläubig an.

"Das haben Sie jetzt nicht wirklich gesagt".

"Sagen Sie, sind Sie schwerhörig? Hier fahren nur mittwochs Züge ab. Seien Sie doch froh, dass heute Dienstag ist. Hier haben schon Reisende am Donnerstag geklopft, die ich für eine Woche nach Hause schicken musste."

"Aber das ergibt doch keinen Sinn. Ein Bahnhof, bei dem nur mittwochs Züge fahren. Wo gibts denn so was?"

"Tjaaaa", Sin machte eine kurze Pause, bevor seine Arme zu kreisen anfingen und er auf die Gleise im Untergeschoss zeigte.

"Das ist die Wurzel allen Übels. Und das dort auch". Er zeigte auf die lange Glashalle, die im oberen Teil des Gebäudes den Bahnhof durchschnitt und quer zu den Gleisen im Untergeschoss verlief. Noch zu gut erinnerte sich Sin an den Tag im November 2006, als die Hautpverwaltung gerichtlich dazu verdonnert wurde, die Decke im Untergeschoss zu erneuern, weil sie ohne das Einverständnis des Architekten einfach anders ausgeführt wurde. Im Jahr darauf musste dann auch noch die obere Glashalle verlängert werden, weil sie aus Zeitgründen einfach kürzer gebaut wurde.

"Hier mussten ein paar Umbaumaßnahmen durchgeführt werden", erklärte Sin jetzt mit Worten sein hektisches Herumfuchteln mit den Armen.

"Und das war so teuer, dass die Hauptverwaltung sich vor vier Jahren dazu entschlossen hatte, aus Kostengründen hier nur noch mittwochs Züge fahren zu lassen. Der Bahnhof ist als von Donnerstag bis Dienstag geschlossen. Guten Abend."

Sin zog schnell die Tür zu und schloss sie ab, bevor der Mann etwas antworten konnte.

Mittwoch Morgen

Sin blickte auf die Uhr. Er war kurz vor 6 Uhr morgens. Vor dem Bahnhof hatte sich eine große Traube von Menschen gebildet, die gleich um Punkt 6 Uhr durch die Türen strömen würden. Er kannte den Fahrplan in- und auswendig. Der erste Zug fuhr um kurz nach 6 Uhr von Gleis 8 nach München und der letzte kam um 23 Uhr 30 aus Stuttgart an auf Gleis 13.

Um Punkt 6 Uhr schloss er die Tür auf, und die Reisenden strömten wie ein Wildwasserbach an ihm vorbei in Richtung der Gleise im Untergeschoss und in der hoch oben thronenden Glashalle. Sofort füllte sich die eben noch mit einer Grabesstille erfüllte Eingangshalle des Bahnhofs mit Leben. Sin erkannte die Reisenden, die regelmäßig am Mittwoch Morgen kamen und in immer den gleichen Zug einstiegen.

Da war der kleine Junge, der von seiner Großmutter zum Zug gebracht wurde. Oder der Geschäftsmann, der ständig in sein Handy irgendwelche Anweisungen an seinen Steuerberater brüllte. Es schien etwas mit Aktien zu tun zu haben. Sin verstand davon jedenfalls kein Wort.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser über die Menschenmenge schauen zu können. Dort hinten kam sie schon! Das junge Mädchen mit der Aktentasche und der Planrolle unter dem Arm. Schon von weitem sah er ihren gehetzten Gesichtsausdruck.

"Komm schnell", flüsterte Sin sich selbst zu. "Dein Zug fährt in 10 Minuten".

Als sie an ihm vorbeiging, konnte er den Duft ihrer Haut spüren. Selbst mit geschlossenen Augen würde er es fühlen, wenn sie an ihm vorbeigehen würde. Sin sah ihr hinterher, wie sie sich durch die Menschenmenge in Richtung Gleis 3 kämpfte. Er lächelte. Heute würde alles anders werden. Sicherlich, er würde den Bahnhof vermissen. Er würde vielleicht sogar den regelmäßigen Telefondienst und die damit verbundenen Erklärungen zu den Öffnungszeiten des Bahnhofs vermissen. Und vielleicht sogar den Geschäftsmann mit seinen Aktien. Aber er hatte sich dazu entschlossen, sein Leben zu ändern. In einer anderen Welt.

Sin schaute verträumt auf die Anzeigentafel. Er hatte das Mädchen aus den Augen verloren. Aber er wusste, dass er sie heute abend wiedersehen würde. 20 Uhr 43 auf Gleis 2. Wie unglücklich sie in den lezten Wochen ausgesehen hatte, als sie den Zug aus Hamburg verließ. Müde und abgekämpft. Seit drei Wochen aber war sie wie ausgewechselt. Jeden Mittwoch Abend stand er dort. Dieser Junge, der schon 30 Minuten vor der Einfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig auf sie wartete. Manchmal hatte er eine Sonnenblume dabei. Und stets ein Lächeln im Gesicht, voller Vorfreude darauf, sie in seine Arme zu nehmen.

Sin warf einen letzten Blick auf die Menschenmenge und ging zu seinem Büro, um seine Koffer zu packen.

Mittwoch Abend

Sin hatte Angst. Nicht nur vom Kofferpacken standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Heute abend würde er das erste Mal seit fünf Jahren diesen Bahnhof verlassen. Bisher hatte er immer alles hier kaufen können. Im 1. Untergeschoss gab es einen Supermarkt, im Erdgeschoss hinter dem Eiscafé einen Herrenausstatter. Alles was das Herz begehrte. Hinderlich war natürlich, dass die Geschäfte nur mittwochs öffneten. Aber Sin hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt.

Ein letztes Mal machte er das Licht aus, schloss die Tür ab und hängte einen Zettel mit dem Aufdruck "Büro für immer geschlossen" an die Tür.

Er stand auf dem Bahnhsteig mit den Gleisen 1 und 2, der in seinen Augen die Abstellkammer des Bahnhofs war. Es waren die einzigen Gleise im Bahnhof, die nicht einen großzügigen Luftraum über sich hatten. Als wolle der Bahnhof Sin noch einmal die kalte Schulter zeigen, um ihm den Abschied leichter machen. Er blickte auf seine Armbanduhr, die im matten Silber wunderbar zu seiner neuen dunkelroten Uniform passte. Sin lächelte, als er sich im verschwommenden Spiegelbild einer Werbetafel sah. Wie adrett er mit seiner neuen Uniform doch aussah!

"Entschuldigung! Darf ich mal bitte durch?"

Sin drehte sich um und erkannte den Jungen, der jeden Mittwoch Abend das hübsche, schwarz gekleidete Mädchen abholte. Heute jedoch hatte er ein Sammelsurium von Koffern und Taschen in allen möglichen Größen bei sich. Der Junge blieb vor dem Wagenstandsanzeiger stehen und studierte den bunten Plan.

"Du weißt doch, wo sie sitzt. Wie immer im hinteren Speisewagen", flüsterte Sin in sich hinein, während er ungeduldig auf seine Uhr schaute und mit der Bahnhofsuhr verglich.

Plötzlich füllte sich sie Anzeigentafel direkt über ihm mit Leben, das Signal an seiner Seite sprang auf Grün und der vor ihm liegende dunkle Tunnel wurde durch die drei hellen Augen des Zuges erleuchtet. Eine sanfte Luftwelle, die der Zug vor sich herschob, erreichte ihn und ließ ihn erschaudern. Der Zug verlangsamte und blieb mit dem hinteren Speisewagen direkt vor ihm und dem Jungen stehen.

Mittwoch Nacht

Kaaaaanipps. Sin lochte die Fahrkarte eines Reisenden und schaute nach draußen. Es war stockdunkel, und er konnte nur mühsam einige Häuser in der Ferne sehen, deren erleuchtete Fenster wie auf die Erde gefallene Sterne funkelten. Kaaaaanipps. Sin drängelte sich zwischen zwei auf dem Boden sitzenden Reisenden durch bis zum nächsten Wagen.

"Guten Abend, die Fahrscheine bitte". Sin drehte sich zur Seite und blickte direkt in das Lächeln des jungen Mädchens. Sie saß neben dem Jungen und hielt ihm erwartungsvoll und mit einem Strahlen im Gesicht die Fahrkarte hin.

"Herzlich willkommen im neuen Mittwochszug". Sin musste nun auch lächeln.

"Dieser Zug hält als nächstes in einer Woche. Nächsten Mittwoch erreichen wir Kairo. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt."

Diese Worte kamen ihm noch schwer über die Lippen, so ungewohnt klangen sie in seinen Ohren. Während er sprach, hörte ihm der Junge schon gar nicht mehr zu, sonderen zerrte eine kleine Trommel aus einer seiner unzähligen Taschen hervor und fing leise an zu spielen.

Kaaaaanipps. Sin schaute auf die Fahrkarte mit dem Aufdruck "Berlin-Sydney einfache Fahrt" und gab sie den beiden zurück.

Das Mädchen vertiefte sich wieder in eines ihrer unzähligen Bücher, die sie vor sich auf dem Tisch gestapelt hatte.

Als Sin in den nächsten Wagen ging, fiel sein Blick auf das Buch mit den meisten Eintragungen. Es trug den Titel: "How to manage a restaurant".


 
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Wie ich mein Leben anhielt, weil beim BND kein Platz mehr war


Ich werde überwacht. Nicht erst seit gestern, sondern mein ganzes Leben lang. Woher ich das weiß? Schaut euch doch mal um! Fällt euch nicht irgendetwas auf? Die Leute und die Autos und so. Die stehen einfach still. Nichts bewegt sich mehr. Selbst die Luft erscheint viel zu ruhig. So ruhig, dass selbst der Feinstaub keine Lust mehr hat, herumzuwirbeln.

Aber der Reihe nach. Am letzten Sonntag entschied ich mich, meine Freundin Franziska anzurufen und mit ihr über Gott und die Welt zu reden. Meistens sind wir so überarbeitet und eigentlich nicht mehr in der Lage, irgendwelche vernünftigen, tiefschürfenden Gespräche zu führen. Nicht nur, dass wir eigentlich nur Unsinn reden, nein, die Gespräche dauern meistens auch noch mehrere Stunden. Ich wählte also ihre Nummer auf meinem Handy, als ich auf einmal diese Stimme hörte:

"Verdammte Scheiße, er ruft sie an - hol das 120-Minuten-Band und prüf..."

Hier wurde die Männerstimme unterbrochen und es erklang das Freizeichen.

"Ja, hallo, hier ist Franziska."

  • "Ja, ich bins, hast Du eben diese Stimme gehört?"

"Nein, wieso, welche Stimme?"

  • "Ach, schon gut, nicht so wichtig."

In den kommenden Wochen kam es immer wieder zu merkwürdigen Vorkommnissen. Urplötzlich hörte ich auf einmal ganz deutlich ein Schnarchen. Franziska war es nicht, denn schließlich hatten wir uns gerade angeregt über neue Abdichtungsmaßnahmen bei Dächern unterhalten. Und außerdem war es ganz deutlich das Schnarchen eines Mannes, das aus meinem Telefon zu hören war. Ein anderes Mal hörte ich, nachdem ich den Fernseher angemacht und in einem Bericht der Tagesschau mehrmals lautstark das Wort "Al Kaida" fiel, hektisches Gemurmel, das es mir fast unmöglich machte, Franziska zu verstehen.

"Franziska," sagte ich, "wer ist das da bei mir ständig im Telefon?"

  • "Ich weiß es nicht - vielleicht sind es Techniker, die irgendetwas reparieren?"

Kaum hatte sie den Satz zuende gesprochen, ertönte auch schon ein weit entferntes Lachen, das aber sofort wieder verstummte.

Samstags ist bei mir Putz- und Einkaufstag. Erst wird geputzt und dann wird im Supermarkt eingekauft. So auch am letzten Samstag. Ich hatte meinen Einfkaufswagen schon fast gefüllt, als mich beim Regal mit den Erbseneintopf-Konserven plötzlich ein Mann ansprach. Sprechen war allerdings nicht das richtige Wort - er flüsterte vielmehr.

"Wir müssen uns unterhalten" flüsterte er mir ins Ohr. "Es ist wichtig. Wir haben ein Problem. Ein großes sogar."

Ich verstand kein Wort.

"Wir haben keinen Platz mehr."

  • "Platz wofür?" fragte ich ihn. "Na, für die Bänder!" Er schaute mich vorwurfsvoll an.

Ich verstand noch weniger. Welche Bänder? Wovon sprach dieser Mann? Warum steht ein Mann am Regal mit Erbseneintopfkonserven neben mir und flüstert mir orakelhaft merkwürdige Sachen ins Ohr?

"Wovon sprechen Sie? Welche Bänder?" fragte ich ihn.

Wortlos zeigte er mir einen Ausweis, auf dem nur drei Buchstaben standen: BND. Ganz klein darunter - so klein, dass man es kaum lesen konnte, war der Zusatz "Bundesnachrichtendienst - Personenüberwachung" zu erkennen.

"Und wir haben noch ein Problem" hörte ich ihn sagen. "Die Bänder sind auch alle. Wir zeichnen Ihr ganzes Leben auf Video auf. Und seit 1977 hören wir Ihre Telefongespräche ab. In dem Jahr hatten Sie das erste Mal telefoniert. Mit Ihrer Mutter. Als Dreijähriger. Es war aber ein ganz kurzes Gespräch. Eigentlich war auch nichts zu verstehen. Ihre ganzen Gespräche als kleines Kind passten auf ein 120-Minuten-Band. Aber so langsam bekommen wir ein Problem. Der Raum, in dem Ihre Bänder gelagert werden, ist voll. Bis unter die Decke. Wir haben damit - ehrlich gesagt - nicht gerechnet. Und jetzt ist nur noch Platz für ein 60-Minuten-Band - im letzten Regal, ganz hinten am Fenster."

Als er diesen Satz beendete, setzten sich die Puzzleteile der Merkwürdigkeiten in meinem Kopf zusammen.

"Und was heißt das jetzt? Was bedeutet es, wenn nur noch Platz für ein 60-Minuten-Band ist?" fragte ich ihn.

Er schaute mich an und antwortete mit einem ernsten Gesicht:

"Ganz einfach. Sie müssen Ihr Leben anhalten. Sie haben jetzt noch genau 58 Minuten-Zeit auf dem letzten Band. Dann würden wir Sie bitten, Ihr Leben anzuhalten. Sie müssen uns da verstehen. Ihnen ist nur ein Raum zugeordnet. Wenn wir Ihnen mehr Platz geben, dann müsste jemand anderes sofort sein Leben anhalten. Vielleicht eine wichtige Persönlichkeit!"

Ich schluckte. Mein Leben anhalten? Einfach so? Für immer? Der Mann schien meine Gedanken zu erraten.

"Nicht für immer" sagte er. "Nur bis 2010. Dann ist der Neubau des BND an der Chausseestraße in Mitte fertig und wir haben wieder genug Platz. Ich habe die neuen Bänder schon bestellt."

Er lächelte zufrieden über seine vorausschauende Planung und gab mir die Hand.

"Auf Wiedersehen. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Und beeilen Sie sich. Sie haben nur noch 55 Minuten Zeit. Suchen Sie sich eine Kasse, an der die Schlange nicht so lang ist. Nicht, dass Sie Ihr Leben hier im Supermarkt anhalten müssen!"

Er lachte und verschwand hinter dem Regal mit dem Geschirrspülmittel.

Und so kam es, dass ich mein Leben anhielt, weil beim BND kein Platz mehr war. Alles um mich herum steht still und ist ganz ruhig. Es hat aber auch sein Gutes. Keine Klingeltonwerbung im Supersparabo, die im Fernsehen läuft. Kein Autolärm mehr auf der Straße. Keine lästigen Anrufe. Aber auch kein Vogelgezwitscher, keine Anrufe von Freunden. Keine Musik von Mozart. Und das in diesem Jahr! Alles verschwunden.

Einmal im Jahr bekomme ich immerhin einen Anruf. Das einzige, was in meinem Leben nicht stehengeblieben ist. Der BND gratuliert mir zum Geburtstag und erzählt mir vom Planungsstand des Neubaus. Mit dem Bau soll in zwei Jahren begonnen werden. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Finanzierung verzögert sich allerdings die Fertigstellung auf 2012. Wenn es überhaupt dazu kommt. Die Große Koalition will den Umzug des BND nach Berlin - und damit natürlich auch den Neubau - stoppen.

Ich bin frustriert. Am besten erstmal einen Tee zur Beruhigung machen. Ach nein, Mist! Geht ja nicht - es kommt ja kein Wasser aus dem Hahn..


 
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Mittwoch, 3. Januar 2007

Dein Paradies


Lieber Gott oder wie auch immer Du Dich nennen magst,

ich weiß nicht ob Du oder jemand anderer die Verantwortung trägt, dass ich existiere. Falls es doch Du bist, möchte ich Dir hiermit folgendes mitteilen:

Hast Du Dir mal überlegt, welch grottenschlechter Witz es war mich mitten hinein zu werfen, in diese von Abstrusitäten und abstrakten Vorkommnissen geplagte Welt? Welchen Sinn hat das Ganze eigentlich? Ich sitze hier gelangweilt fest und muss bemerken, dass ich das alles nicht so recht kapiere. Um mich herum sind (ebenfalls von Langeweile geplagte) Menschen, die ich nicht verstehe und die mich nicht verstehen. Ich denke, dass alle um mich herum total verrückt sind und ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der wenigstens noch versucht hinter dem Ganzen einen Sinn zu sehen. Zum besseren Verständnis meiner Situation möchte ich Dir folgende kleine Begebenheit erzählen:

Auf Anraten meines Psychologen besuchte ich die „Selbsthilfegruppe für Selbsthilfe e.V.“. Schon als ich die Türe aufmachte und diese heilig anmutenden Hallen betrat, beschlich mich ein seltsames Gefühl. Eine alte verbittert dreinblickende Empfangsdame stierte mich mutlos an und bellte mir ein „Kann ich Ihnen helfen?“ entgegen. ‚Lieber nicht‘, dachte ich bei mir, ;wer weiß was dabei rauskommt‘. Ich setzte mein strahlendstes „Ich-bin-der-nette-junge-Mann-von-nebenan-Lächeln“ auf und erklärte ihr, dass ich auf Grund diverser psychischen Ungereimtheiten gerne mit einem gewissen Dr. Siegfried Undroy sprechen möchte, bei dem ich in fünf Minuten einen Termin hätte. Die Lippen der alten Dame verbogen sich zu einem dümmlichen Grinsen, ihre unglaublich monströse Brust fing an zu beben und ihre faltigen Hände klopften in einem immer schneller werden Rhythmus auf ihre Schenkel, die hinter dem uralten Schreibtisch versteckt waren (was wahrscheinlich auch gut so war). Ihrem Maul entwich ein gar schrecklicher Laut, der langsam aber stetig in ein heulendes Stakkato überging. Nach unglaublichen langen 3 Minuten, während denen ich nur fasziniert dieses merkwürdige Schauspiel betrachten konnte, kam ich dahinter, dass es sich hierbei um ein Lachen handeln sollte. Abrupt wie es begonnen hatte hörte es auch wieder auf. Die gute Frau richtete sich zu ihrer vollen angsteinflößenden Größe auf, nahm mich an der Hand und führte mich durch eine Türe in einen Nebenraum. Dort befanden sich in asymetrisch angeordneter Weise drei weitere Türen. Frau Furchtbar ließ meine Hand los. „Gehen Sie durch die linke Tür und anschließend den Gang entlang bis zum Ende. Bleiben Sie immer in der Mitte des Ganges, berühren Sie nichts und sputen Sie sich!“. Diese Anweisungen kamen mir irgendwie bekannt vor, wahrscheinlich aus einem alten Film oder etwas ähnlichem. „Gehen Sie, junger Mann, gehen Sie schnell!“. Behende wie man es ihr nicht zugetraut hätte, drehte sie sich um und machte lautstark die schwere Türe hinter sich zu. Da stand ich nun. Ich spielte mit dem Gedanken ebenfalls umzudrehen und dieses Gebäude zu verlassen, war aber immer noch zu fasziniert und neugierig. Also ging ich langsam in Richtung der besagten Türe und drückte die kunstvoll geschmiedete Klinke nach unten. Ein langer hell erleuchteter Gang erschien vor mir. Alles war in einer schmutzig-pissgelben Farbe gehalten. Nur an den Wänden waren kleine braune Pfeile angebracht die den Gang entlang zeigten und mir wohl den Weg weisen sollten. Unterbrochen wurden die Pfeile von gelegentlichen Türen. Kein Bild an der Wand, keine Pflanze auf dem gelben Teppich. Nicht einmal Türschilder waren angebracht, wie man es von gewöhnlichen Gängen, in denen sich die Büros aneinanderreihen gewöhnt ist.

Vor einer der Türen blieb ich stehen und lauschte. Nichts, keinerlei Geräusche drangen daraus hervor. Spaßeshalber versuchte ich die Türe zu öffnen und war erstaunt als sie sich tatsächlich bewegte. In dem kleinen Zimmer, das ebenfalls in pissgelb gehalten war, stand nichts. Er war leer und meine Schritten hallten von den Wänden wider als ich eintrat. Als ich mitten im Raum stand und mich umdrehte sah ich das er doch nicht gänzlich leer war. An der Wand bei der Türe hing ein halbblinder Spiegel auf den irgendein Schwachsinniger mit roter Sprühfarbe das vollkommen sinnlose Wort „Hidelklatz“ gekritzelt hatte. Ich versuchte das Wort auseinanderzunehmen und die Buchstaben neu zu ordnen – aber es ergab wirklich kein Wort, welches man in der Deutschen Sprache benutzt. Das alles erschien mir echt extrem abgespaced. Ich fragte mich, wie um Himmels Willen man mir hier, in diesem abgedrehten Schuppen helfen konnte meine Unzulänglichkeiten im Umgang mit meinen Mitmenschen in den Griff zu bekommen. Aber meine Neugier auf das, was noch kommen sollte war unverändert stark.

Ich verließ den Raum mit dem Spiegel und trat wieder auf den langen Gang hinaus. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Luft im Gang schien sehr dick und drückte mich wie ein unsichtbares Gewicht förmlich zu Boden. Mühsam ging ich weiter, immer weiter den Gang entlang. Bis ich tatsächlich vor der ominösen Türe des von mir gesuchten Doktors stand. Sie war breiter als die anderen und rechts daneben hing ein großes metallenes Schild.

DR. DR. SIEGFRIED UNDROY FACHARZT FÜR PSYCHIATRIE UND KINDERANÄSTHESIE UNIVERSITÄT HIDELKLATZ

Hidelklatz war also eine Ortschaft. Irgendwie hörte sich das für mich an wie ein kleines, verlassenes, gottverdammtes Transylvanisches Kuhdorf, tief verborgen unter den Schatten eines nuklear-verseuchten Gebirges. Vor meinem geistigen Auge sah ich merkwürdige bucklige Gestalten sabbernd und geifernd durch verworrene Bibliotheksgänge schlurfen und sich in einer fremden Sprache flüsternd unterhaltend.

Nach einem Moment des Zögerns, klopfte ich an diese Türe. Sofort hörte ich ein „Kommen Sie herein !“, und betrat den mit Abstand seltsamsten Ort, den ich je gesehen hatte. Die Wände und Decke waren tiefschwarz gestrichen. Durch unzählige kleine Löcher in der Decke waren, wie Sternbildern gleich, kleine aber hell strahlende Leuchten gesteckt. Sogar eine Abbildung des Mondes konnte ich in einer Ecke erkennen. Überall waren verschieden große Skulpturen aufgestellt, die miteinander kopulierten. Der Boden war übersät mit speckigen Flecken. In den sechs Ecken waren schwarze, verkohlte Pflanzen in überdimensionierten Kübeln aufgestellt. Rechts an der Wand befand sich über die ganze Länge hinweg ein chromfarbenes Regal mit nur einem einzigen Buch darauf. Dieses Buch wurde rechts und links mit kleinen Figuren gestützt, die mich an Long Dong Silver erinnerten. Steil ragten Ihre riesigen Schwänze in die Höhe. Daran befestigt waren mir unbekannte Flaggen, wahrscheinlich die Nationalflagge von Hidelklatz oder Absurdistan oder was auch immer. An der linken Wand auf dem Boden stand eine hölzerne Truhe mit einem schweren eisernen Schloss daran. Genau in der Mitte des Raumes thronte ein riesiger Ledersessel, in dem der kleine Mann, der darauf saß, fast unterging. Ganz in schwarz gehüllt mit einem langen Kapuzenumhang und nur mit einer roten schlecht gebundenen Scherpe verziert, saß er da und lächelte mich freundlich an. Seine Augen, die klar und deutlich unter der Kapuze hervorlugten, wirkten sehr unruhig und schienen in sich selbst zu rotieren.

„Guten Tag, mein Freund“, sagte er mit einer lieblichen Stimme zu mir, „ich habe Sie schon erwartet. Bitte treten Sie näher“. Ich latschte auf ihn zu. Mit einem hohen Sprung hüpfte er aus seinem Sessel und stand direkt vor mir. Oder sollte ich besser sagen unter mir? Er war wirklich ausgesprochen klein. Gerade mal bis zum Bauch ragte mir der Zwerg. Er reichte mir seine Hand, die ich nur widerwillig entgegennahm, und stellte sich vor: „Gestatten, mein Name ist Dr. Undroy“. „Sehr erfreut“, erwiderte ich. In diesem Augenblick, war ich mir sicher, dass ich beobachtet werde. Irgendwo in diesem verdammten Raum musste sich eine versteckte Kamera befinden. Mein ungläubiges, verwirrtes Gesicht starrte ihn an. „Kommen Sie, setzen Sie sich“, forderte er mich auf und deutete auf den Sessel. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, in diesem monströsen Teil Platz zu nehmen und ich glotzte ihn weiterhin einfach nur blöde an. „Sie sollten sich entspannen. Wie wäre es mit ein wenig Musik?“. Ohne meine Antwort abzuwarten bewegte er sich hüpfend und tänzelnd in Richtung der Truhe. Aus seinem Umhang holte er einen großen Schlüssel heraus und machte sich umständlich daran die Kiste zu öffnen. Er brachte ein uraltes Grammophon mit einem total verbogenem Trichter zum Vorschein und plazierte es direkt daneben. Halb in die Kiste hineinfallend, wühlte er weiter darin herum. Just als ich dachte, der alte Mann könnte jeden Augenblick zappelnden Fußes in der Kiste gefangen sein, schien er gefunden zu haben wonach er suchte und hüpfte zurück auf den verschmutzten Fußboden. Triumphierend hob er eine verstaubte Schallplatte vor sich. Sachte, fast liebevoll legte er den antiken Tonträger auf den Plattenteller. In den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung innerhalb der geheimnisvollen Kiste und drehte meinen Kopf. Was ich nun sah, war wirklich extrem seltsam, selbst für diese Geschichte. Ein Männlein, noch kleiner als der Herr Doktor selbst, kletterte hinaus und stellte sich grinsend neben den sogenannten Facharzt. Es war splitternackt, dennoch waren keinerlei, wie auch immer gearteten Geschlechtsmerkmale an ihm zu erkennen. „Darf ich ihnen meinen Gehilfen Quappolino vorstellen?“, richtete er seine Stimme an mich. Ich antwortete ihm: „Da sie es hiermit ja bereits getan haben, kann ich wohl nicht mehr nein sagen, obwohl mir die Bekanntschaft mit diesem merkwürdigen Geschöpf nicht unbedingt lieb ist.“ „Sie dürfen einen Menschen nicht nach seinem Äußeren beurteilen“, rügte er mich, weiterhin lächelnd. Er nannte diese monströse kleine Abart tatsächlich einen Menschen. Allmählich fand ich dieses ganze Szenario wirklich lustig. Aber es sollte noch viel viel besser kommen. Der kleine Dr. Undroy und sein noch kleinerer Gehilfe Quappolino schauten sich einen Moment lang an und machten sich dann daran das Grammophon mittels zwei kleinen Kurbeln in Bewegung zu bringen. Was aus dem großen Trichter kam, war eigentlich kaum als Musik zu bezeichnen. Es hörte sich eher an wie gutturale Laute, die von einem sterbenden Wesen ausgestoßen werden, das hektisch nach Luft ringt. Untermalt wurde das ganze von einem stampfenden Rhythmus, der von kleinen hellen Glöckchen begleitet wurde. Schneller und schneller wurden die Kurbeln von den beiden Freaks malträtiert. Am Höhepunkt der Drehorgie ließen beide, wie auf Kommando, los. Das antike Mono-Audio-Abspielgerät behielt seine Geschwindigkeit bei und spielte weiter diesen wirklich einzigartigen, schrecklichen Sound. Die beiden Subjekte stellten sich mit dem Rücken zueinander und formatierten sich zu einem Tanz, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Wie John Travolta in seinen besten Zeiten schwangen sie die Hüften. Sie warfen ihre Gliedmaßen und sich selbst durch die Luft, als ob sie den 1. Preis in einem Tanzwettbewerb für Aliens gewinnen wollten. Dies alles geschah in einer Synchronität, die man den beiden nicht zugetraut hätte. Ich musste lachen. Als dieser abstrakte Tanz zu einem Schauspiel wurde, in dem sogar sexuelle Handlungen vorkamen (Einzelheiten möchte ich hier lieber aussparen) und dann schließlich in einem furiosen Schlussakt endete, hörte auch die Musik auf zu spielen. Sie verbeugten sich in dramatischer Art und Weise vor mir. Da war es um mich geschehen. Brüllend vor Lachen fiel ich zu Boden. Ich hob mir den Bauch und hatte das Gefühl ich könnte nie wieder aufhören zu lachen. Ich weiß nicht, wie lange ich mich so auf dem Boden wälzte. Als ich mich wieder einigermaßen im Griff (und mir die Hose bepisst) hatte, erhob ich mich von dem verdreckten Boden und holte tief Luft. Die beiden Figuren standen vor mir und blickten mich böse an. „Sie scheinen kein Verständnis für Kunst zu haben!“, geifte mich das kleinere der beiden Männchen mit einem fast unverständlichen Akzent an. „Es tut mir leid, falls ich Ihre überaus gelungene künstlerische Darbietung nicht genügend zu schätzen weiß. Auf jeden Fall könnt Ihr beiden mich echt mal am Arsch lecken. Was ich heute gesehen habe, reicht mir erst einmal. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich Sie jetzt verlassen, nach Hause gehen, mir eine frische Hose anziehen und mich betrinken.“ „Sie werden nirgendwo hin gehen, werter Herr! Sie werden sich jetzt schön brav in diesen Sessel setzen und uns von Ihren Problemen erzählen!“, meldete sich Dr. Undroy, unerwartet böse zu Wort. Ich fühlte mich ernsthaft bedroht. Nie im Leben würde ich mich in den gigantischen Sessel setzen. Ich hatte die Befürchtung, dass er mich verschlucken würde, bevor ich richtig saß. Und erst recht nicht wollte ich den beiden Mutanten von meinen Problemen erzählen. Ich ging auf sie zu, trat Dr. Undroy in den Unterleib und packte den anderen mit der linken Hand an der Gurgel. Noch bevor sich der liebe Herr Doktor erholt hatte, hatte ich seinen Kollegen bereits zurück in seine dunkle Kiste befördert. Ich ging schnell zurück und hob den immer noch am Boden liegenden Meister auf. Auch ihn steckte ich in die Truhe. Ich schloss den Deckel und wollte bereits abschließen, als ich es mir anders überlegte. Schnell griff ich nach dem Grammophon und warf es mit aller Wucht seinen Peinigern hinterher. Niemand sollte je wieder diese schreckliche Musik hören. Ich trat noch einmal genussvoll blind in die Truhe, haute den Deckel zu und schloss ab. Quiekende Geräusche drangen aus dem Inneren des Kastens. Ich gab ich der Truhe noch einen Tritt und das Quieken hörte auf. Ich lächelte. Ohne mich weiter in diesem seltsamen Raum mit seiner antimodernen Einrichtung umzusehen, ging ich schnell zur Türe. Sie ging nicht auf! Wutentbrannt versuchte ich es noch einmal, diesmal fester. Ohne Ergebnis. Die Türe blieb zu. Ich rannte zur Kiste zurück, gab ihr erneut einen heftigen Tritt und brüllte: „Wie macht man diese fucking Türe auf?“. Aus dem Kasten drang nur ein hämisches zweistimmiges Lachen. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich diese missgebildeten Kreaturen herausholen und mit physischer Gewalt dazu zwingen sollte die Pforte zu meiner Freiheit zu öffnen. Aber ich dachte mir, dass wenn ich beiden auch nur noch einmal anschauen würde unweigerlich kotzen müsste. Außerdem würde ich sie in meiner Wut sowieso nur totschlagen. Ich nahm diese riesige Kiste und warf sie mit der Kraft eines mutierten Hulk im hohen Bogen gegen die Wand mit dem Regal und schrie noch einmal: „Sag mir sofort wie man diese Türe öffnet!“. Höflich, wie ich nun mal bin, fügte ich noch ein lautes „Bitte“ dazu. Aber aus der Kiste war kein Ton zu hören. Just als ich noch einmal mit aller Gewalt gegen die Türe treten wollte entdeckte ich, dass eine dieser buchstützenden Long-Dong-Silver-Figuren vom Regal gefallen war. Mein Blick blieb unweigerlich an seinem mächtigen, vorbildlichen Riesengerät hängen. Ich bückte mich, nahm Long-Dong in die Hand und schaute ihn mir genauer an. Die Figur war liebevoll aus feinstem Holz geschnitzt. Auf seinem Prachtexemplar von Frauenbeglücker stand (zum Glück in Deutsch) folgender Satz geschrieben: „Benutze deinen Schwanz und du wirst frei sein“. Auf der riesigen Eichel befand sich ein kleiner Knopf. Nach kurzem Zögern drückte ich darauf und aus der Unterseite des Piephahns sprang ein kammartiges Gebilde. Ein Schlüssel! War das der Schlüssel für die Türe dieses Raumes? Hoffnung keimte in mir auf. Doch bevor ich mich an den Weg zur Türe machte, holte ich Long-Dongs Zwillingsbruder vom Regal und schaute auch ihn genauer an. Auch bei ihm waren Schriftzeichen in sein edles Teil graviert. Leider in gänzlich unverständlichen Hyroglyphen. Ich vermute, dies war die Amtssprache von Hidelklatz oder einer sonstigen verbotenen Sprache, die wohl nur von Freaks in elitären Geheimbünden gelesen werden konnte. Sonst war (außer dem besagten Riesenschwanz) nicht auffälliges an der Figur zu sehen. Ich nahm sie dennoch mit und ging zur Türe. Mit dem „Schlüssel machte ich mich daran die Türe zu öffnen. Es sah wahrscheinlich äußerst befremdlich aus als ich die Figur schwanzvoran in das Schlüsselloch steckte und ich musste laut lachen. Der Schlüssel passte! Ein leises „Klick“ war zu hören und - Wunder oh Wunder - die vermaledeite Türe ging auf. Gott sei Dank! Ich zog den Schlüssel ab, trat hinaus und spurtete den Gang entlang, der sich wiederum verändert hatte. Die Pfeile an der Wand zeigten nun in die entgegengesetzte Richtung, was ich zwar bemerkte und mir auch recht abstrus vorkam, mich aber nicht wirklich kümmerte. Ich hatte definitiv keine Böcke mir die Sache genauer anzuschauen. Für heute hatte ich absolut genug seltsame Dinge gesehen. Kurz bevor ich letzte Tür am Ende des Ganges erreichte, fiel mir rechts daneben ein Bild an der Wand auf, dass vorher noch nicht dort gehangen hatte. Oder hatte ich es einfach übersehen? Na ja, war ja auch egal. Ich wollte nur noch aus dem Irrenhaus hier heraus. Als ich mich der Türe näherte, bemerkte ich, dass sie überhaupt keine Klinke hatte an der man sie öffnen könnte. Ich drückte dagegen aber es tat sich, mal wieder, nichts. Was war das hier eigentlich für ein Gebäude? Ich kam hierher mit der Absicht, mich von meinem krankhaften Verhalten meine Mitmenschen zu beleidigen zu kurieren, und dann komme ich mitten hinein in einen Strudel voll Absurditäten gegen den mein Wahnsinn sich wie ein Kindermärchen ausnimmt! Ich stand also vor der verschlossenen Türe. Der Trick mit dem Dildo-Schlüssel funktionierte hier nicht, da kein Schloss oder ähnliches zu finden war. Was tun? Während ich in meinem Groll vor mich hin sinnierte, wanderte mein Blick auf das Bild Das fein gezeichnete Bild zeigte ein Gemälde einer alten fetten Frau, zumindest einen Teil davon. Das Gesicht erinnerte mich stark an die alte Fettel, die mich im Empfangsraum so hysterisch ausgelacht hatte. Aber von der Hüfte aus abwärts war eigentlich nichts menschliches mehr an dieser Frau zu sehen. Schuppenartige, von eitrigen Pusteln übersäte Beine verunzierten den sowieso nicht gerade schönen Anblick dieser Frau. An Ihrem Kopf befanden sich statt Augen zwei Löcher, die durch die Wand hinter dem Bild zu gehen schienen. In der linken Hand hob das Wesen einen Dreizack, an dem am oberen Ende ein Wimpel befestigt war. Auf diesem Wimpel stand in zwei Sprachen: „Der Wächter besitzt zwei blinde Augen“. Was war das denn nun wieder für ein verkackter Spruch? Einem Instinkt folgend nahm ich die beiden, mir inzwischen lieb gewonnenen, Figuren aus meinen Hosentaschen. Mit roher Gewalt stieß ich die langen, dicken Dinger in die Augenhöhlen des Monsters. Die Türe öffnete sich indem sie nach oben in der Decke verschwand. Ein markerschüttender, knochenzerbrechender Schrei drang aus dem Empfangszimmer von Frau Furchtbar und ihrem penetranten Lachen. Ehrlich gesagt hatte ich Angst, durch die Öffnung zu gehen. Ich hatte echt Schiss und wollte eigentlich gar nicht wissen, was wohl als nächstes kommt. Aber die Angst für immer in diesen Räumen gefangen zu sein überwog und ich betrat, ganz vorsichtig, das Vorzimmer, indem die alte fette Sau wieder hinter ihrem Schreibtisch saß. Oder sollte ich besser sagen auf dem Schreibtisch lag? Ihr massiger Oberkörper lag auf der Tischfläche. Der monströse Kopf lag auf Ihren Armen und sie schien sich nicht zu bewegen. Ich griff mir einem Regenschirm, der in einem Ständer in der Ecke steckte und piekste sie damit in die Wange. Mühsam gaffte sie mich an und was ich nun sah gab mir den Rest. Wo vorher ihre kleinen Äuglein steckten waren nunmehr nur noch zwei Löcher aus denen Blut zu fließen schien. Dick, rot und schmierig lief das Blut aus Ihrem Kopf. Sie begann zu summen und ich vermeinte die Melodie von 'Oh Happy Day‘ zu vernehmen. Sie erhob sich, ging um den schweren Schreibtisch herum und kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Das war’s dann! Ich stieß ihr den Regenschirm mitten hinein in ihren weit aufgerissenen Mund aus dem immer noch ein fröhlicher Singsang vermischt mit Blut herauskam. Ich prügelte sie förmlich zu Boden, hieb immer wieder auf sie ein. Und die Alte Kuh hörte einfach nicht auf zu summen. Ich zog den Regenschirm aus ihrem Schlund und verpasste ihr damit solange Hiebe, bis sie tatsächlich aufhörte, die inzwischen mehr gurgelnden als summenden Laute auszustoßen. Da lag sie nun, mitten in ihrem schönen, geschmackvoll eingerichteten Empfangsraum und blutete bewegungslos vor sich hin. Ein letztes mal erhob ich den Regenschirm und steckte ihn ihr mitten in ihren fetten Bauch. Der Griff ragte steil in die Höhe und ich überlegte mir kurz, wie es wohl aussehen würde, wenn man jetzt noch die Nationalflagge von Hidelklatz am obersten Ende daran befestigen würde. Die Erstbesteigung des Mount Everest! Ich verwarf diesen attraktiven Gedanken jedoch sofort wieder und riss stattdessen die Ausgangstüre auf, rannte auf die Straße und atmete erst einmal tief durch. Nach der stickigen verseuchten Luft in dem Irrenhaus hinter mir, kam mir die smoggeschwängerte und feuchte Luft der Großstadt wie reiner duftender Sauerstoff vor. Ich ging die Straße hinunter und direkt in die nächste Kneipe, die ich fand. Dort betrank ich mich bis zur Besinnungslosigkeit und wachte am nächsten Morgen in einem Straßengraben in der Nähe meiner Wohnung wieder auf.

So lieber Gott, nachdem ich Dir diese äußerst merkwürdige Story erzählt habe, kannst Du mir nun verraten, welchen Sinn das alles gibt? Ich glaube Du bist ein Voyeur, der gerne Spielchen mit anderen (mit uns) spielt und sich an all den Verrücktheiten in der von ihm erschaffenen Welt labt. Der sich ergötzt an den Schicksalen der winzigen Ameisen, die man Menschen nennt und der sich mit sadistischem Vergnügen auf an neue, perverse Aufgaben macht um seine Spielzeuge zu geißeln. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es irgendwelche total verrückte und kaputte Menschen gibt, die diese Erde als „Das Paradies“ bezeichnen. Es ist wohl ein Paradies. Aber nicht für uns sondern nur für Dich. Tut mir leid, Mann – aber damit kann ich nichts anfangen! In diesem Sinne, angenehmes Spielen noch.

Servus,

Giacomo Balkoni

© 2002


 
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Samstag, 5. August 2006

Balkongeschichte


Die anderen verabschiedeten sich und gingen zum Pool. Ich griff Saskias Handgelenk und zog sie zurück. Ich hörte gerade noch, wie die Tür ins Schloss fiel. „Lass uns auf den Balkon gehen“, sagte ich. Saskia nickte nur mit dem Kopf und sagte kein Wort. Überhaupt, sie sagte fast nie etwas. Wir setzten uns auf die Couch und fingen an uns zu küssen. Sie küsste verdammt gut. Verdammt nochmal! Ich fing an ihren Nacken zu streicheln. Als ich merkte, dass es ihr gefiel, glitt meine Hand zu ihren Brüsten hinab. „Heute könnte was gehen“, dachte ich mir. Die Küsse wurden schnell heftiger. Der Atem kürzer. Ich legte meine Hand auf ihr Knie. Sie spreizte ihre Schenkel ein wenig. „Heute ist sie fällig“, sagte ich zu mir. Meine Hand glitt unter ihren Rock und zog ihr Höschen nach unten. Sie spreizte ihre Schenkel noch weiter. Sie sagte noch immer kein Wort. Sie sagte fast nie etwas. „Was soll's“, dachte ich. Ich vergrub meinen Kopf zwischen ihre Schenkel. Ihr Atem wurde noch kürzer. Nach einiger Zeit hob ich meinen Kopf und schaute in ihre Augen. Verdammt nochmal, hatte die Kleine Augen! „Und jetzt“, fragte ich sie. Sie zuckte mit ihren Schultern und lächelte schüchtern. „Lass uns zum Pool gehen“, sagte ich zu ihr. Saskia nickte nur mit dem Kopf und sagte kein Wort. Überhaupt, sie sagte fast nie etwas.


 
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Dienstag, 7. März 2006

REFLEXION


Kurz vor der ersten Straßenbahn, noch vor Sonnenaufgang, im lieblos weißen Schein einer Straßenlaterne, an einer notdürftig mit Teer geflickten Straße, deren Fahrspur filetiert ist vom Gleis der Tram und die in ihrer Chronik mehr als tausend Beläge der Erneuerung über sich ergehen lassen musste, auf einem Gehweg, gefügt aus mehr als hundert Jahre altem Kopfsteinpflaster, unter der hölzernen Arkade eines alten Hauses, einer Kaschemme, deren geschlossene Eichentüre den heraus dringenden Lärm darin residierender Zecher ins Erträgliche dämpft, unter dem ausgebleichten Schild einer Haltestelle, steht ein etwa fünfzigjähriger Mann, sinnierend und auf die erste Bahn wartend um heimzufahren, sich für den Rest dieses Tags vom Mahlwerk seines inneren Tristseins zermalmen zu lassen, gefangen in der Spirale der Zeit, weil in Wahrheit nur noch auf eine andere Straßenbahn wartend, die unvermeidlich letzte, welche Thanatos zum Schaffner haben und der ihn, an welcher Haltestelle auch immer, eines Tages abholen wird und dieser Gedanke setzt das Gift frei, welches ihm dieses brodelnde Gefühl am ganzen Leib verursacht, als ramme ihm ein monströses Insekt den Rüssel in seinen Bauch und sauge damit die Innereien, sein Fleisch und das Gehirn heraus, entleere ihn völlig, nur die Haut zurücklassend, einen epidermalen Hohlkörper, der jedoch weiterhin Befehle, Spott und Beleidigungen entgegennimmt und selbst nur Sinnloses von sich gibt, sinnlos weil es letztendlich nur heiße Luft ist, die aus seinem Rachen kommt, auch wenn sie sich vibrierend zu Worten aufschwingt, denn er weiß, er hat der Welt nichts zu sagen, hat ihr nie etwas zu sagen gehabt, ist er doch ex utero ungefragt in sie geschleudert worden, er, der er nicht zu Höherem bestimmt ist, nicht am Rad der Geschichte drehen und deshalb genauso unbeachtet aus diesem Leben treten wird, dabei nur die Frage des Wann von Relevanz sein könnte, so ihn ein Wann auch nur annährend interessierte, zumindest jetzt nicht mehr, wo doch alles vorbei war, da man ihn zum Quartalsende entlassen wird und er in seinem Alter niemals mehr beruflich Fuß fassen und in der Folge nicht mehr den Schutzpflichten eines Familienvaters nachzukommen fähig sein wird, wobei dies ebenfalls nicht mehr bedeutsam ist, denn sie hat es ihm ja angedroht, die Frau, hat ihn gewarnt, dass sie ihn mit dem Kind verlassen wird, so er ihr auf Dauer zum Leben nicht mehr zu bieten hat, denn schon einmal wollte sie ihn verlassen und nur sein Flehen und die Drohung, sich ihretwegen zu töten und um des Kindes willen, bitte bitte bleib doch um des Kindes willen, ließ sie letztendlich tatsächlich bleiben, ein resigniertes Versprechen das an einem Rosshaar hing und ihn täglich Überstunden reißen ließ, um ihr ein gefälliges Leben zu verschaffen, ist sie doch, ja sie, und auch das Kind, natürlich, doch vor allem sie, sein Ein und Alles, ohne die er nicht existieren kann, so ihr etwas zustieße oder sie ihn verließe und genau das wird sie nun tun, nun, da er mit leeren Händen heimkehrt, blank, verbraucht, nutzlos, ja, sie wird ihn, den Versager, nun endgültig verlassen und so steht er da und in seinem Kopf tobt eine Schlacht, droht ihm den Schädel zu sprengen und der Kampf wütet fürchterlich und Tränen strömen über seine Wangen, benetzen seine Jacke und tränken sein Hemd und ein Schrei entfährt ihm, er brüllt nun alles aus sich heraus, so er Atemnot bekommt, darauf er zu taumeln beginnt und als ihn der Schwindel beinahe von den Füßen reißt, aber dennoch dafür sorgt dass sein Gemüt nun wieder etwas zur Ruhe kommt, weiß er nun, was zu tun ist, nun, da die Straßenbahn einfährt, nun, da die Vergangenheit das Jetzt eingeholt hat, fühlt er sich plötzlich befreit vom Joch alles Irdischen, sieht Thanatos am Steuer der Tram sitzen, ihm wie einem alten Freund zuwinken und nun lächelt er, nein, er jauchzt euphorisch und so lässt er sich fallen und er stürzt auf die Gleise und ein Quietschen und Kreischen ertönt und entsetzte Schreie der Passanten gellen und ein Aufruhr entsteht und Menschen eilen zur Hilfe herbei, doch keiner kann ihm mehr helfen, geschäftiger Stillstand, man redet auf ihn ein, er sieht es, doch hört er es nicht mehr.


 
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