ingittar - 18. Juni 2004 um 13:18:35 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 2 (Sonntag, 13.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Es ist Sonntag, 18 Uhr, und es regnet. Egal. Ich will wissen, ob man im Ludwigsburger „Brückenhaus“ EM-Fußball gucken kann. Das „Brückenhaus“, es liegt direkt am Neckar, ist, seit ich denken kann, eine Konstante für den immer noch real existierenden schwäbischen WG-Bewohner aus dem selbst renovierten Landhaus. Ich radle also den Neckar entlang von Remseck nach Hoheneck und komme ziemlich durchnässt an. Noch tropfend und außer Atem lasse ich mich zum „Brückenhaus-EM-Tipp“ hinreißen – Einsatz drei Euro. Die Endspielpaarung und das Ergebnis müssen stimmen, dann gibt’s als Gewinn den kompletten Einsatz aller Tipper plus ‚ne Flasche Sekt. Ich glaube den Leuten dort einfach mal, dass sie sich später noch an mich und ihre Worte erinnern und tippe Deutschland – Frankreich 0:2. Als Name hinter meinem Tipp steht „Wurschtsalat“, denn als ich sagen sollte, wie mein Tipp lautet, antwortete ich: „Habt Ihr auch Wurschtsalat?“ Ich bezahle also die drei Euro Tippeinsatz, bestelle den Wurschtsalat sowie ein Radler und setze mich unter das überdachte Fußballkino in Holzgestellform, das die Leute vom „Brückenhaus“ in wahrscheinlich vierstündiger Dauerhämmerarbeit in den Biergarten gestellt haben. Setzen muss man sich in ausrangierte Kinostuhlreihen aus Plastik. Der Sat-Receiver ist in die Wand genagelt worden. Kein Wunder, dass der Chef die Gäste einzeln begrüßen muss – es spielt die Schweiz gegen Kroatien. Und anlässlich des Grottenkicks fragt man sich, warum diese beiden Mannschaften überhaupt an einer EM teilnehmen dürfen. Die Kroaten foulen, schinden Freistöße, protestieren und sind aggressiv, bringen aber auch gegen zehn Schweizer nix zustande. Den Kommentator Kerner schert das nicht, er ärgert sich lediglich darüber, dass sich die Kraoten weiterhin weigern, ihre Nachnamen mit Vokalen auszufüllen – und zeigt deshalb während des Spiels Mitgefühl mit der „kroatischen Vokalarmut“. Die Schweizer kämpfen unterdessen wie seit Wilhelm Tell nicht mehr gesehen um ihr Leben und verteidigen das 0:0 wie ein renitentes gallisches Dorf ihre demokratische Unabhängigkeit. Unvergessen die Rettungstat von Torwart Stiel, der einem Ball unterschätzt, ihm hinterher rennen muss und ihn kurz vor der Linie und liegend mit dem Kopf stoppt. Es bleibt beim 0:0, was die Presse später zu dieser Überschrift verleitet: „Chappi und Co. klauen Punkt“. Wenn das die Schweizer lesen. Die fühlen sich wahrscheinlich als Rechtsbrecher und Hundefutterdiebe verunglimpft und werden prompt das nächste Anti-UN-EU-Referendum starten. 20.45 Uhr, das zweite Spiel des Abends beginnt. Frankreich gegen England. Endlich richtiger Fußball, endlich Emotion, endlich EM. Das weiß auch der Wirt und verteilt seinen Gästen selbst abgefülltes Popcorn. Inzwischen sind auch mehr Besucher gekommen. Die meisten sympathisieren mit den Franzosen, die auch wirklich ein feines Bällchen spielen – Pires angelt an der Auslinie einen 50-Meter-Pass von Zidane in Bedrängnis mit dem Fuß wie der Frosch sein Mittagessen. Gegen eine Mannschaft, die in der Abwehr nicht so gnadenlos wie die Engländer spielten, würden die Franzosen nach 20 Minuten bestimmt schon 2:0 führen. Doch es kommt ganz anders. Beckham zirkelt nach 38 Minuten einen Freistoß in den Strafraum, Lampard wuchtet die Silberkugel ins französische Tor – und alle Zuschauer im „Brückenhaus“ wundern sich nur über das neue Nackentattoo von Beckham. Es sieht aus wie ein Reichsadler und wir fragen uns, ob Beckham auch weiß, was ihm da in den Nacken tätowiert wurde. Und warum er sich über die Hakenkreuzträger wundert, die ihn seitdem ständig grüßen. Zweite Halbzeit. Die hoch gelobten Franzosen haben keinen Plan, wie sie den Engländern den Ausgleich einschenken sollen. Bis Beckham seine Verunsicherung über das Nichtwissen seines neuen Tattoos mit einem verschossenen Elfmeter dokumentiert. Und als der französische Torwart Barthez eine Minute später auch noch den Schuss eines Engländers mit der Nase abwehrt, schallt den Franzosen pure englische Häme entgegen. Doch irgendwie hat man das Gefühl, dass sich die martialische Überheblichkeit der englischen Fans in diesem Spiel noch umkehren wird. Und wie bestellt, kommt in der 90. Minute Zinedine Zidane, Fußballgott. „Zizou“ genügt nämlich die Nachspielzeit, um England zu erledigen. Ein Freistoß, ein Elfer und dann haben auch die Briten ihr Barcelona (remember Manchester United gegen Bayern München, das Champions-League-Finale 1999?). Und plötzlich steht es 2:1 für Frankreich. Die Zuschauer sind geschockt, fassungslos. Aber noch fassungsloser über das, was er gesehen hat, ist der Co-Kommentator des ZDF: „Jagüttääääh, das Spiel waaarrrr an Dramatik nicht zu überbieten“, versucht Franz Beckenbauer ein sachliches Urteil zu fällen, das er auch in dieser Wortgenauigkeit in den darauf folgenden fünf Minuten mindestens drei Mal wiederholt, bis ihm der bahnbrechendste Satz des Abend, ja der Fußballkommentatorengeschichte glückt: „Jagüttääähh, der Fußball, der kann sich zu dieser Leistung nur selbst gratulieren, hähähä. Das Spiel waaaarrrr an Dramatik nicht zu überbieten“. Noch weniger zu überbieten auch Franzens folgender Spruch über den 18jährigen englischen Jungstar Wayne Rooney: „Ja, der Rrrrooooney, der erinnert mich schon ein bisserl an den jungen Schappa-Pa-Paaaaaa“. Und als Wolf-Dieter „Poschi“ Poschmann seinen Co-Franz zu allem Überfluss bat, den genialen Freistoß des Fußballgottes zu analysieren, da war’s um den Größten aller Großen in allen Mediendisziplinen geschehen: „Jagütttääää, bei Standardpräs äääh Standpräz, aääh, jagüttääääh, da ist der Zidaaaane natürlich einer der besten in der Welt, hähä“. Die Plastiksessel im „Brückenhaus“ drohten jetzt unter den pöbelnden und schreiend lachenden Halbautonomen zu bersten und mir wird eines klar an diesem Abend: Das ZDF bestreitet das Honorar des Co-Kommentators Franz Beckenbauer offenbar aus seinem Comedy-Etat. Kopfschüttelnd radle ich nach Hause und erkundige ich mich im Internet über die letzten Schlagzeilen des Fußballtages: „Rudi gibt Rätsel auf“ und: „Weiß Holland über Völlers Taktik Bescheid?“ Und ich weiß, dass das einzig wahre Fußballspiel erst am Dienstag steigt. Es wird übertragen vom ZDF, deshalb kann es wieder nur ein Spiel werden, das an Dramatik wahrscheinlich nicht zu überbieten sein wird. Bis Morgännn!!! |
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