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Freitag, 2. Juli 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 20 (Donnerstag, 29. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute habe ich eine griechische Komödie gesehen. Beziehungswiese den vorletzten Aufzug davon. Oder war’s ein Märchen? Egal, der erste Aufzug begann jedenfalls schon vor drei Jahren, als ein älterer, scheinbar ausgelaugter, antiquierter und verschmähter deutscher Fußball-Lehrer nach Griechenland auszog, um ein offensichtlich am Boden liegendes Etwas zum Leben zu erwecken und Ruhm und Ehre über es zu bringen. Und der Chor in seinem deutschen Heimatland lästerte: „Hahaha, Otto geht nach Griechenland, Otto geht nach Griechenland. Seine Rente abholen. Schön, dass er endlich weg ist. An den leistungsrenitenten Bakschisch-Griechen mit ihren korrupten Verbandsbossen wird er sich er sich schön die Zähne ausbeißen. Hahaha, tirilihihi“.

Zweiter Aufzug: Otto trat seinen Dienst an und die Griechen verloren die ersten Spiele ziemlich hoch und Ottos Kritiker sahen sich bestätigt und lachten und im Griechenland gab keiner auch nur einen Pfifferling auf die Mannschaft. Dann, in der EM-Qualifikation, schlugen Ottos Griechen plötzlich die Spanier in deren eigenem Stadion und alle wollten nur einen Zufall darin gesehen haben und Otto tat, was er immer tat: tiefstapeln, die Tat herunter reden und seine Spieler als Lehrlinge bezeichnen. Es gab ihnen ja eh keiner eine Chance in der Gruppe. Und der Chor nörgelte abfällig zu Otto: „Zufall, alles Zufall. Die Spanier waren müde und haben Deine Griechen unterschätzt. Und wenn die Spanier mal richtig aufdrehen, dann gibt’s Haue, Haue, Haue. Hahaha.“ Und Otto grinste verschmitzt und dachte sich nur: „Ihr werdet Euch alle noch wundern.“

Dritter Aufzug: Nach dem Spiel in Spanien verloren die Griechen kein einziges Qualifikationsspiel mehr, kassierten kein weiteres Tor, wurden souverän Gruppensieger und dafür mit der Teilnahme an der EM belohnt. Und in Griechenland wurden sie erstmals richtig aufmerksam auf die Mannschaft und den Otto und sie erinnerten sich alle daran, dass er in Deutschland nur „König Otto“ genannt wurde. Und irgendwie passte das zu Griechenland. Zum ersten Mal seit 1980 waren sie wieder bei einer EM dabei, und zum ersten Mal seit 1994, als sie bei der WM in den USA mit 0 Punkten und 0 Toren nach Hause geschickt wurden, überhaupt wieder Teilnehmer an einem wichtigen Turnier. Für Otto eine ganz tolle Sache, für seine Chorkritiker allenfalls ein anerkennendes Nicken wert, aber immer noch kein Grund, ihn wirklich zu schätzen. Und der Chor sang: „Ihr, Ottos Griechen, werdet bei der EM so böse Prügel beziehen, dass Ihr Euch gewünscht hättet, gar nicht erst dabei gewesen zu sein, dideldumm, dideldumm, trara“. Und Otto nickte seinem Kritikerchor höflich zu, dachte sich: „Wir werden ja sehen...“, sprach aber laut wie er es seit jeher tat: „Wir sind die Außenseiter, wir können hier nur lernen, wir sind aber glücklich, überhaupt dabei zu sein“. Dideldumm, dideldumm, dideldumm.

Vierter Aufzug: Eröffnungsspiel Portugal gegen Griechenland. Der Gastgeber, hoher Favorit mit Weltklassespielern und einem Trainer, der Brasilien schon zum Weltmeister machte, gegen den krassen Außenseiter Griechenland, mit einem Trainer, der zwar schon mehrfach Deutscher Meister und Pokalsieger und auch schon Europacupsieger war, dem aber als Griechenlands Trainer eher das wohlwollende Etikett des Entwicklungshelfers anhaftete. Doch nach sechs Minuten in diesem Spiel erzielten die Griechen das 1:0 und in der Folge bissen sich die hoch gelobten und technisch perfekten Portugiesen an einer griechischen Betonabwehr die Zähne aus. Otto hatte den klischeemäßig laschen und undisziplinierten Griechen deutsches Abwehrverhalten beigebracht und seine Spieler dazu gebracht, sich an Struktur und Vorgaben zu halten. Am Ende gewannen die Griechen das Spiel mit 2:1 und die Fachwelt war wie paralysiert. Vor allem der Kritikerchor zog erstmals den Hut: „Gratuliere, gratuliere, tolle Leistung. Wir freuen uns für Dich, lieber Otto.“ Erstmals waren sie also lieb zu ihm, so richtig ernst nahmen sie ihn aber immer noch nicht. Nur Otto, der freute sich mit seiner Mannschaft wie ein Schneekönig. Für ihn und die Griechen war das ein tolles Erlebnis, das sie mit Lust am Ereignis und nicht mit irgendwelchem Erfolgsdruck angingen. Und sie wurden eine kleine, verschworene Gemeinschaft. Die Süddeutsche Zeitung titelte: „Werder Bremen ist Griechenland“.

Fünfter Aufzug: Im zweiten Spiel gegen Spanien glich Charisteas, Ottos Lieblingsspieler von Werder Bremen, die spanische Führung aus. In der Folge bissen sich die Spanier an der griechischen Abwehr genauso die Zähne aus, wie es die Portugiesen im Eröffnungsspiel taten. 1:1 endete das Spiel, die Griechen waren damit praktisch eine Runde weiter, weil sich Portugal und Spanien im letzten Spiel gegenseitig aus dem Turnier kegeln mussten. Derweil tanzte Otto mit seinen Spielern auf dem Spielfeld eine Mischung aus Sirtaki und Rumpelstilzchen und gab dem Kritikerchor freudvolle Interviews. Inzwischen freute sich sogar schon der Chor für ihn und nach dem letzten Spieltag musste er kleinlaut singen: „Otto ist jetzt neben Schiedsrichter Merk der letzte Deutsche im Turnier“ – und so mussten sie ihm aus lauter Patriotismus auch noch die Daumen halten, ob sie wollten oder nicht. Währenddessen brach bei den Deutschen alles zusammen. Sie schieden aus dem Turnier aus, der Teamchef warf hin und im Chor sangen sie jetzt nur noch durcheinander und fielen gegenseitig über sich her. Jeder wollte der Chorleiter der Deutschen sein. Und Otto lachte und freute sich diebisch.

Sechster Aufzug: Im Viertelfinale durfte Otto mit seinen Griechen gegen Welt- und Europameister Frankreich spielen. Für den Chor und alle anderen Experten die Übermacht im Fußball schlechthin: „Die kannst Du gar nicht schlagen“, sangen sie laut und rhythmisch und ihrer Sache sicher. Und weiter: „Otto wird gegen Frankreich sein blaues Wunder erleben, tirilihihi“. Und Otto antwortete: „Wir haben schon jetzt mehr erreicht als uns zugetraut wurde. Es ist für uns eine Ehre, gegen die großen Franzosen spielen zu dürfen“. Und dann lernten auch die Franzosen Ottos scheinbar antiquiertes System „Kontrollierte Offensive“ aus den Bestandteilen Betonabwehr, mannschaftliche Geschlossenheit und schnelles Passspiel kennen. Und die tollen Franzosen fanden keine Mittel, um den Griechen eins einzuschenken, wie der Chor wohl hoffte. Und dann liefen sie auch noch in einen Konter, den die Griechen zum 1:0 abschlossen. Der Reporter bekam schier einen Herzkasper und alle, alle, alle hoben Otto und seine Griechen plötzlich in den Olymp und holten alle Assoziationen und Klischees zu Griechenland heraus, die die Kulturgeschichte zu bieten hat. Und selbst der Chorleiter, Franz Beckenbauer, musste jetzt ein Loblied auf Otto knurrend anstimmen. Und weil die Deutschen ja sowieso gerade einen neuen Trainer suchten, wurden schon Ansätze eines Bittliedes an Otto getextet. Der aber sang zurück: „Ich habe hier noch einen Vertrag und möchte gerne in Griechenland bleiben.“ Derweil sie ihn in Griechenland schon als 13. Gott neben Herrn Zeus Pfeile werfen sahen und ihm schon die griechische Staatsbürgerschaft anboten. Denn laut EU-Recht musst Du wohl einen griechischen Pass haben, um Gott in Griechenland zu werden.

Siebter Aufzug: Das Halbfinale Griechenland gegen Tschechien. Und wieder traute der Chor dem Otto nix zu: „Aber jetzt wirst Du Dein weißes Wunder erleben, denn so, wie die Tschechen spielen, werden sie Deine Mannschaft an die Wand dribbeln“. Nur der portugiesische Chor sang nach dem eigenen Halbfinalsieg gegen Holland: „Jetzt wollen wir im Finale gegen Griechenland spielen, denn mit Euch haben wir aus dem Eröffnungsspiel noch ein Hühnchen zu rupfen.“ Und am Anfang sah es ganz so aus als hätte der Chor recht: Die Tschechen hatten eine Riesenchance nach der anderen und Ottos Griechen kamen kaum vor das tschechische Tor. Doch dann verletzte sich Nedved, das Herz der tschechischen Mannschaft, und fortan war das Spiel ausgeglichen. Es musste sogar verlängert werden, weil die Tschechen auch die besten Torchancen nicht nutzten und Ottos griechische Betonabwehr diesmal auch viel Glück hatte. Und dann gab es Verlängerung und als alle mit dem Pausenpfiff rechneten, gab es Eckball für Griechenland und der Tagebuchschreiber flüsterte dem Chor ins Ohr: „Wenn sie jetzt treffen, ist das Spiel gelaufen“. Und der Fernsehsänger sang: „Wenn sie jetzt ein Tor schießen, ist das Spiel gelaufen.“ Und der Grieche trat die Ecke auf die Spitze des Turms der griechischen Betonabwehr. Von dort sprang der Ball ins Tor, der Schiedsrichter pfiff ab und die Welt hatte ihr erstes und wohl letztes „Silver Goal“ gesehen (siehe auch Tag 17). Ottos Griechen hatten auch die Tschechen erledigt und jetzt versank das Land unter dem Freudentrampeln seiner vielen Millionen Fans, die außer sich waren und gar nicht mehr aufhören wollen zu feiern. So etwas hatte das Land noch nicht gesehen und mittendrin stand Gotto Rehhagel, für den ein Traum in Erfüllung ging und dem jetzt ein Chor gegenüber stand und sang: „Du bist der Größte und der Schönste und wir verneigen uns vor Dir und willst Du nicht deutscher Nationaltrainer werden und uns in zwei Jahren zum WM-Titel führen?“ Und Otto sang zurück: „Ich werde jetzt erstmal mit meinen Spielern feiern“. Und lachte dabei in sich hinein.

Und wir freuen uns alle schon auf den achten Aufzug am Sonntag, wenn das erste Spiel der EM auch das letzte sein wird. Wenn wir eine Partie sehen, die wohl die allerwenigsten getippt hatten, und die den, der sie getippt hat, jetzt wohl reich macht: Portugal gegen Griechenland. Zwei Mannschaften, die sonst eher niemand auf dem Zettel hatte und über die jetzt alle Kritikerchöre aus Frankreich, England, Deutschland, Spanien, Tschechien und Holland wohl auf Knien rutschend nur noch Loblieder singen dürften.

Bis Morgännn!!!


 
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