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Leichter leben ohne Harndrang


Neulich musste ich vom Vatertag bis zum Muttertag zum „Deutschen Baumeistertag“ nach Baden-Baden. Sozusagen als Entspannungsmaßnahme entschied ich mich diesmal für eine Zugfahrt. Im digitalen Zeitalter geht man ja nicht mehr so einfach ins Reisebüro um die Ecke, sondern bucht bequem im Internet. Ich glaube, ich hatte noch nie einen so gut ausgestatteten Platz von einem Reisebüro-Mitarbeiter ausgesucht bekommen: Handy-Empfang, Video-Bildschirm, extrem viel Beinfreiheit. Da hat sich das Internet mal echt viel Mühe gegeben.

Ich fahre also mit einem Frühlings-Special für supergünstige 39 € von Berlin nach Baden-Baden. Meine selbst ausgedruckte Fahrkarte weist neuerdings im oberen rechten Teil ein ca. 5 x 5 cm großes, wie Tetris aussehendes Quadrat als mein sogenanntes „Erkennungsmerkmal“ auf. So eine Art digitaler Leberfleck, damit auch ja nicht ein anderer Schmarotzer sich für mich ausgibt, wenn er mir die Fahrkarte klaut!

Leider habe ich erst nach Ausdruck meiner Fahrkarte herausgefunden, dass es für die Rückfahrt keinerlei Frühlings-Specials mehr gibt. Vielleicht irgendwann einmal. Dann aber ein Herbst-Special, WM-Special oder ein Berlin-Hauptbahnhof-Eröffnung-am-28.Mai-sieht-trotzdem-unfertig-aus-und-Weichen-funktionieren-auch-noch-nicht-aber-vom-Bahnhof-Zoo-fahren-geht-auch-nicht-mehr-Special!

Nun zahle ich für die Rückfahrt dreimal so viel, kann aber jeden Zug nehmen, den ich ich will, z. B. einen, der nachts um Mitternacht losfährt und morgens um 9:00 nach einer doppelt so langen Fahrt in Berlin ankommt. Wahrscheinlich wartet der Zug zwischendurch drei Stunden im Bahnhof „Friedrichstraße“ auf andere S-Bahnen.

Ich stehe auf dem Bahnsteig. Der Bahnsteig-Stadion-Sprecher quäkt aus dem Lautsprecher, dass der Zug in umgekehrter Wagenreihenfolge einfahren wird. Sofort setzt eine Völkerwanderung ein. Alle Reisenden von Abschnitt D und E hasten zu Abschnitt A und B und andersherum. Kinder schreien und kleckern Eis. Mütter beruhigen und wischen die Münder der Kinder ab. Väter schleppen schweißüberströmt die Koffer. Irgendwo in Abschnitt C kommt es zum Menschenknäul mit sich knubbelnden und zahlreich verhakelnden Koffern.

In meinem Wagen sitzt neben mir eine Gruppe von Leuten mit Verhältnis: 1 Person zu drei Koffern und 1 Tasche und 2 Tüten. Ihre Sachen stehen so ungünstig neben den Sitzen, dass ich fast über sie falle, während ich nach meinem Sitz schaue. Auch ein Schaffner bittet darum, die Taschen etwas zur Seite zu stellen.

Der Zugchef begrüßt uns über die knisternde Lautsprecheranlage. Er bietet uns großzügig an, ihn jederzeit ansprechen zu dürfen. Ich frage mich, wie das gehen soll, wenn man nicht weiß, welcher von den vielen Schaffnern der Zugchef ist. Bis zum Ende der Bahnfahrt werde ich es auch nicht herausfinden. Und überhaupt: Was ist der Unterschied zwischen Schaffner und Zugchef? Kann der ersterer Fahrkarten abknipsen, während der Zugchef auch noch Anschlussverbindungen aufsagen darf?

Später meldet sich der Zugführer per Durchsage. Er bittet darum, dass das Zugpersonal ihn ansprechen soll. Einen Grund nennt er nicht. Vielleicht hat er Hunger oder möchte eine Nackenmassage. Später sieht man gar kein Zugpersonal mehr. Vermutlich werden illegale Pokerrunden in denjenigen Abteilen veranstaltet, die nur für das Personal da sind.

Ab und zu werden die Durchsage-Lautsprecher für musikalische Experimente missbraucht. In regelmäßigen Abständen werden drei Töne abgespielt. Ihre Bedeutung hat sich mir bisher nicht erschlossen. Bei der S-Bahn bedeuten diese Töne, dass gleich die Türen geschlossen werden und der Zug losfährt. Bei einem mit 250 km/h verdammt schnell fahrenden ICE kann ich mir das eher nicht vorstellen. In dem Film „Die unheimliche Begegnung mit der dritten Art“ wurde mit Hilfe solcher Töne mit den Außerirdischen kommuniziert.

In Göttingen informiert uns der von mir langsam für sympathisch befundene, aber immer noch nicht visuell identifizierte Zugchef, dass der sogenannte „mobile Eisladen“ zugestiegen ist. Das Wort „mobil“ fasziniert mich. Ich fühle mich gleich um 30 Jahre gealtert und sehe mich vor meinem geistigen Auge in einem Altersheim, von einem mobilen Pflegedienst und „Essen auf Rädern“ versorgt.

Zwanzig Minuten später entpuppt sich der mobile Eisladen tatsächlich als „Essen auf Rädern“ – nur „mit ohne“ Räder: eine kleine Studentin darf eine Kühlbox aus dem Karstadt-Gartencenter, auf dem 4 Eissorten-Aufkleber angebracht sind, durch die Wagen schleppen. Sie sieht ziemlich mitgenommen aus. Ich kaufe aus Mitleid ein Magnum für 1,90 €. Zehn Cent Trinkgeld erscheinen mir zu knauserig. Dann lieber gar kein Trinkgeld geben.

Ein paar Reihen vor mir sitzt eine junge Mutter mit einem Sohn im Kindergarten-Alter. Er turnt auf den Sitzen herum und kräht zu der Eisverkäuferin aus zehn Metern Entfernung „Hallo! Hier her!“. Ich grinse ihn an und stecke die Zunge heraus. Anscheinend scheint ihn das zu verschrecken. Er lässt sich auf den Sitz fallen und erzählt es aufgeregt seiner Mutter. Sofort dreht sie sich um und linst durch den Spalt zwischen den Sitzen. Ich komme mir vor wie ein Kinderschänder, dessen Gesicht man mit einem schwarzen Balken über den Augen auf Seite 1 einer Boulevardzeitung unkenntlich gemacht hat. Später steigen drei Polizisten in den Zug. Ob die Mutter sie verständigt hat? Ich sehe mich vor meinem geistigen Auge, wie ich von den Polizisten abgeführt werde.

Auch der Kaffee wird als „Essen auf Rädern“ serviert. Diesmal jedoch wirklich auf Rädern: Wiederum eine kleine Studentin – diesmal eine andere, eine ganze Uni scheint mir hier unterwegs zu sein - verkauft diverse Getränke und Snacks aus Kisten, die sie auf einer Art Sackkarre im Zug vor sich her schiebt. Als sie weitergeht, sehe ich die Speisekarte, die auf die Rückseite ihres T-Shirts gedruckt ist. Leider erkennt man dies erst, wenn man bereits etwas gekauft hat. Vielleicht sollte ich Herrn Mehdorn oder besser gleich dem Nachfolger einen Brief schreiben und ihn bitten, in Zukunft die Speisekarte vorne auf das T-Shirt drucken zu lassen.

Gibt es eigentlich eine Untersuchung, wie oft Reisende, die alleine reisen, bestohlen werden, wenn sie die Toilette aufsuchen und ihr Gepäck alleine am Platz lassen müssen? Ich merke, dass ich eine Flasche Wasser und einen großen Kaffee getrunken habe und dringenst auf die Toilette muss. Ich stürme los, in der Hoffnung, dass potentielle Diebe wenigstens den leeren, ausgeräumten Koffer zurücklassen.

Als ich das WC verlasse, fällt mein Blick auf ein Plakat, das gegenüber der WC-Tür angebracht ist und für ein Medikament wirbt: „Leichter leben ohne Harndrang“. Wie wahr. Oder anders herum wird ein Schuh draus: „Ausgeraubt werden mit Harndrang“.

Der Zugchef sagt an, dass wir demnächst Baden-Baden erreichen. Erleichtert hiefe ich meine noch vollzählig vorhandenen Utensilien von der Gepäckablage. Ich hoffe, den Zugchef vor dem Aussteigen noch einmal kennenlernen zu dürfen. Ihm vielleicht die Hand zu schütteln. Leider taucht er nicht auf. Als ich aussteige, komme ich zu der Erkenntnis, dass es ihn „in echt“ gar nicht gibt und er nur eine neue Erfindung von google ist. Nach „google earth“ jetzt „google zugchef“ oder so. Da hat sich das Internet mal wieder echt viel Mühe gegeben!


 
  
 
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