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Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


von stumpy-joe

Tag 4 (Dienstag, 15.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Die Spannung steigt ins Unermessliche. Wochenlang war nur über dieses eine Spiel geredet und geschrieben worden. Waren die sich gegenüber stehenden Kontrahenten aufeinander gehetzt worden. Schürte die Öffentlichkeit die Rivalität beider Völker, diskutierte alle taktischen Varianten wie Kriegsgeneräle und redete den Gegner heute schlecht und morgen übermächtig - und dasselbe mit dem eigenen Team. Doch heute ist Schluss mit Spekulatius, jetzt gilt’s! Und sowohl die tschechische als auch die lettische Presse kann jetzt nur noch ohnmächtig zugucken: Tschechien gegen Lettland, das Spiel der Spiele. Der Kampf um die Vormacht im Osten Europas. Der große Titelfavorit gegen den EM-Neuling und krassen Außenseiter. Die beiden Beitrittsländer im direkten Vergleich, hier die Topstars Nedved, Poborsky und Baros, dort die No-Names Prohorenkovs, Zellulitis und Verpakovskis. Nur die Höhe des tschechischen Sieges wurde wochenlang diskutiert. Und so begann auch das Spiel: drückende Überlegenheit der technisch unglaublich starken Tschechen. Der kleine Dortmunder Rosicky zaubert und der lange Vereinskollege Koller lenkt im Strafraum die Kugel in Richtung Tor. So soll es sein, von Anfang an. Doch es will partout kein Tor fallen, obwohl die tschechischen Fußball-Ballerinas aus allen Lagen auf das Tor des tapferen Letten-Torwart Kolinko schießen. Und es sieht aus, als ob Kolinko Kalinka tanzt, weil ihm die Geschosse nur so um die Ohren und an die Torlette fliegen. Doch aus dem Netz muss Kolinkokolinko den Ball nicht holen. Im Gegensatz zu seinem Gegenüber, Herrn Czech. In der 45. Minute ist die Überraschung nämlich perfekt: Die kleinen Letten gehen gegen die großen Tschechen in Führung, weil Ha-Ess-Vau-Verteidiger Umfall-Luschi im eigenen Strafraum über den Ball stolpert, ihn der Lette Verpaskovskis dagegen nicht verpasst, sondern souverän einpasst. Einsnull zur Pause für den krassen Außenseiter. In Osteuropa muss jetzt die Hölle los sein. Ich sehe schon den lettischen Boulevard breitlettrig jubeln: „Supiskis! Tschechovskis verknödelt!!“ Und der tschechische deprimiert meckern muss: „Scheiß EU! Wir treten wieder aus!!“

Zweite Halbzeit. Was machen die Tschechen jetzt? „Auf Schnitzer in der lettischen Abwehr warten?“, wie im T-Online-Live-Ticker gemutmaßt wird? Da können sie lange warten, denn Herr Schnitzer ist für die EM nicht nominiert worden. Und zum Holzfiguren basteln haben die Letten im Moment auch keine Zeit. Denn sie müssen kämpfen als ging’s um ihr Leben. Ein tschechischer Angriff nach dem anderen rollt auf den tapferen lettischen Torwart zu. Und der tanzt inzwischen Super-Kalinka. Dann sein „böser Patzer“ (T-Online-Ticker): Tschechenstar Baros schießt die Silberkugel ins lettische Netz, weil Kolinko den Ball vorher nicht festhalten konnte. 1:1. Der Bann ist geborchen. Und kurz vor Schluss auch der lettische Widerstand: Marek Heinz, laut genealogischer Forschung doch kein Nachfahre des amerikanischen Ketchupherstellers (dann müsste er ja auch mit der künftigen First Lady Amerikas verwandt sein), droppt fünf Minuten vor dem Ende den Ball zum 2:1 für den Titelfavoriten in die Maschen. Die Fußballhierarchie bleibt gewahrt, die Tschechen sind noch mal davongekommen und werden nun doch nicht aus der EU austreten. Was für ein dramatisches Spiel. Dass sich die Medien vorher derart überschlagen haben, um die Öffentlichkeit auf dieses Knallerspiel großspurig einzustimmen, war völlig berechtigt!

Am Abend dann das zweite Spiel des Tages, der etwas im Schatten des Spiels Tschechien gegen Lettland stehende Vergleich der beiden mittelmäßigen Teams aus Holland und Deutschland. Beide stehen ja in der Weltrangliste weit hinter den Tschechen und haben ihre Vorbereitungsspiele gegen unterklassige und nicht teilnehmende Vereine wie Irland, Ungarn, Rumänien und Gelbien verloren. Es wird wohl ein Spiel Marke Not gegen Elend werden. Und wenn nicht wieder der Co-Franz dem ZDF-Poschi beratend zur Seite sitzen würde und dabei wahrscheinlich lustige Sachen sagen würde, man müsste doch zum Tierfilm auf Vox rüberschalten. Egal, wir gucken trotzdem – und zwar im Kreise unserer liebsten Familie, damit wir nicht wieder dieses doofe Fußballfachgesimpel halbgebildeter Kneipenbesucher ertragen müssen, sondern fundierte Analysen von Mutti: „Die Holländer können ja gar nicht singen!“, echauffiert sie sich schon vor dem Anpfiff, als ein elfköpfiger, orange gekleideter Chor in kurzen weißen Hosen versucht, die niederländische Nationalhymne darzubieten. Und als dann die folgenden Sangesversuche der weiß gekleideten Herrschaften mit viel zu lautem Pfeifteppich aus dem Publikum soundtechnisch ziemlich dilettantisch unterlegt wird, frage ich mich: Ja, iss denn schon wieder „European Song Contest“? Diesmal Open Air? Nein! Denn der Moderator, Herr Kerner, klärt uns in derilierendem Reportertremolo auf: „In Orange elf Superstars – in Weiß elf Männer!“ Herrje, was für eine Dramatik scheint sich da anzubahnen. Das Spiel ist offenbar doch wichtig. Und in der Tat: Die deutschen Straßen sind wie leer gefegt, was Vati so kommentiert: „Wer jetzt auf der Straße ist, muss ein Zeuge Jehovas sein!“ Schade, dass die Wachturmhalter nicht in Porto sind, den Reporter bekehren und ihn zur Ruhe mahnen. Denn der Kerner ist ja völlig am Ausflippen und von fundierten Kommentaren weit entfernt, was den älteren schwäbischen Genießer im Ledersessel zu folgender Aussage hinreißen lässt: „Der Kerner, des isch vielleicht ein guter Wein, aber schonsch nix!“. Davon sollte auch der holländische Trainer schleunigst nippen, damit seine unglaublich großen Schweißflecken unter den Achseln neutralisiert werden. A propos neutralisieren: Das Spiel ist vielleicht spannend, aber gut? Nein, nur das Tor des Holländers Ruud „Van the Man“ Nistelrooy ist wirklich Weltklasse. Am Ende 1:1, „schiedlich, friedlich“, wie Poschi in seiner Analyse irgendwann bestimmt sagen wird – und uns mal wieder nicht erklärt, was man eigentlich unter „schiedlich“ zu verstehen hat. Und weil auch der Co-Franz ausnahmsweise mal nicht stammelt, dafür aber auch nichts Substanzielles mitzuteilen hat, außer, dass es „ein sehr, sehr gutes Spiel war“ (also genau das Gegenteil von dem, was ich gesehen habe), warte ich auf die ZDF-Sendung danach.

Sie heißt „Nachgetreten“ und soll lustig sein. Ein paar semi-berühmte und viertel-gute Fernsehwitzbolde kommentieren in dieser Sendung den EM-Tag und ich frage mich erneut, womit die Nation so etwas verdient hat und wer diesen Scheiß außer mir sonst noch anguckt. Da versucht der Möchtegern-Witzbold Ingolf Lück als Moderator seinen fünf Kollegen Witzbälle zuzuspielen, die diese in eine Pointe umzuwandeln versuchen und in den Lachmuskeln der Zuschauer versenken sollen. Das Ganze erinnert an RTL’s „7 Tage, 7 Köpfe“, ist aber nicht halb so grell. Die fünf Pointendrescher sind die dralle RTL-Blondine Ruth Moschner, die nur dadurch auffällt, dass sie gerne ihre Bälle von Oliver Kahn gehalten haben möchte. Der Sat1-Sportmoderator Oliver Welke, dessen Witze so sind, wie er heißt. Ein mir unbekannter, abgezwickter, hyperventilierender Glatzenzwerg, dessen einzige Pointe darin besteht, die Mannschaftsaufstellung der Letten mit Wortspielen im Sparformat zu kommentieren (im Tor Adilette, in der Abwehr Kotelette, im Sturm die beiden Skelette usw. usf) und ein völlig unwitziger, bebrillter Barde, der mitten in der Sendung unmotiviert und ungefragt zur Gitarre greift und Wolfgang Petrys Ballermann-Gröhlsong „Wahnsinn“ in „Kahnsinn“ umwortet. SCHRECKLICH!!!! Der einzige, der noch ein bisschen Niveau gehabt hätte, ist der türkisch-bayerische Kabarettist Django Asül, dem vorher aber bestimmt verordnet worden ist, sich dem Niveau seiner Kollegen anzupassen.

Derweilen ZDF-Intendant Schächter (darüber gab’s auch mal ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, oder?) zur selben Zeit wahrscheinlich Schenkel klopfend und prustend in die Hose brunzend in seinem Villensessel vor der Glotze gesessen haben muss und sich angesichts der Millionen, die man RTL und Sat1 in den Hintern geschoben hat, um deren schlechte Comedians für vier Wochen auszuleihen, schon die Verteidigungsrede für die nächste Gebührenerhöhungsdebatte überlegt haben wird. Es wird sich wahrscheinlich so oder ähnlich anhören: „Liebe Gebührenzahler. Während der EM 2004 haben wir als öffentlich-rechtlicher Sender mit dem Auftrag, Gemeinwohl herzustellen, unsere Com-Kom bewiesen – unsere Comedy-Kompetenz! Harhar, gut gell? Die zustimmenden Kommentare, die ich von unseren Verwaltungsratsmitgliedern neulich in der Kantine beim Mittagessen wegen der Sendung „Nachgetreten“ erhalten habe, haben mich ermuntert, den Comedy-Etat des ZDF um 450 Prozent aufzustocken, um damit Franz Beckenbauer, Ingolf Lück, Ruth Moschner, diesen Gartenzwerg da und Oliver Welke für den Rest ihres Lebens inklusive Bestattung zu verpflichten. Die daraus folgende Gebührenerhöhung um 950 Prozent ist deshalb durchaus gerechtfertigt. Auch meine ARD-Kollegen haben bereits zugestimmt und signalisiert, mit den prognostizierten Mehreinnahmen in Milliardenhöhe RTL, RTL 2, Sat1, Vox und Pro 7 komplett aufzukaufen. Im Sinne des öffentlich-rechtlichen Gedankens eine Maßnahme, die unsere Gebührenzahler bestimmt unterstützen werden, denn sie bekommen ja jetzt von ihrem ZDF allerbeste Unterhaltung geboten“. Zum Glück hat Herr Schächter mich nicht eingekauft, denn wenn ich nachtreten sollen müsste, dann hätte er ob des peinlichen EM-Auftritts seines Senders wahrscheinlich sechs Abdrücke von 3er-Alu-Stollen in seinem Vorsorgebereich!

Bis Morgännn!!!


 
  
 
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