get shorties labor
 

REFLEXION


Kurz vor der ersten Straßenbahn, noch vor Sonnenaufgang, im lieblos weißen Schein einer Straßenlaterne, an einer notdürftig mit Teer geflickten Straße, deren Fahrspur filetiert ist vom Gleis der Tram und die in ihrer Chronik mehr als tausend Beläge der Erneuerung über sich ergehen lassen musste, auf einem Gehweg, gefügt aus mehr als hundert Jahre altem Kopfsteinpflaster, unter der hölzernen Arkade eines alten Hauses, einer Kaschemme, deren geschlossene Eichentüre den heraus dringenden Lärm darin residierender Zecher ins Erträgliche dämpft, unter dem ausgebleichten Schild einer Haltestelle, steht ein etwa fünfzigjähriger Mann, sinnierend und auf die erste Bahn wartend um heimzufahren, sich für den Rest dieses Tags vom Mahlwerk seines inneren Tristseins zermalmen zu lassen, gefangen in der Spirale der Zeit, weil in Wahrheit nur noch auf eine andere Straßenbahn wartend, die unvermeidlich letzte, welche Thanatos zum Schaffner haben und der ihn, an welcher Haltestelle auch immer, eines Tages abholen wird und dieser Gedanke setzt das Gift frei, welches ihm dieses brodelnde Gefühl am ganzen Leib verursacht, als ramme ihm ein monströses Insekt den Rüssel in seinen Bauch und sauge damit die Innereien, sein Fleisch und das Gehirn heraus, entleere ihn völlig, nur die Haut zurücklassend, einen epidermalen Hohlkörper, der jedoch weiterhin Befehle, Spott und Beleidigungen entgegennimmt und selbst nur Sinnloses von sich gibt, sinnlos weil es letztendlich nur heiße Luft ist, die aus seinem Rachen kommt, auch wenn sie sich vibrierend zu Worten aufschwingt, denn er weiß, er hat der Welt nichts zu sagen, hat ihr nie etwas zu sagen gehabt, ist er doch ex utero ungefragt in sie geschleudert worden, er, der er nicht zu Höherem bestimmt ist, nicht am Rad der Geschichte drehen und deshalb genauso unbeachtet aus diesem Leben treten wird, dabei nur die Frage des Wann von Relevanz sein könnte, so ihn ein Wann auch nur annährend interessierte, zumindest jetzt nicht mehr, wo doch alles vorbei war, da man ihn zum Quartalsende entlassen wird und er in seinem Alter niemals mehr beruflich Fuß fassen und in der Folge nicht mehr den Schutzpflichten eines Familienvaters nachzukommen fähig sein wird, wobei dies ebenfalls nicht mehr bedeutsam ist, denn sie hat es ihm ja angedroht, die Frau, hat ihn gewarnt, dass sie ihn mit dem Kind verlassen wird, so er ihr auf Dauer zum Leben nicht mehr zu bieten hat, denn schon einmal wollte sie ihn verlassen und nur sein Flehen und die Drohung, sich ihretwegen zu töten und um des Kindes willen, bitte bitte bleib doch um des Kindes willen, ließ sie letztendlich tatsächlich bleiben, ein resigniertes Versprechen das an einem Rosshaar hing und ihn täglich Überstunden reißen ließ, um ihr ein gefälliges Leben zu verschaffen, ist sie doch, ja sie, und auch das Kind, natürlich, doch vor allem sie, sein Ein und Alles, ohne die er nicht existieren kann, so ihr etwas zustieße oder sie ihn verließe und genau das wird sie nun tun, nun, da er mit leeren Händen heimkehrt, blank, verbraucht, nutzlos, ja, sie wird ihn, den Versager, nun endgültig verlassen und so steht er da und in seinem Kopf tobt eine Schlacht, droht ihm den Schädel zu sprengen und der Kampf wütet fürchterlich und Tränen strömen über seine Wangen, benetzen seine Jacke und tränken sein Hemd und ein Schrei entfährt ihm, er brüllt nun alles aus sich heraus, so er Atemnot bekommt, darauf er zu taumeln beginnt und als ihn der Schwindel beinahe von den Füßen reißt, aber dennoch dafür sorgt dass sein Gemüt nun wieder etwas zur Ruhe kommt, weiß er nun, was zu tun ist, nun, da die Straßenbahn einfährt, nun, da die Vergangenheit das Jetzt eingeholt hat, fühlt er sich plötzlich befreit vom Joch alles Irdischen, sieht Thanatos am Steuer der Tram sitzen, ihm wie einem alten Freund zuwinken und nun lächelt er, nein, er jauchzt euphorisch und so lässt er sich fallen und er stürzt auf die Gleise und ein Quietschen und Kreischen ertönt und entsetzte Schreie der Passanten gellen und ein Aufruhr entsteht und Menschen eilen zur Hilfe herbei, doch keiner kann ihm mehr helfen, geschäftiger Stillstand, man redet auf ihn ein, er sieht es, doch hört er es nicht mehr.


 
  
 
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