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Jagutttäääh – Mein EM-Tagebuch


von stumpy-joe

Tag 3 (Montag, 14.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Es ist Montag, 17.15 Uhr. Im Radio sagen sie, in einer dreiviertel Stunde beginne das Spiel Italien gegen Dänemark. Oh Schreck! Ich sitze noch an der Arbeit und weiß noch gar nicht, wo ich das Spiel gleich anschauen soll. Ich entscheide mich für Ludwigsburg. Da gibt es ja genügend Pizzerien und Eisdielen, in denen definitiv die Glotze läuft. Ich wähle eine Pizzeria direkt an der Straße, wo nach einem italienischen Sieg todsicher der Autokorso starten wird. Es kann nur das „O Sole Mio“ sein, seit Jahrhunderten die zuverlässigste Futterstation für Ludwigsburger Nachtschwärmer, Mittagspausenschüler und andere Schnellesser. Um so perplexer macht die Szenerie: im Mini-Fernseher des „O Sole Mio“ läuft n-tv mit Börsenband am Bildschirmrand und ein langhaariger Jungtyp schaufelt sich auf einem Barhocker sitzend eine belegte Teigscheibe zwischen seine Kiemen. Personal weit und breit nicht in Sicht – und das eine Viertelstunde vor Spielbeginn. Was tun?

Ich weiß: das Eiscafé am Arsenalplatz. Welch Aussicht: Im Freien bei einem Becher Spaghettieis Fußball und Mädchen gucken. Doch was ist das? Die Bedienungen rennen zwar im Italia-Dress durch die Tischreihen – aber weit und breit hängt kein Fernseher. Hab‘ ich überall nachgesehen? Ja! Frau Totti hinterm Tresen hebt entschuldigend die Arme hoch und die Augen gen Himmel wie Del Piero nach einem Foulspiel. Noch fünf Minuten bis zum Spielbeginn, ich laufe runter zum Holzmarkt. Im „Ochsen“, der nächstältesten Pizzerei Ludwigsburgs muss unter allen hunderttausend Umständen ein Fernseher mit Fußball aufgestellt sein! Doch so weit brauche ich gar nicht zu laufen, denn ich bleibe in der wunderschönen Trattoria „La Signora Moro“ am Marktplatz hängen, das gelbe Haus unter den 300 Jahre alten Arkaden. Streckt man dort den Rücken in Richtung Marktplatz und die Augen auf die Häuserreihe, dann glaubt man wirklich, man habe sich gerade auf einer Piazza in Siena zum Abendessen verabredet. Aus dem Fenster heraus haben sie einen Fernseher auf die Terrasse gestellt.

Es muss der älteste noch existierende Fernseher der Welt gewesen sein, zumindest der erste jemals produzierte Farbfernseher. Marke „Grundig“. Schieberegler, abgebrochenes Reglertürchen und das Bild wackelt wie anno 1969, als Armstrong die ersten Bilder vom Mond nach Houston und von dort in die Wohnzimmer dieser Welt beamte – nur jetzt eben in Farbe. Der wuchtige schwere Grundig-Kasten hält sich nur mühsam selbst auf dem 1,20 Meter hohen Bistro-Tischchen, der wiederum so aufrecht auf dem Asphalt steht, dass ich mir sicher bin: Die Restaurantfamilie muss ohne Zweifel aus Pisa stammen. Ich warte auf den Augenblick, da einer der Kellner oder Kellnerinnen an einem der ins Haus führenden, straffen TV-Kabel hängen bleibt. Um es vorweg zu nehmen: Die Konstruktion hielt das ganze Spiel über, es hat sich auch niemand großartige Sorgen darüber gemacht, dass eventuell etwas passieren könnte. Vor dem Fernseher sitzen der Wirt, seine Familie, Mitarbeiter, Bekannte und Geschäftspartner très legère beisammen und wissen schon nach fünf, sechs Minuten abfällig gestikulierend, dass es heute nichts wird mit einem Sieg Italiens. Sie trauen ihrer Mannschaft soviel zu die Deutschen der ihren. Der italienische Wirt schwätzt dabei so Schwäbisch wie Volksschauspieler Walter Schultheiß auf der Provinztheaterbühne Plieningen, seine kellnernden Kinder dementsprechend auch. Warum ich lauter Nebensächlichkeiten erzähle?

Nun, der Trainer Trapper Toni hat seiner, aus lauter Topfußballern und Weltstars zusammen gesetzten Mannschaft (Vieri, Totti, Nesta, Del Piero, Buffon etc.) wohl vor dem Spiel gesagt, dass man ins Finale kommt, je öfter man 0:0 spielt und sich den Ball 90 Minuten lang gegenseitig in die Ballettschühchen schiebt. Das hat auch Günter Netzer so gesehen. In der Halbzeitpause stellt sich der ARD-Co-Kommentator nämlich die Frage, „wie die Italiener eigentlich durch das Turnier kommen wollen, wenn sie so weiterspielen“ – und bedauerte öffentlich, dass die Dänen nicht schon längst ein Tor geschossen haben. Reporter Steffen Simon ortete die Gründe für Italiens miserable Leistung unterdessen in den Tic-Tac-Toe-Zöpfchen von Mittelfeldregisseur Francesco Totti: „Mit so einer Mädchenfrisur kann man ja nicht gewinnen! David Beckham wäre damit wenigstens auf den Titelseiten des Boulevards. Der soll mal spielen ein Kerl!“ Die italienischen Modepüppchen schleppen gegen die krebsroten Dänen schließlich ihr 0:0 nach Hause und die einzig positiven Dinge, die mir an dem Spiel in Guimaraes auffielen, waren die VfB-Fahne hinter der Eckfahne in der linken Spielhälfte und die schnuckelige Signorina, die mir das Weißweinschorle an den Platz brachte.

Spiel 2, Gruppe C: Schweden – Bulgarien. Who, the hell, will sich wegen so einer Partie an einem schönen Frühlingsabend vor die Glotze setzen? Ich jedenfalls nicht. Ich arbeite lieber am PC und schaue ab und zu in den T-Online-Live-Ticker. Und ich hätt’s mir denken können: Da guckt man mal ein Spiel nicht an – und schon fallen Tore wie reife Früchte. Dreinull führen die Schweden bereits, als ich zum ersten Mal nach einer Stunde Spielzeit in den Ticker schaue. Dort bekommt man zum Beispiel solche schönen Sätze zu lesen: „Die Bulgaren wollen unbedingt den Ausgleich. Gefährlich, denn dadurch sind sie hinten völlig offen“. Bejubelt wird der schwedische Altstar Henrik Larsson von Celtic Glasgow, der innnerhalb von zwei Minuten zwei Tore schiesst. Dabei müssen die Gulbaren in der ersten halben Stunde scheinbar das eindeutig bessere Team gewesen sein, versäumten es aber, ein Tor zu schießen. So isses halt phrasenschweinmäßig im Fußball. Doch dann: Ibrahimovic foult Kiriliov und bekommt Gelb! Warum foulen sich die Bulgaren jetzt schon gegenseitig? Und warum gibt’s dafür auch noch die Gelbe Karte? Ach so! Ibrahimovic ist Schwede. Jetzt wird mir einiges klar. Tja, im hohen Norden ist kulturmäßig auch nicht mehr alles so wie’s früher mal war. Nicht mehr alles nur Allbäcks, Lagerbäcks, Söderbäcks und Brodb...., Scheiße, jetzt ist mir das „ä“ ausgegangen. Scheiße auch, dass mir auch dieser Ergebnistip missraten wird, wenn die Bulgaren in den letzten 20 Minuten nicht mindestens noch vier Tore schießen. Hab‘ ich doch tatsächlich geglaubt, dass die Bulgaren unter Umständen das Überraschungst... Naja, seit Krassimir Balakov aufgehört hat, läuft bei den Bulgaren wirklich nicht mehr viel zusammen. Stattdessen die 77. Minute: Jetzt müssen die Bulgaren noch fünf Tore schießen, um zu gewinnen. Denn Ibrahimovic hat das 4:0 für die Schweden mit einem Elfmeter erzielt. Einige Experten dürften jetzt schon ihre Geheimtipps heimlich korrigieren. In der 90. Minute ist es dann soweit. Mein Lieblingsname Allbäck drückt die Kirsche zum 5:0 für die Gelb-Blauen über die Linie. Bulgarien ist erledigt, und die Schweden dürften jetzt auf Wolke 7 durchs restliche Turnier schweben. Alter Schwede!! Schade, dass ich das Spiel nicht sehen konnte, sondern lesen musste. Dafür habe ich völlig neue Spielernamen kennengelernt: Ibrahimovic, Ljungberg, Ivanov, Linderoth, Edman, Dimitrov, Zdravkov, Padzin, Wilhelmsson, Lazarov...

Bis Morgännn!!!


 
  
 
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