get shorties labor
 
Dienstag, 13. März 2007

Horst braucht Hilfe


Es war an einem Sonntag Abend kurz nach Zehn. Ich schaue aus meinem Schlafzimmerfenster, während ich meine Rollländen runterlasse. Da sehe ich ihn: Ein alter Mann auf dem Bürgersteig im Kampf mit sich, seinem Gleichgewichtssinn und der Erdanziehungskraft. Man könnte meinen, er tanzt: 2 vor, 1 nach links und 1 zurück. Ich beschließe ihm zu helfen. Nach kurzem Abschätzen der Gefahren gehe ich runter. Er ist noch nicht viel weiter gekommen. Ein Strauch erfreute ich gerade seiner Gesellschaft. Ich spreche ihn an. Ein Passant, der gerade sein Auto parkt, schaut sich die Situation an. Ich beziehe ihn in meine Überlegung, die Jungs mit der „grünen Minna“ zu holen mit ein. Er befürwortet. Doch unser Mann mit dem Gleichgewichtsproblem lehnt dies entschieden ab: „Keine Polizei!“ Dabei wäre das die einfachst Lösung. Die Polizeidienststelle ist nur 300m entfernt. Ich könnte hinlaufen. „Keine Polizei!“, erinnert er mich. Also los! Er hat mein Unterstützung. Ich werde ihn nach Hause bringen. Langsam aber stetig ging es voran. Mein linker Arm leistete ihm gute Hilfe bei der Aufgabe die Spur zu halten. Wir mussten uns erst einmal aufeinander einspielen. Nach 200m fing die Puste an auszugehen. Der Tross hielt. Ein schweres Schnauben setzte ein. Ich fragte wie ein promovierter Anästhesist nach Vorerkrankungen. Nach circa drei Minuten ging es weiter. Der nächste Halt war Ecke Neuffenstraße – Rosenstraße an einem Elektrokasten. Ich fragte nach der Straße, in der er wohnte. „Ladentalstraße! In der Nähe der Albstraße!“ Die Albstraße kannte ich, aber Ladentalstraße ? Ich suchte nach dieser, während er verschnaufte. Nachdem wir die Hauptstraße passiert hatten, fragten wir ein älteres Paar nach dem Weg. Der hilfsbereite Herr muss gedacht haben, ich wäre sein Enkel. Er berichtigte mich, sagte mir, das es die Gnadentalstraße sei, zeigte uns die Richtung, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Lass dich mal gut nach Hause bringen!“ Ein paar Schritte später sah ich, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Horst kam auf einmal alles noch bekannter vor. Nun übernahm er wieder die Streckenführung, während ich mich darum kümmerte, dass wir dies auf je zwei Beinen taten. Ich fing mit ihm ein Gespräch an: „Wie heißen Sie?“ „Lube! Lube!“ „Wie bitte?“ „Lube ist mein Name! Horst Lube! Geboren in Danzig, Ostpreußen.“ Durch unser Gespräch wurde jetzt einiges klarer: Horst Lube, 73 Jahre alt, geboren in Danzig hatte gerade einen kleinen Umtrunk hinter sich. Auf die Frage, wie er denn in die missliche Lager und den Kontrollverlust über seinen Körper gekommen ist, entgegnete er:“ Ein Bier, ein Schnaps. Ein Bier, ein Schnaps. Ein Bier, ein Schnaps.“ Das zehrt. Er war mir dankbar: „Du wirst 100 Jahre alt!“ Ich dachte mir: Preußen müssen zusammenhalten! 200 Meter vor seiner Haustür verweigerten die Beine ihren Dienst. Wir legten eine Verschnaufpause ein. Er setzte sich auf den Bürgersteig. Ich stütze seinen Rücken, damit er nicht rückwärts in die Hecke kullerte. Jetzt bloß keine Kolateralschäden an meinem Patienten! Es dauerte wieder ein paar Minuten. Beim gemeinsamen Aufstehen griff ich ihm im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme. Jetzt stand, besser gesagt, wankte er wieder. Kurz vor seinem Haus wechselte er die Sprache. Nun redete er nur noch auf polnisch. Ich verstand nur noch Bruchstücke. Über die Straße zum anderen Bürgersteig schafften wir es noch. Horst steuerte auf seinen Block zu: Gnadentalstraße 12 ! Wir waren fast am Ziel. Dann war der Akku schon wieder leer. Kurze Zeit später erreichten wir den Hauseingang. Nachdem wir die Hälfte der Nachbarn durch unkontrolliertes Betätigen der Klingeln über unser Ankommen informiert hatten, rührte sich noch immer nichts im Haus. Keiner öffnete! Keiner beschwerte sich! Waren sie das schon gewohnt? Dann ging das Fenster neben dem Hauseingang auf: „Horst?“, sagte ein alte Frau mit grauen Haaren. Ja, es war Horst. Erschöpft saß er auf der untersten Stufe des Eingangs und lehnte sich an die Tür. Als seine Frau kam und die Tür öffnete, saß er immer noch. Dann macht er ein paar Bewegungen Richtung Eingang. Die Tür stand weit offen. Doch der Körper gehorchte dem benebelten Geist nicht mehr. Er nahm auf seinen vier Buchstaben Platz. Rien ne va plu! Nichts geht mehr ! Seine Frau schaute sich ihn mit einem musternden Blick an. Mit einem herzhaften Griff in sein noch vorhandenes, graues Haupthaar prüfte sie seine Sinne. Diese waren auf ein Minimum herunter gefahren. In Gedanken wird sie zu ihm gesagt haben: „Na da hast du dich ja wieder schön besoffen!“ Um ihn „anzufeuern“ aufzustehen, piekste sie ihn zweimal mit den Pantoffeln ins Bein. Keine Besserung am Patienten feststellbar. Zwar konnte er nicht mehr laufen, aber sonst ging´s ihm den Umständen entsprechend gut. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich ihn nicht bis nach Hause geschleppt hatte, nur damit sie mit ihm Fußball spielen konnte. Sie stellte klar: „Ich trage dich nicht rein!“ Das war ihr auch nicht zu zumuten. „Ich mag dich nicht!“, sagte Frau Lube ehrlich. Dann schaute ich mir die Situation weiter an. Ich war im Inbegriff zu gehen. Die Frau bedankte sich mit einem Handschlag und „Djinkujem!“ „Prosche!- Bitte“ entgegnete ich ihr. Doch ich sah meine Tat noch nicht als vollendet an. Er lag ja noch im Hauseingang. Also hieß es: Aufrichten an der Tür, ran ans Treppengeländer und los! Die Treppe nahmen wir gemeinsam. Doch dann versagten die Beine abermals. Ich setzte ihn langsam ab. Doch nun lag er in einer solch günstigen Position, dass er locker und leicht auf allen Vieren in die Wohnung hätte robben konnte. Jetzt kenne ich den wahren Grund, warum die alten Menschen so gerne parterre wohnen. Darauf hin verließ ich die beiden. Ich verabschiedete mich mit einem akzentfreien „Dowidsenja!“ – Auf Wiedersehen! Einsatzende mit Rückkehr zur Einsatzstelle: 22:40. Ob er es allein nach Hause geschafft hätte? Vielleicht! – Aber nicht in der Zeit! Es heißt: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Das es so schnell passieren sollte, hätte ich nicht gedacht. Zwei Tage später parkte ich meine Auto in der Neuffenstraße. Es war kurz nach 21 Uhr. Wer kommt da unter dem Licht einer Laterne zum Vorschein? Mein Freund Horst. Wieder nicht ganz nüchtern. Er erkannte mich nicht. Ist er etwa Gelegenheitstrinker? Es wäre schade! Er könnte bestimmt ein guter Mensch sein. Kommen wir nun zur rechtlichen Seiten: Wer Hilfe gibt, geht auch Pflichten ein. Wäre Horst mir aus dem Arm geglitten und unglücklich gefallen, hätte ich ein blutendes Problem gehabt. Noch größer wäre das Übel, wenn seine Brieftasche gefallen wäre. Und zwar aus seiner Tasche auf dem Weg nach Hause, bevor wir uns getroffen hätten. Denn wenn er sagt, sie ist weg und ich hätte sie, müsste er es mir beweisen, doch würde sich die Situation gegen den Helfenden drehen und er würde zum Sündenbock für die Fehltritte des Promillefreundes. Hätte ich, wie am Anfang überlegt, den grünen, staatlich monopolisierten Hol- und Bringdienst gerufen, dann wäre ich gut aus dem Schneider. Ich hätte meine Bürgerpflicht zu helfen erfüllt und könnte nach fünf Minuten wieder seelenruhig auf meiner Couch liegen. Doch nichts ist umsonst im Staate Deutschland! Die Rechnung kommt. Per Post. Und wenn sie dir noch ein gekacheltes Zimmer anbieten, das ganz und gar nicht wie dein Schlafzimmer aussieht, wird noch mal eine Extra-Pauschale berechnet. Fazit: Wenn einer gar nicht mehr kann, die grünen Jungs anrufen und gut. Wer austrinkt, muss auch die Zeche zahlen.

Kornwestheim, 26.03.2006


 
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