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Donnerstag, 1. Juli 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 19 (Mittwoch, 30. Juni) „Liebes Tagebuch. Der Doktor hat recht gehabt: Heute ist alles wieder gut, denn es gibt wieder Fußball. Das EM-Halbinfale Portugal gegen Holland. Und es kann für mich nur einen Ort geben, wo ich mir das Spiel ansehe: das „Lisboa“ in Stuttgart. Schließlich habe ich einen wissenschaftlichen Auftrag zu erfüllen: Ich muss nicht mehr und nicht weniger tun als den empirischen Nachweis zu dokumentieren, dass Marienschreine mit fünf angezündeten Teelichten vor portugiesischen Flaggen unter Fernsehgeräten in portugiesischen Kneipen in Stuttgart dazu führen, dass die portugiesische Fußballnationalmannschaft wichtige Fußballspiele gewinnt. Und sie steht auch heute wieder da, wo sie stehen soll: Die Jungfrau von Fatima, die Schutzpatronin aller Portugiesen, wartet unter dem Kneipenfernseher auf den Anpfiff von Schiedsrichter Anders Frisk aus Schweden. Und vor ihr fünf Teelichte darauf, angezündet zu werden. Und außerdem will ich wissen, ob ich tatsächlich zum Portugiesen-Maskottchen tauge, wie ich nach dem Spiel gegen England leise vermutete.

Die Besitzer vom „Lisboa“ haben ihre Kneipe für ein großes Fußballfest geschmückt. Jeder Tisch hat als Tischdecke eine portugiesische Fahne bekommen. Überall in der Kneipe baumeln rot-grüne Wimpel, Schals und Fahnen. An der Wand im Restaurant hängt ein Bild von Portugals Fußball-Legende Eusebio und der Wirt hat alle seine Kumpels zum Mithelfen zusammengetrommelt und sie dafür, wie sich selbst, in portugiesische Fußballtrikots gesteckt. Und sie haben wirklich alle Hände voll zu tun: Inzwischen ist Portugal nämlich auch in Stuttgart mega-in, denn auch wer sonst nicht viel mit Fußball am Hut hat, geht heute ins „Lisboa“, um sich den portugiesischen Festtag nicht entgehen zu lassen. Selbst die Stuttgarter Nachrichten haben einen Journalistenkollegen zum Verfassen eines Stimmungsberichts für die morgige Ausgabe dorthin entsandt - samt Fotografin, die ein bisschen Schwierigkeiten hat, den Kneipenbesitzer und seine Helfer so kurz vor Spielbeginn zu einem Gruppenfoto unter dem rot-grünen Schmuck im Thekenbereich zu versammeln. Dort müssen die vielen Gäste schwer zusammenrücken, damit jeder in den Fernseher blicken kann. Auch das Restaurant ist voll; alle Tische sind besetzt, meist mit Pärchen, die sich für eineinhalb Stunden zugunsten eines Fußballspiels vergessen. Die Gäste lesen vergnügt die in rot-grüner Schrift gehaltene Tageskarte durch, die überall ausliegt. Zur Feier des Tages gibt’s nämlich etwas ganz Besonderes: das EM-Menü für 23,50 Euro. Als Aperitif einen Portwein, als Vorspeise Stockfisch, frittierte Sardinen und Kroketten und im Hauptgang eine „gegrillte Fischplatte“ (wie sich die wohl zerschneiden lässt?) mit Salzkartoffeln, grünen Bohnen, Broccoli, Karotten und Knoblauchsauce. Dazu ein „Sagres“, das portugiesische „Warsteiner“, wahlweise ein Glas Wein. Und wenn Portugal gewinnt, gibt es „ein portugiesische Getränk GRATIS! GRATIS! GRATIS! GRATIS!“.

Dann betreten die Spieler den Rasen und formieren sich zum Abhören der Nationalhymne. Die Kamera zeigt auf Luis Figo, der die Portugiesen heute wieder anführt. Alle sind erleichert, dass er pünktlich zum Halbfinale wieder aus seiner Schmollecke herausgekommen ist. Der Reporter Reinhold Beckmann erzählt den Fernsehzuschauern, dass Figo in den letzten Tagen ganz viel mit der Jungfrau von Fatima gesprochen habe, weil er doch zuletzt nicht so gut gespielt hatte, deshalb im letzten Spiel ausgewechselt wurde, deshalb lange geschmollt hat und seinem Trainer gram war und deshalb ganz Portugal in Angst und Schrecken versetzt hat ob des dräuenden Unfriedens, der die Mannschaft um den Sieg bringen könnte. Jetzt ist aber alles wieder gut, die Jungfrau von Fatima hat Luis Figo beruhigt und er ist wieder der Leader of the Pack. Auch die Sternen stünden gut, wie Beckmann ergänzt, für all diejenigen, die nicht an Jungfrauen von Fatima, sondern lieber an Horoskope glauben. Dann ertönen die Hymnen. Das ganze Stadion singt mit und im „Lisboa“ halten der Kneipenbesitzer und seine Freunde inne, ebenso die Gäste. Doch da! Was ist das? Die Teelichte brennen noch nicht!! Wie soll Portugal so gewinnen? Ich mache den Liturgiebeauftragten der Kneipe darauf aufmerksam, der völlig außer sich ist, sich daraufhin schnell den Weg zum Schrein bahnt und die Lichte anzündet. Uff, es hat gerade noch gereicht. Jetzt kann wirklich nichts mehr schief gehen.

Das Spiel beginnt und die Portugiesen legen gleich los wie die Feuerwehr. Sie sind klar die bessere Mannschaft und das gefällt auch dem Frauentisch neben mir. Vier Ladys um die 30 haben sich offenbar von ihren Männern für heute frei genommen und sich einen Frauenabend gegönnt. Und nach den Kommentaren zu urteilen, weiß ich auch, warum: Sie warten auf die Nahaufnahmen von den Spielern. Die eine steht auf Figo, eine andere observiert den dunkelhäutigen Holländer Edgar Davids („Hmmm, der sieht aber auch gut aus. Aber sieht der überhaupt was mit seiner Brille?“) und alle zusammen finden den 19jährigen Christiano Ronaldo „so süüüüüüüß“. Und als der das 1:0 erzielt und sich beim Jubel seines Trikots entledigt, ist es um den Frauentisch geschehen. Bei so viel Zustimmung aus dem weiblichen Publikum nimmt Ronaldo fürs Trikotausziehen gerne auch die Gelbe Karte in Kauf. Und wahrscheinlich hat sich auch Davids davon beeindrucken lassen, dass eine der Damen am Tisch so auf ihn steht. Denn während Ronaldo das 1:0 köpft und damit das „Lisboa“ und ganz Portugal in Ekstase versetzt, lehnt Davids lässig am Pfosten und sieht zu, wie der Ball ins Tor geht. Das kommt davon, wenn sich Fußballspieler von weiblichen Blicken ablenken lassen.

Zur Pause steht’s 1:0 und der Wirt vom „Lisboa“ macht das Geschäft seines Lebens. Bis auf einen verirrten Hollandfan halten alle Gäste zu Portugal, sind ob der tollen Leistung der Mannschaft hoch zufrieden und bestellen, was das Zeug hält. Im Pausenbericht ist die ARD-Reporterin bei den Eltern des obercoolen portugiesischen Torwarts Ricardo zu Gast. Genau der, der beim Elfmeterschießen gegen England David Beckham so erfolgreich provizierte, dass der seinen Elfer vergeigte, der anschließend seine Torwarthandschuhe wegwarf, den Elfer des Engländers Vassell mit bloßen Händen parierte und den entscheidenden Strafstoß schließlich selbst verwandelte. In dessen Elternhaus also weint die Mama während der Hymne, hat der Sohn ein Kruzifix im Mund und ein Handy in der Hand und versucht der Papa, die unangenehme Situation mit einem deutschen Fernsehteam in seinem Wohnzimmer mit Würde zu überstehen.

Zweite Halbzeit. Die Holländer versuchen es jetzt mit dem FC-Bayern-Stürmer Rheuma-Kay, doch das Tor erzielen die Portugiesen. Maniche zirkelt einen Ball vom Strafraumeck an Keeper Edwin van der Sar vorbei in den Torwinkel. Jetzt flippt Portugal komplett aus. Und selbst die Frauen am Nebentisch vergessen für einen Moment ihre wahren Wahrnehmungsintentionen: „Jetzt haben es die Holländer aber verdammt schwer“, nicken sie sich fachfrauisch zu und Reinhold Beckmann scheint von der Situation derart ergriffen zu sein, dass er jetzt nur noch Portugiesisch kommentiert. Zumindest versucht er’s und es hört sich natürlich völlig idiotisch an. Eine Deutsch-Portugiesin am Tresen lacht sich einen Ast, wie Beckmann zum Spieler Simao ständig „Schimao“ sagt, weil er offenbar meint, auch das Anfangs-S werde „Sch“ gesprochen. Völlig falsch, meint die Frau, doch Beckmann tut weiter so, als habe er die portugiesische Sprache erfunden. Dann fällt der Anschlusstreffer der Holländer durch ein Eigentor und der Frauentisch kommentiert das völlig nüchtern: „Ein Eigentor! Und was für ein klassisches!“ Danach herrscht Totenstille der in Kneipe und im Stadion und Reinhold Beckmann darf wieder über die Angst und die Melancholie und den Fado und all die anderen dämlichen Klischees von den portugiesischen Verlieren mit ihrem Hang zum Leiden dozieren. Und als dann auch noch der Stürmer Nuno Gomes eingewechselt wird, hat dieses Klischee wieder sein Gesicht bekommen: das Pudelgesicht, wie Beckmann sagt. Eine Viertelstunde vor Schluss ist auch der Frauentisch von der Spannung ums Spiel völlig ergriffen. Van Niestelrooy tritt den Torwart Ricardo und die Frauen diskutieren, ob das Absicht war oder nicht. Aber niemandem, nicht mal den Frauen, fällt auf, dass dem holländischen Trainer Advocaat wohl geraten worden ist, statt eines Schweißflecken verursachenden Nylonhemdes ein Schweiß absorbierendes Frotteehemd anzuziehen.

Die Portugiesen retten das 2:1 über die Zeit, weil die Holländer nicht viel zustande kriegen. Im „Lisboa“ brandet großer Jubel auf und alle klatschen. Der Wirt und seine Freunde sind völlig happy und sie machen ihre Ankündigung von der Tageskarte wahr, holen einen Karton „Sagres“ aus dem Keller und verteilen Freibier an die ganze Kneipe. „Danke, aber i muss no fahrä“, hört man zwar auch aus der ein oder anderen Ecke, aber alle feiern irgendwie mit und gratulieren dem Wirt zum Sieg seiner Mannschaft. Da kommt auch schon der Radioreporter vom SWR in die Kneipe gestürmt und will von allen Portugiesen in sein Mikro gesprochen haben, wie glücklich sie jetzt sind, damit er noch in der Nacht den O-Ton-Beitrag über glückliche Stuttgarter Portugiesen für die Frühsendungen produzieren kann. Vor der Kneipe rasen unterdessen die ersten hupenden Autos mit portugiesischen Fahnen aus den Fenstern hängend die Weinsteige hinunter in Richtung B27, wo es wahrscheinlich die ganze Nacht über autokorsal zugehen wird. Sofern die Polizei das Feiern nicht irgendwann freundlich, aber bestimmt unterbindet, wovon in Stuttgart auszugehen ist. Das stört unter den Portugiesen aber wahrscheinlich niemanden mehr, denn sie haben ja den Beistand der Jungfrau von Fatima, die heute wieder alles gerichtet hat. Vor allem der portugiesischen Kneipenwirt, der gerade noch im richtigen Moment die Teelichte angezündet hat. Deshalb, und nur deshalb, steht Portugal jetzt zum ersten Mal im Endspiel eines wichtigen Turniers, und beim Abschied aus dem „Lisboa“ werde ich vom Kneipenwirt fröhlich auf den nächsten Spieltermin am kommenden Sonntag hingewiesen – das Finale! Scheinbar bin ich jetzt doch zum portugiesischen Maskottchen aufgestiegen. Und wenn ich am Sonntag nicht komme? Dann wird’s die Jungfrau von Fatima auch ohne mich richten. Vorausgesetzt, sie vergessen nicht, die fünf Teelichte anzuzünden...

Bis Morgännn!!!


 
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