ingittar - 18. Juni 2004 um 13:17:11 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 1 (Sa, 12. Juni) „Liebes Tagebuch. Geil! Das Eröffnungsspiel der EM habe ich in einer portugiesischen Kneipe in Stuttgart gesehen - Portugal gegen Griechenland. Als ich pünktlich zu Spielbeginn im „Lisboa“ eintraf, war außer dem Wirt und seinem Kumpel niemand drin. Aber wenn man einen üblichen roten Landwein bestellt, wie ihn jeder Portugiese trinkt, und wenn man dann noch sagt, dass man den Portugiesen die Daumen drückt, dann wird aus dem Viertele sofort ein Drittele. Die fachmännische Diskussion aber, warum Rui Costa statt Deco und nicht der junge Christiano Ronaldo von Manchester United von Anfang an spielt, dauert genau sechs Minuten. Da haben die Griechen nämlich das 1:0 geschossen. Besser gesagt, Karagounis, der Römer. Ihn nennen die Griechen „den Römer, weil er bei Lazio Rom spielt. Deshalb ist ihr Trainer, Otto Rehhagel, auch nicht der Otto, der Deutsche, denn er trainiert ja Griechenland. Nach dieser Logik wäre allenfalls bei uns Deutschen „Otto, der Grieche“. Aber wen interessiert das überhaupt? Inzwischen sind fünf Pickelgesichter eingetroffen und trinken Cola. Kurz darauf betritt ein sonnenbankgebräunter Stuttgarter in die Kneipe getänzelt, der so spricht und so tut als wäre er lieber mit Vertretern des eigenen Geschlechts zusammen. Er wackelt vor dem Fernseher doof herum, schnappt sich einen Stuhl und flötet nasal und in einem für diese Gruppe klischeehaftem Gestus, dass Portugal eh keine Chance habe. Dann setzt er sich ins Restaurant, wo auch ein Fernseher läuft, wartet auf seine Männergruppe und nervt die ganze Zeit mit lauten anti-portugiesischen Kommentaren. Besser gesagt: lauten pessimistischen Kommentaren, denn der Portugies‘ an sich ist melancholisch und pessimistisch, wie uns Kommentator Reinhold Beckmann kenntnisreich unterrichtet. Und wenn er mal nicht pessimistisch und melancholisch ist, dann fügt er sich Fado singend in sein Schicksal. Wusste ich bis jetzt nicht, weiß ich jetzt, dank Reinhold. Und irgendwie muss er recht haben, der Reinhold. Denn die Portugiesen schießen in Halbzeit eins noch genau zwei Mal in Richtung Tor. Da nutzt ihnen auch Luis Figo nichts, denn Otto, der Große, hat den einstmals lässigen griechischen Abwehrspielern innerhalb von drei Jahren humorlose deutsche Tugenden eingeimpft: immer feste druff uff den Gegenspieler. Dann kommt keiner an ihnen vorbei. Zur Pause ist der portugiesische Kneipenbesitzer aus einem Dorf nördlich von Porto an der Grenze zum galizischen Spanien trotzdem noch nicht niedergeschlagen. In seinem portugiesischen Nationaltrikot macht er mir die besten und die meisten gegrillten Sardinen mit Weißbrot und lächelt mir optimistisch und geheimbündlerisch zu.. Wir wissen beide, dass Trainer Scolari auf uns hören wird und in der Pause Deco für Rui Costa ins Mittelfeld und Stürmer Ronaldo einwechselt. Die zweite Halbzeit beginnt – und wir hatten recht: Deco spielt statt Rui Costa und Ronaldo wird jetzt die beiden Tore zum 2:1-Sieg schießen! Die Vorfreude darüber dauert wieder nur sechs Minuten, dann rennt Ronaldo einen griechischen Spieler im portugiesischen Strafraum über den Haufen. Elfmeter: 2:0 für die Griechen. Reinhold Beckmann ist außer sich. Jetzt hat Griechenland schon doppelt so viele Tore geschossen wie in allen EM- und WM-Turnieren in ihrer Geschichte zuvor. Es kann dafür nur einen Grund geben: Otto Rehhagel. In der Folgezeit rennen die Portugiesen planlos auf das griechische Tor zu (der VfB sollte vielleicht einen griechischen Innenverteidiger kaufen), doch nichts will klappen. Jetzt singt Reinhold Beckmann den Fado. 40 Minuten lang bis zum Ende des Spiels. Es ist der längste Fado, der je von einem Deutschen in Deutsch gesungen wurde. Der Stimmung nach zu urteilen, die Beckmann am frühen Samstag Abend in der portugiesischen Kneipe verbreitet, dürfte sich nach dem Schlusspfiff alle Portugiesen kollektiv in den Atlantik stürzen. Es kommt aber nur deshalb nicht dazu, weil der Portugiese gar nicht so ist, wie der Beckmann meint. Erstens schießt Ronaldo doch noch ein Tor (zwar in der Nachspielzeit, aber immerhin, er kann es doch!). Zweitens spielen die Portugiesen noch gegen Spanien und Russland und die beiden werden dabei so dermaßen vermöbeln, dass sie es bereuen, bei dieser EM dabei gewesen zu sein. Und drittens dauert die Traurigkeit der Portugiesen genau einen Portwein lang. Der ist, trauert man noch ein bisschen mit, so voll gefüllt, dass das Glas schon beim Angucken überschwappt. Ein Lächeln, ein kurzes Prost, ein Schluck – und weg ist die 1:2-Niederlage des Eröffnungsspiels und mit ihr der ganze Pessimismus, der die Portugiesen scheinbar so melancholisch macht. Bis zum nächsten Mal im „Lisboa“. P.S.: Aus Otto Rehhagel machte die Presse dank des Überraschungserfolgs anderntags „Otto, den Großen“ und titelte: „Rehakles erobert Portugal“. Spiel 2 des ersten Tages ist schnell erzählt: Ich habe es nämlich nicht gesehen. Aber glaubt man der Presse, dann konnten die Spanier trotz des 1:0-Sieges gegen Russland „keine Akzente setzen“. Ich meine: Das muss man sowieso erst mal können, Akzente setzen. Ich stelle mir das ganz schön schwierig vor. Ich hab’s auch mal probiert, mit einem „Accent t’aigu“. Das hat aber niemand mitbekommen. Auch nicht, als ich einen „Accent grave“ und einen „Accent circonflex“ hinterher schob. Später habe ich es noch mit meinem schwäbischen Akzent probiert. Da haben alle nur gelacht. Also hab‘ ich gelassen und kann jetzt die Spanier durchaus verstehen: Akzente zu setzen, das ist wirklich sehr, sehr schwer. Das macht ihnen aber offenbar nichts aus, denn die Spanier haben ja „Valeron, den Galicier“. Der hat im Spiel gegen Russland laut dpa „eines der schnellsten Jokertore in der Geschichte von Fußball-Europameisterschaften geschossen“. W-A-H-N-S-I-N-N!! Tja, wenn sie schon keine Akzente setzen, Jokertore schießen, das können sie, die Spanier! Da nutzte es ihrem Gegner auch nichts, dass sich Aleinichev nach dem Rückstand „zum Regisseur der Russen aufschwang“. Ich kann nicht wissen, wo der gute Aleinichev danach landete, denn ich habe das Spiel der „Seleccion“ gegen die „Sbornaja“ (auch dpa) ja nicht gesehen. Bis Morgännn!!! |
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