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Dienstag, 16. Januar 2007

Leichter leben ohne Harndrang


Neulich musste ich vom Vatertag bis zum Muttertag zum „Deutschen Baumeistertag“ nach Baden-Baden. Sozusagen als Entspannungsmaßnahme entschied ich mich diesmal für eine Zugfahrt. Im digitalen Zeitalter geht man ja nicht mehr so einfach ins Reisebüro um die Ecke, sondern bucht bequem im Internet. Ich glaube, ich hatte noch nie einen so gut ausgestatteten Platz von einem Reisebüro-Mitarbeiter ausgesucht bekommen: Handy-Empfang, Video-Bildschirm, extrem viel Beinfreiheit. Da hat sich das Internet mal echt viel Mühe gegeben.

Ich fahre also mit einem Frühlings-Special für supergünstige 39 € von Berlin nach Baden-Baden. Meine selbst ausgedruckte Fahrkarte weist neuerdings im oberen rechten Teil ein ca. 5 x 5 cm großes, wie Tetris aussehendes Quadrat als mein sogenanntes „Erkennungsmerkmal“ auf. So eine Art digitaler Leberfleck, damit auch ja nicht ein anderer Schmarotzer sich für mich ausgibt, wenn er mir die Fahrkarte klaut!

Leider habe ich erst nach Ausdruck meiner Fahrkarte herausgefunden, dass es für die Rückfahrt keinerlei Frühlings-Specials mehr gibt. Vielleicht irgendwann einmal. Dann aber ein Herbst-Special, WM-Special oder ein Berlin-Hauptbahnhof-Eröffnung-am-28.Mai-sieht-trotzdem-unfertig-aus-und-Weichen-funktionieren-auch-noch-nicht-aber-vom-Bahnhof-Zoo-fahren-geht-auch-nicht-mehr-Special!

Nun zahle ich für die Rückfahrt dreimal so viel, kann aber jeden Zug nehmen, den ich ich will, z. B. einen, der nachts um Mitternacht losfährt und morgens um 9:00 nach einer doppelt so langen Fahrt in Berlin ankommt. Wahrscheinlich wartet der Zug zwischendurch drei Stunden im Bahnhof „Friedrichstraße“ auf andere S-Bahnen.

Ich stehe auf dem Bahnsteig. Der Bahnsteig-Stadion-Sprecher quäkt aus dem Lautsprecher, dass der Zug in umgekehrter Wagenreihenfolge einfahren wird. Sofort setzt eine Völkerwanderung ein. Alle Reisenden von Abschnitt D und E hasten zu Abschnitt A und B und andersherum. Kinder schreien und kleckern Eis. Mütter beruhigen und wischen die Münder der Kinder ab. Väter schleppen schweißüberströmt die Koffer. Irgendwo in Abschnitt C kommt es zum Menschenknäul mit sich knubbelnden und zahlreich verhakelnden Koffern.

In meinem Wagen sitzt neben mir eine Gruppe von Leuten mit Verhältnis: 1 Person zu drei Koffern und 1 Tasche und 2 Tüten. Ihre Sachen stehen so ungünstig neben den Sitzen, dass ich fast über sie falle, während ich nach meinem Sitz schaue. Auch ein Schaffner bittet darum, die Taschen etwas zur Seite zu stellen.

Der Zugchef begrüßt uns über die knisternde Lautsprecheranlage. Er bietet uns großzügig an, ihn jederzeit ansprechen zu dürfen. Ich frage mich, wie das gehen soll, wenn man nicht weiß, welcher von den vielen Schaffnern der Zugchef ist. Bis zum Ende der Bahnfahrt werde ich es auch nicht herausfinden. Und überhaupt: Was ist der Unterschied zwischen Schaffner und Zugchef? Kann der ersterer Fahrkarten abknipsen, während der Zugchef auch noch Anschlussverbindungen aufsagen darf?

Später meldet sich der Zugführer per Durchsage. Er bittet darum, dass das Zugpersonal ihn ansprechen soll. Einen Grund nennt er nicht. Vielleicht hat er Hunger oder möchte eine Nackenmassage. Später sieht man gar kein Zugpersonal mehr. Vermutlich werden illegale Pokerrunden in denjenigen Abteilen veranstaltet, die nur für das Personal da sind.

Ab und zu werden die Durchsage-Lautsprecher für musikalische Experimente missbraucht. In regelmäßigen Abständen werden drei Töne abgespielt. Ihre Bedeutung hat sich mir bisher nicht erschlossen. Bei der S-Bahn bedeuten diese Töne, dass gleich die Türen geschlossen werden und der Zug losfährt. Bei einem mit 250 km/h verdammt schnell fahrenden ICE kann ich mir das eher nicht vorstellen. In dem Film „Die unheimliche Begegnung mit der dritten Art“ wurde mit Hilfe solcher Töne mit den Außerirdischen kommuniziert.

In Göttingen informiert uns der von mir langsam für sympathisch befundene, aber immer noch nicht visuell identifizierte Zugchef, dass der sogenannte „mobile Eisladen“ zugestiegen ist. Das Wort „mobil“ fasziniert mich. Ich fühle mich gleich um 30 Jahre gealtert und sehe mich vor meinem geistigen Auge in einem Altersheim, von einem mobilen Pflegedienst und „Essen auf Rädern“ versorgt.

Zwanzig Minuten später entpuppt sich der mobile Eisladen tatsächlich als „Essen auf Rädern“ – nur „mit ohne“ Räder: eine kleine Studentin darf eine Kühlbox aus dem Karstadt-Gartencenter, auf dem 4 Eissorten-Aufkleber angebracht sind, durch die Wagen schleppen. Sie sieht ziemlich mitgenommen aus. Ich kaufe aus Mitleid ein Magnum für 1,90 €. Zehn Cent Trinkgeld erscheinen mir zu knauserig. Dann lieber gar kein Trinkgeld geben.

Ein paar Reihen vor mir sitzt eine junge Mutter mit einem Sohn im Kindergarten-Alter. Er turnt auf den Sitzen herum und kräht zu der Eisverkäuferin aus zehn Metern Entfernung „Hallo! Hier her!“. Ich grinse ihn an und stecke die Zunge heraus. Anscheinend scheint ihn das zu verschrecken. Er lässt sich auf den Sitz fallen und erzählt es aufgeregt seiner Mutter. Sofort dreht sie sich um und linst durch den Spalt zwischen den Sitzen. Ich komme mir vor wie ein Kinderschänder, dessen Gesicht man mit einem schwarzen Balken über den Augen auf Seite 1 einer Boulevardzeitung unkenntlich gemacht hat. Später steigen drei Polizisten in den Zug. Ob die Mutter sie verständigt hat? Ich sehe mich vor meinem geistigen Auge, wie ich von den Polizisten abgeführt werde.

Auch der Kaffee wird als „Essen auf Rädern“ serviert. Diesmal jedoch wirklich auf Rädern: Wiederum eine kleine Studentin – diesmal eine andere, eine ganze Uni scheint mir hier unterwegs zu sein - verkauft diverse Getränke und Snacks aus Kisten, die sie auf einer Art Sackkarre im Zug vor sich her schiebt. Als sie weitergeht, sehe ich die Speisekarte, die auf die Rückseite ihres T-Shirts gedruckt ist. Leider erkennt man dies erst, wenn man bereits etwas gekauft hat. Vielleicht sollte ich Herrn Mehdorn oder besser gleich dem Nachfolger einen Brief schreiben und ihn bitten, in Zukunft die Speisekarte vorne auf das T-Shirt drucken zu lassen.

Gibt es eigentlich eine Untersuchung, wie oft Reisende, die alleine reisen, bestohlen werden, wenn sie die Toilette aufsuchen und ihr Gepäck alleine am Platz lassen müssen? Ich merke, dass ich eine Flasche Wasser und einen großen Kaffee getrunken habe und dringenst auf die Toilette muss. Ich stürme los, in der Hoffnung, dass potentielle Diebe wenigstens den leeren, ausgeräumten Koffer zurücklassen.

Als ich das WC verlasse, fällt mein Blick auf ein Plakat, das gegenüber der WC-Tür angebracht ist und für ein Medikament wirbt: „Leichter leben ohne Harndrang“. Wie wahr. Oder anders herum wird ein Schuh draus: „Ausgeraubt werden mit Harndrang“.

Der Zugchef sagt an, dass wir demnächst Baden-Baden erreichen. Erleichtert hiefe ich meine noch vollzählig vorhandenen Utensilien von der Gepäckablage. Ich hoffe, den Zugchef vor dem Aussteigen noch einmal kennenlernen zu dürfen. Ihm vielleicht die Hand zu schütteln. Leider taucht er nicht auf. Als ich aussteige, komme ich zu der Erkenntnis, dass es ihn „in echt“ gar nicht gibt und er nur eine neue Erfindung von google ist. Nach „google earth“ jetzt „google zugchef“ oder so. Da hat sich das Internet mal wieder echt viel Mühe gegeben!


 
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Der Mittwochsbahnhof


Dienstag Nachmittag

Sin starrte das Telefon an. Gleich würde es wieder unentwegt klingeln, und die Leute am anderen Ende der Leitung sagen, wie schlecht der Service doch sei und warum sie eigentlich viel lieber fliegen würden!

Der Zeiger seiner Armbanduhr rückte unaufhaltsam auf die 15 Uhr-Marke zu. In seinem Dienstplan stand, dass er dienstags von 15 bis 16 Uhr telefonische Auskünfte erteilen müsse. Wie sehr er das hasste! Noch fünf Minuten Zeit. Sin stand auf und ging zum Fenster seines Büros, das im vierten Stock lag und einen schönen Blick über den Vorplatz erlaubte.

Merkwürdig, dachte er sich. Heute waren erstaunlich wenige Leute unterwegs, die mit ihren Koffern herumirrten und verzweifelt an den Türen rüttelten. Sin machte das nichts mehr aus. Früher wäre er nach unten gegangen und hätte entweder den Familien mit ihren schreienden Kindern, Tüten und Taschen oder den Geschäftsleuten, die nur eine Aktentasche bei sich hatten, lang und breit alles erklärt. Aber nachdem einige handgreiflich wurden, blieb er lieber oben in seinem Büro und beobachtete das ganze Geschehen von oben. Verträumt schaute er den Schneeflocken hinterher, die nur unter dem Schein der vereinzelt aufgestellten Laternen sichtbar wurden.

Rrrrrring! Sin erschrak und drehte sich zum Telefon um, das wie wild klingelte und fast vom Tisch tanzte.

"Berlin Hauptbahnhof. Information. Guten Tag. Meine Name ist Gechen, was kann ich für Sie--", wollte er seinen Spruch herunterleiern. Doch bevor er den Satz zuende gesprochen hatte, ergoss sich ein ungeheuer lautes Gebrabbel in sein Ohr, das nur aus wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen zu bestehen schien. Sin seufzte und bemühte sich, den Anrufer zu beruhigen und zufrieden zu stellen.

Scccchhhhhh.... Krrrhhhh...... Schhhhhhhh. Sin öffnete langsam ein Auge. Was war das für ein Geräusch? Er musste eingeschlafen sein. Die eine Stunde Telefondienst am Dienstag Nachmittag nahm ihn immer so sehr mit, dass er danach sofort einschlief. Er schaute auf seine Uhr. 19 Uhr! Ach Du meine Güte! Er hatte fast drei Stunden geschlafen.

Scchhhhhh. Da war wieder dieses Geräusch. Sin ächzte, als er sich aus dem Bürostuhl erhob. Er schlich langsam zur Tür und öffnete sie vorsichtig einen Spalt. Wie kleine Geister huschten vor seinen Augen die Putzmänner auf ihren Maschinen vorbei, nur dieses leichte Zisch-Geräusch erzeugend.

Sin beschlich ein latentes Gefühl der Hektik. Er hätte längst auf seinem täglichen Rundgang sein müssen. Er dachte an die Eiseskälte in der Halle und entschloss sich, heute die warme Daunenjacke anzuziehen. Als er seinen Garderobenschrank öffnete, fiel sein Blick auf die neue Uniform, die er morgen Abend das erste Mal anziehen würde. Fein säuberlich hing sie wie ein Fremdkörper in seinem grauen Spind, bei dem die Farbe schon an den Ecken abgeplatzt war. Ein dunkelroter, samtartiger Stoff mit goldenen Knöpfen, die seine Initialien trugen. Dazu passend ein weißes Hemd, auf dessen Brusttasche mit einem geschwungenen Schriftzug ebenfalls sein Name gestickt war.

Sin trat in die dunkle Halle und fröstelte. Sein Atem kondensierte sofort und erzeugte abertausende von kleinen Schneekristallen, die wie Watte zu seinen Füßen fielen. Er blickte auf seine dunklen Schuhe, die im Schein der Notbeleuchtung matt glänzten. Der Schnee schmolz und bildete einen kleinen See, in dessen spiegelglatter Oberfläche sein müdes Gesicht mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln zu sehen war. Morgen würde alles anders werden.

Tock-tock!

Sin kniff die Augen zusammen. Nur mühsam konnte er die Gestalt erkennen, die völlig eingeschneit vor den verschlossenen Eingangstüren stand und wie wild an die Scheibe klopfte. Dass diese verdammten Reisenden nicht lesen konnten! Dabei hatte er doch voller Hingabe alles handschriftlich auf einen Zettel geschrieben, 20-fach kopiert und an jede Tür gehängt.

Tock-tock-tock!

"Jetzt reicht es aber", dachte sich Sin und rannte förmlich in Richtung des immer lauter werdenen Klopfens. Er schloss die Tür auf und sah vor sich einen Mann, der einen Reiseführer in der Hand hielt und ihn mit großen Augen ansah.

"Hören Sie", sprudelte es aus Sin heraus. "Heute ist Dienstag! Der Bahnhof ist geschlossen. Kommen Sie morgen wieder. Dann fährt bestimmt auch Ihr Zug".

Der Mann runzelte die Stirn und schaute ihn ungläubig an.

"Das haben Sie jetzt nicht wirklich gesagt".

"Sagen Sie, sind Sie schwerhörig? Hier fahren nur mittwochs Züge ab. Seien Sie doch froh, dass heute Dienstag ist. Hier haben schon Reisende am Donnerstag geklopft, die ich für eine Woche nach Hause schicken musste."

"Aber das ergibt doch keinen Sinn. Ein Bahnhof, bei dem nur mittwochs Züge fahren. Wo gibts denn so was?"

"Tjaaaa", Sin machte eine kurze Pause, bevor seine Arme zu kreisen anfingen und er auf die Gleise im Untergeschoss zeigte.

"Das ist die Wurzel allen Übels. Und das dort auch". Er zeigte auf die lange Glashalle, die im oberen Teil des Gebäudes den Bahnhof durchschnitt und quer zu den Gleisen im Untergeschoss verlief. Noch zu gut erinnerte sich Sin an den Tag im November 2006, als die Hautpverwaltung gerichtlich dazu verdonnert wurde, die Decke im Untergeschoss zu erneuern, weil sie ohne das Einverständnis des Architekten einfach anders ausgeführt wurde. Im Jahr darauf musste dann auch noch die obere Glashalle verlängert werden, weil sie aus Zeitgründen einfach kürzer gebaut wurde.

"Hier mussten ein paar Umbaumaßnahmen durchgeführt werden", erklärte Sin jetzt mit Worten sein hektisches Herumfuchteln mit den Armen.

"Und das war so teuer, dass die Hauptverwaltung sich vor vier Jahren dazu entschlossen hatte, aus Kostengründen hier nur noch mittwochs Züge fahren zu lassen. Der Bahnhof ist als von Donnerstag bis Dienstag geschlossen. Guten Abend."

Sin zog schnell die Tür zu und schloss sie ab, bevor der Mann etwas antworten konnte.

Mittwoch Morgen

Sin blickte auf die Uhr. Er war kurz vor 6 Uhr morgens. Vor dem Bahnhof hatte sich eine große Traube von Menschen gebildet, die gleich um Punkt 6 Uhr durch die Türen strömen würden. Er kannte den Fahrplan in- und auswendig. Der erste Zug fuhr um kurz nach 6 Uhr von Gleis 8 nach München und der letzte kam um 23 Uhr 30 aus Stuttgart an auf Gleis 13.

Um Punkt 6 Uhr schloss er die Tür auf, und die Reisenden strömten wie ein Wildwasserbach an ihm vorbei in Richtung der Gleise im Untergeschoss und in der hoch oben thronenden Glashalle. Sofort füllte sich die eben noch mit einer Grabesstille erfüllte Eingangshalle des Bahnhofs mit Leben. Sin erkannte die Reisenden, die regelmäßig am Mittwoch Morgen kamen und in immer den gleichen Zug einstiegen.

Da war der kleine Junge, der von seiner Großmutter zum Zug gebracht wurde. Oder der Geschäftsmann, der ständig in sein Handy irgendwelche Anweisungen an seinen Steuerberater brüllte. Es schien etwas mit Aktien zu tun zu haben. Sin verstand davon jedenfalls kein Wort.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser über die Menschenmenge schauen zu können. Dort hinten kam sie schon! Das junge Mädchen mit der Aktentasche und der Planrolle unter dem Arm. Schon von weitem sah er ihren gehetzten Gesichtsausdruck.

"Komm schnell", flüsterte Sin sich selbst zu. "Dein Zug fährt in 10 Minuten".

Als sie an ihm vorbeiging, konnte er den Duft ihrer Haut spüren. Selbst mit geschlossenen Augen würde er es fühlen, wenn sie an ihm vorbeigehen würde. Sin sah ihr hinterher, wie sie sich durch die Menschenmenge in Richtung Gleis 3 kämpfte. Er lächelte. Heute würde alles anders werden. Sicherlich, er würde den Bahnhof vermissen. Er würde vielleicht sogar den regelmäßigen Telefondienst und die damit verbundenen Erklärungen zu den Öffnungszeiten des Bahnhofs vermissen. Und vielleicht sogar den Geschäftsmann mit seinen Aktien. Aber er hatte sich dazu entschlossen, sein Leben zu ändern. In einer anderen Welt.

Sin schaute verträumt auf die Anzeigentafel. Er hatte das Mädchen aus den Augen verloren. Aber er wusste, dass er sie heute abend wiedersehen würde. 20 Uhr 43 auf Gleis 2. Wie unglücklich sie in den lezten Wochen ausgesehen hatte, als sie den Zug aus Hamburg verließ. Müde und abgekämpft. Seit drei Wochen aber war sie wie ausgewechselt. Jeden Mittwoch Abend stand er dort. Dieser Junge, der schon 30 Minuten vor der Einfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig auf sie wartete. Manchmal hatte er eine Sonnenblume dabei. Und stets ein Lächeln im Gesicht, voller Vorfreude darauf, sie in seine Arme zu nehmen.

Sin warf einen letzten Blick auf die Menschenmenge und ging zu seinem Büro, um seine Koffer zu packen.

Mittwoch Abend

Sin hatte Angst. Nicht nur vom Kofferpacken standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Heute abend würde er das erste Mal seit fünf Jahren diesen Bahnhof verlassen. Bisher hatte er immer alles hier kaufen können. Im 1. Untergeschoss gab es einen Supermarkt, im Erdgeschoss hinter dem Eiscafé einen Herrenausstatter. Alles was das Herz begehrte. Hinderlich war natürlich, dass die Geschäfte nur mittwochs öffneten. Aber Sin hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt.

Ein letztes Mal machte er das Licht aus, schloss die Tür ab und hängte einen Zettel mit dem Aufdruck "Büro für immer geschlossen" an die Tür.

Er stand auf dem Bahnhsteig mit den Gleisen 1 und 2, der in seinen Augen die Abstellkammer des Bahnhofs war. Es waren die einzigen Gleise im Bahnhof, die nicht einen großzügigen Luftraum über sich hatten. Als wolle der Bahnhof Sin noch einmal die kalte Schulter zeigen, um ihm den Abschied leichter machen. Er blickte auf seine Armbanduhr, die im matten Silber wunderbar zu seiner neuen dunkelroten Uniform passte. Sin lächelte, als er sich im verschwommenden Spiegelbild einer Werbetafel sah. Wie adrett er mit seiner neuen Uniform doch aussah!

"Entschuldigung! Darf ich mal bitte durch?"

Sin drehte sich um und erkannte den Jungen, der jeden Mittwoch Abend das hübsche, schwarz gekleidete Mädchen abholte. Heute jedoch hatte er ein Sammelsurium von Koffern und Taschen in allen möglichen Größen bei sich. Der Junge blieb vor dem Wagenstandsanzeiger stehen und studierte den bunten Plan.

"Du weißt doch, wo sie sitzt. Wie immer im hinteren Speisewagen", flüsterte Sin in sich hinein, während er ungeduldig auf seine Uhr schaute und mit der Bahnhofsuhr verglich.

Plötzlich füllte sich sie Anzeigentafel direkt über ihm mit Leben, das Signal an seiner Seite sprang auf Grün und der vor ihm liegende dunkle Tunnel wurde durch die drei hellen Augen des Zuges erleuchtet. Eine sanfte Luftwelle, die der Zug vor sich herschob, erreichte ihn und ließ ihn erschaudern. Der Zug verlangsamte und blieb mit dem hinteren Speisewagen direkt vor ihm und dem Jungen stehen.

Mittwoch Nacht

Kaaaaanipps. Sin lochte die Fahrkarte eines Reisenden und schaute nach draußen. Es war stockdunkel, und er konnte nur mühsam einige Häuser in der Ferne sehen, deren erleuchtete Fenster wie auf die Erde gefallene Sterne funkelten. Kaaaaanipps. Sin drängelte sich zwischen zwei auf dem Boden sitzenden Reisenden durch bis zum nächsten Wagen.

"Guten Abend, die Fahrscheine bitte". Sin drehte sich zur Seite und blickte direkt in das Lächeln des jungen Mädchens. Sie saß neben dem Jungen und hielt ihm erwartungsvoll und mit einem Strahlen im Gesicht die Fahrkarte hin.

"Herzlich willkommen im neuen Mittwochszug". Sin musste nun auch lächeln.

"Dieser Zug hält als nächstes in einer Woche. Nächsten Mittwoch erreichen wir Kairo. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt."

Diese Worte kamen ihm noch schwer über die Lippen, so ungewohnt klangen sie in seinen Ohren. Während er sprach, hörte ihm der Junge schon gar nicht mehr zu, sonderen zerrte eine kleine Trommel aus einer seiner unzähligen Taschen hervor und fing leise an zu spielen.

Kaaaaanipps. Sin schaute auf die Fahrkarte mit dem Aufdruck "Berlin-Sydney einfache Fahrt" und gab sie den beiden zurück.

Das Mädchen vertiefte sich wieder in eines ihrer unzähligen Bücher, die sie vor sich auf dem Tisch gestapelt hatte.

Als Sin in den nächsten Wagen ging, fiel sein Blick auf das Buch mit den meisten Eintragungen. Es trug den Titel: "How to manage a restaurant".


 
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Wie ich mein Leben anhielt, weil beim BND kein Platz mehr war


Ich werde überwacht. Nicht erst seit gestern, sondern mein ganzes Leben lang. Woher ich das weiß? Schaut euch doch mal um! Fällt euch nicht irgendetwas auf? Die Leute und die Autos und so. Die stehen einfach still. Nichts bewegt sich mehr. Selbst die Luft erscheint viel zu ruhig. So ruhig, dass selbst der Feinstaub keine Lust mehr hat, herumzuwirbeln.

Aber der Reihe nach. Am letzten Sonntag entschied ich mich, meine Freundin Franziska anzurufen und mit ihr über Gott und die Welt zu reden. Meistens sind wir so überarbeitet und eigentlich nicht mehr in der Lage, irgendwelche vernünftigen, tiefschürfenden Gespräche zu führen. Nicht nur, dass wir eigentlich nur Unsinn reden, nein, die Gespräche dauern meistens auch noch mehrere Stunden. Ich wählte also ihre Nummer auf meinem Handy, als ich auf einmal diese Stimme hörte:

"Verdammte Scheiße, er ruft sie an - hol das 120-Minuten-Band und prüf..."

Hier wurde die Männerstimme unterbrochen und es erklang das Freizeichen.

"Ja, hallo, hier ist Franziska."

  • "Ja, ich bins, hast Du eben diese Stimme gehört?"

"Nein, wieso, welche Stimme?"

  • "Ach, schon gut, nicht so wichtig."

In den kommenden Wochen kam es immer wieder zu merkwürdigen Vorkommnissen. Urplötzlich hörte ich auf einmal ganz deutlich ein Schnarchen. Franziska war es nicht, denn schließlich hatten wir uns gerade angeregt über neue Abdichtungsmaßnahmen bei Dächern unterhalten. Und außerdem war es ganz deutlich das Schnarchen eines Mannes, das aus meinem Telefon zu hören war. Ein anderes Mal hörte ich, nachdem ich den Fernseher angemacht und in einem Bericht der Tagesschau mehrmals lautstark das Wort "Al Kaida" fiel, hektisches Gemurmel, das es mir fast unmöglich machte, Franziska zu verstehen.

"Franziska," sagte ich, "wer ist das da bei mir ständig im Telefon?"

  • "Ich weiß es nicht - vielleicht sind es Techniker, die irgendetwas reparieren?"

Kaum hatte sie den Satz zuende gesprochen, ertönte auch schon ein weit entferntes Lachen, das aber sofort wieder verstummte.

Samstags ist bei mir Putz- und Einkaufstag. Erst wird geputzt und dann wird im Supermarkt eingekauft. So auch am letzten Samstag. Ich hatte meinen Einfkaufswagen schon fast gefüllt, als mich beim Regal mit den Erbseneintopf-Konserven plötzlich ein Mann ansprach. Sprechen war allerdings nicht das richtige Wort - er flüsterte vielmehr.

"Wir müssen uns unterhalten" flüsterte er mir ins Ohr. "Es ist wichtig. Wir haben ein Problem. Ein großes sogar."

Ich verstand kein Wort.

"Wir haben keinen Platz mehr."

  • "Platz wofür?" fragte ich ihn. "Na, für die Bänder!" Er schaute mich vorwurfsvoll an.

Ich verstand noch weniger. Welche Bänder? Wovon sprach dieser Mann? Warum steht ein Mann am Regal mit Erbseneintopfkonserven neben mir und flüstert mir orakelhaft merkwürdige Sachen ins Ohr?

"Wovon sprechen Sie? Welche Bänder?" fragte ich ihn.

Wortlos zeigte er mir einen Ausweis, auf dem nur drei Buchstaben standen: BND. Ganz klein darunter - so klein, dass man es kaum lesen konnte, war der Zusatz "Bundesnachrichtendienst - Personenüberwachung" zu erkennen.

"Und wir haben noch ein Problem" hörte ich ihn sagen. "Die Bänder sind auch alle. Wir zeichnen Ihr ganzes Leben auf Video auf. Und seit 1977 hören wir Ihre Telefongespräche ab. In dem Jahr hatten Sie das erste Mal telefoniert. Mit Ihrer Mutter. Als Dreijähriger. Es war aber ein ganz kurzes Gespräch. Eigentlich war auch nichts zu verstehen. Ihre ganzen Gespräche als kleines Kind passten auf ein 120-Minuten-Band. Aber so langsam bekommen wir ein Problem. Der Raum, in dem Ihre Bänder gelagert werden, ist voll. Bis unter die Decke. Wir haben damit - ehrlich gesagt - nicht gerechnet. Und jetzt ist nur noch Platz für ein 60-Minuten-Band - im letzten Regal, ganz hinten am Fenster."

Als er diesen Satz beendete, setzten sich die Puzzleteile der Merkwürdigkeiten in meinem Kopf zusammen.

"Und was heißt das jetzt? Was bedeutet es, wenn nur noch Platz für ein 60-Minuten-Band ist?" fragte ich ihn.

Er schaute mich an und antwortete mit einem ernsten Gesicht:

"Ganz einfach. Sie müssen Ihr Leben anhalten. Sie haben jetzt noch genau 58 Minuten-Zeit auf dem letzten Band. Dann würden wir Sie bitten, Ihr Leben anzuhalten. Sie müssen uns da verstehen. Ihnen ist nur ein Raum zugeordnet. Wenn wir Ihnen mehr Platz geben, dann müsste jemand anderes sofort sein Leben anhalten. Vielleicht eine wichtige Persönlichkeit!"

Ich schluckte. Mein Leben anhalten? Einfach so? Für immer? Der Mann schien meine Gedanken zu erraten.

"Nicht für immer" sagte er. "Nur bis 2010. Dann ist der Neubau des BND an der Chausseestraße in Mitte fertig und wir haben wieder genug Platz. Ich habe die neuen Bänder schon bestellt."

Er lächelte zufrieden über seine vorausschauende Planung und gab mir die Hand.

"Auf Wiedersehen. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben. Und beeilen Sie sich. Sie haben nur noch 55 Minuten Zeit. Suchen Sie sich eine Kasse, an der die Schlange nicht so lang ist. Nicht, dass Sie Ihr Leben hier im Supermarkt anhalten müssen!"

Er lachte und verschwand hinter dem Regal mit dem Geschirrspülmittel.

Und so kam es, dass ich mein Leben anhielt, weil beim BND kein Platz mehr war. Alles um mich herum steht still und ist ganz ruhig. Es hat aber auch sein Gutes. Keine Klingeltonwerbung im Supersparabo, die im Fernsehen läuft. Kein Autolärm mehr auf der Straße. Keine lästigen Anrufe. Aber auch kein Vogelgezwitscher, keine Anrufe von Freunden. Keine Musik von Mozart. Und das in diesem Jahr! Alles verschwunden.

Einmal im Jahr bekomme ich immerhin einen Anruf. Das einzige, was in meinem Leben nicht stehengeblieben ist. Der BND gratuliert mir zum Geburtstag und erzählt mir vom Planungsstand des Neubaus. Mit dem Bau soll in zwei Jahren begonnen werden. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Finanzierung verzögert sich allerdings die Fertigstellung auf 2012. Wenn es überhaupt dazu kommt. Die Große Koalition will den Umzug des BND nach Berlin - und damit natürlich auch den Neubau - stoppen.

Ich bin frustriert. Am besten erstmal einen Tee zur Beruhigung machen. Ach nein, Mist! Geht ja nicht - es kommt ja kein Wasser aus dem Hahn..


 
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