get shorties labor
 

Jagutttäääh – Mein EM-Tagebuch


von stumpy-joe

Tag 5 (Mittwoch, 16.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Heute ist wie Urlaub am Meer. Die Sonne knallt, der Himmel ist blau und bei der EM kicken lauter Mittelmeerländer. Erst Griechenland gegen Spanien, dann die Portugiesen gegen Russland, was ja irgendwie auch beinahe am Mittelmeer liegt. Schon am Vormittag sehe ich in meiner romantischen Imagination die mit fanatischen, aber friedlichen Fußballfans gefüllten Tavernen in der Abendsonne, die gluckernden Weinkrüge auf den Tischen und den Duft herrlich gegrillter Köstlichkeiten aus der Rinderhüfte und aus dem Meer in der Luft liegen. Ich kann’s kaum erwarten und mache mich schon um halb sechs mit der Stadtbahn auf nach Stuttgart. Fürs Spiel Griechenland gegen Spanien hab‘ ich mir das Bohnenviertel ausgesucht. Das schwäbische St.Pauli, wo die Rotlichthäuser hinter der großen Leonhardskirche und den noch größeren Parkhäusern vor den Augen des Herrn versteckt werden, wo selbst in so einem Milieu die Kopfsteinpflastergässchen noch piccobello gefegt sind und wo in den Kneipen Luden neben Huren neben Drogisten neben Barflys neben Hausfrauen neben Künstlern neben Antiquitätenhändlern neben Touristen neben Polizisten sitzen. Nur halt ein bisschen kleiner das Ganze als im hohen Norden oder in anderen Hauptstädten des Sündenbabels. Auf dem Weg zur „Taverne Odyssia“ sehe ich, wie in einer Straßenkneipe ein Lude seinem Mädchen einen Geburtstagssekt ausgibt und zwei Kolleginnen ihr eine Torte mit grellen Plastikkerzen überreichen. Diese Szene unterbricht aber nur kurz das Vorfreudekino in meinem Kopf, in dem sich die Vorstellung verfestigt hat, pünktlich um 18 Uhr in eine randvolle griechische Kneipe zu gelangen, geschmückt mit blau-weißen Flaggen, gefüllt mit siegestrunkenen, Sirtaki tanzenden Griechen aus dem ganzen Viertel, die nach dem Eröffnungstriumph gegen Portugal wahrscheinlich schon die Party fürs Endspiel organisiert haben.

Ich trete ein in die Taverne und... ...sehe zehn ältere deutsche Herren stumm um einen mächtigen Eichentresen herum sitzen und trinken und ich will mir nicht vorstellen müssen, seit wann sie da schon stumm vor sich hinsitzen und trinken. Ansonsten sitzt in der Kneipe ein älteres Paar und isst stumm Souvlaki, draußen vor der Türe ein weiteres älteres Paar, das einen Teller Gyros stumm vor sich hin speist. Auf dem Weg zur Küche steht ein kleiner Fernseher auf einem großen Tisch und man bräuchte einen Feldstecher, um das Spiel zu sehen. Später kommen noch zwei junge Typen mit einer jungen Griechin im Schlepptau hinein, die viel rauchen und Bier trinken und von ihren bisherigen EM-Kneipenerlebnissen erzählen. Da fällt auch schon das 1:0 für Spanien und die ältere griechische Köchin, die bestimmt Maria heißt, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen als sei die Akropolis gerade eben eingestürzt. Der Wirt und sein kellnernder Sohn machen abfällige Handbewegungen in Richtung Otto Rehhagel und die zehn Herren am Tresen sagen immer noch nichts, sondern trinken nur. Zur Halbzeit hab ich mein Viertel griechischen Weins ausgetrunken, der stilecht im schwäbischen Henkelglas ausgeschenkt wurde und der hundertprozentig verdünnt war. So wässerig kann kein griechischer Wein sein. Ich bezahle drei Euro und wechsle die Kneipe.

Am anderen Ende des Bohnenviertels ist das „Sancho Panza“, eine von vier lustigen mediterranen Kneipen am Wilhelmsplatz. Schließlich wird sich doch wohl auch in Stuttgart das unumstößliche, weltweit geltende Gesetz bewahrheiten, wonach wirklich in jeder spanischen Kneipe ein permanent eingeschalteter Fernseher steht. Auf dem Weg zur Gesetzesverifizierung muss ich durch Stuttgarts kleine sündige Meile schreiten. Acht Minuten und drei unmoralische Angebote später betrete ich eine fast leere spanische Kneipe namens „Sancho Panza“, in der nur noch eine ältere Frau mit langen weißen Haaren und verschränkten Armen vor einem Fläschchen Wasser sitzt. Sie sieht aus, als hätte sie ihren dienenden Job zwei Häuser weiter schon vor längerer Zeit aufgegeben. Schon wieder nix mit der Vorstellung von einer prall gefüllten Kneipe voller gelb-rot gekleideter, „Espana“ und „Olé“ brüllender Fußballfans. Das „Sancho Panza“ wird stattdessen von zwei völlig entspannten und innerlich ruhenden Spanierinnen betrieben, die bestimmt beide Maria heißen und die den Spielernamen „Raul“ nicht annähernd so spanisch aussprechen wie der ungarisch stämmige ZDF-Reporter Bela Rethy. Dafür dienen sie mir in breitestem Schwäbisch ein Krügchen Rioja an und erlauben mir, am Bedienungstisch zu sitzen, weil dort der Blick in die Glotze am besten ist und weil die Kundschaft eh auf der Straße in der Sonne und nicht in der dunklen Kneipe vor dem Fernseher sitzt.

Und wie’s der Zufall so will: Kaum ist das erste Glas Rioja leer getrunken, schießen die Griechen den Ausgleich. Einen Pass von Kapsis verwandelt Charisteas, der Bremer, mit links. Und während in der griechischen Taverne die Griechen den Führungstreffer der Spanier beklagen mussten, müssen jetzt in der spanischen Kneipe die beiden Spanierinnen über ein Tor der Griechen hinweg kommen. Das war locationmäßig ja mal wieder gut ausgewählt, Herr Tagebuchschreiber! Die Spanier schaffen den Siegtreffer nicht mehr, was den beiden schwäbischen Spanierinnen des „Sancho Panza“ herzlich egal ist, denn sie haben genug damit zu tun, Knoblauchhühnchen und andere wohl duftende Leckereien zu servieren, über die ich nur deshalb nicht herfalle, weil ich ja jetzt zu meinem Portugiesen ins „Lisboa“ in die Hohenheimerstraße rüber muss. Genau dieselbe Kneipe vom Samstag natürlich. Wir müssen doch mal die Portweingläser auf einen portugiesischen Sieg anstoßen! Und dabei macht es, nebenbei gesehen, wirklich niemandem etwas aus, dass ein Wirt aus einer Region nördlich von Porto seine Kneipe in Stuttgart „Lisboa“ getauft hat. Hauptsache, der Fernseher läuft.

Ich komme pünktlich zum Vorbericht über die Stimmung in Portugal vor dem wohl alles entscheidenden Spiel gegen Russland. Der Wirt und sein Kumpel (diesmal ein anderer) sitzen in ihren rot-grünen Trikots bereits völlig angespannt an der Bar vor der Glotze. Außerdem anwesend: ein deutscher VfB-Fan, die Wirtin, noch eine Portugiesin und zwei kleine Kinder. Die drei Männer trinken nicht Wein, sondern Bier („Rothaus Tannenzäpfle“) und ich bestelle mir wieder diesen schweren Roten im Drittelesglas (der Wein ist so schwer, dass ich jetzt ganz sicher weiß, woher dieser portugiesische Schwermut eigentlich kommt). Und kaum habe ich das erste Mal an dem blutrorten Tröpfchen genippt, werde ich schon wieder mit Portugalklischees aus dem Fernseher drangsaliert. Der Autor des Vorberichts nennt das, was Reporter Beckmann am Samstag noch Melancholie und Pessimismus genannt hatte und das die portugiesische Seele definieren sollte, jetzt „Trauer und Trübsinn“. Schwermut schwappt also schon wieder tonnenweise aus der Glotze und zwar so heftig, dass man meinen könnte, man lauscht dem Augenzeugenbericht eines Überlebenden des größten Erdbebens, das Portugal je heimgesucht hat. Dabei hat Portugals Trainer Scolari im Vorfeld doch lediglich gesagt, dass es für seine Mannschaft heute im Spiel gegen Russland um „Leben oder Tod“ geht. Die beiden Portugiesen in der Kneipe lachen sich schräg über diesen Ausspruch und über die ganze Dramatik, die über ein doofes Fußballspiel mit portugiesischer Beteiligung im deutschen Fernsehen gelegt wird. Und als dann schließlich Reporter Steffen Simon das Wort eine Minute vor Spielbeginn ergreift, könnte man meinen, die 65.000 Zuschauer im Lissaboner „Stadion des Lichts“ werden Zeuge einer Staatsgründung nach jahrzehntelangem Kampf gegen Unterdrückung, Terror und Schreckensherrschaft.

Sieben Minuten später Riesenjubel in Lissabon und im „Lisboa“. Maniche schießt das 1:0 für Gastgeber Portugal und es bildet sich Gänsehaut, denn diese Seelen tangierende Dramaturgie hätte kein Regisseur besser vorweg nehmen können. Doch bald herrscht wieder Schwermut allerorten, denn statt, dass die Portugiesen die Russen nach allen Regeln der Fußballkunst auseinander nehmen, verfallen die Spieler um Figo, Deco & Co. in ängstliche Lethargie. Jede Minute könnte der Ausgleich fallen. Doch dann die 45 Minute: Ein Moment, in dem man die portugiesische Seele mal so richtig kennenlernt. Der russische Torwart wird vom Platz gestellt, weil er außerhalb des Strafraums die Hand zu Hilfe genommen und somit ein todischeres Tor der Portugiesen vereitelt haben soll. Darauf steht im Regelbuch „Rot“, allerdings nur dann, wenn auch Absicht vorliegt. In der Zeitlupe sieht man aber, dass der Torwart den Ball nur ganz leicht und unglücklich berührt und sogar versucht, den Arm vom Ball weg zu halten – leider vergeblich. Die Rote Karte ist also eine Fehlentscheidung. Doch statt zu jubeln, wie jeder andere Fan in so einer Situation, hat der Portugiese an sich kein Verständnis für diese Schiedsrichterentscheidung. Denn jeder Portugiese hat genau gesehen, dass es keine Absicht war, was der russische Torwart da getan hat. Im Stadion ist es denn auch mucksmäuschenstill und im „Lisboa“ bedauern sie sogar, dass der russische Torwart die Rote Karte bekommen hat. „Das ist schade und nicht fair“, sagt der Wirt und sein Kumpel nickt heftig assistierend mit dem Kopf. Nein, auf diese Weise will er nicht gewinnen, der Portugiese an sich.

Er gewinnt aber trotzdem gegen zehn Russen, nämlich 2:0, weil der eingewechselte Superstar Rui Costa von AC Mailand kurz vor dem Ende eine feine Vorlage des 19jährigen Ronaldo im Tor versenkt. Trainer Scolari hat das Spiel um „Leben und Tod“ gewonnen, und die Portugiesen nehmen den Sieg trotz des Spiels in Überzahl rundheraus an und sind erleichtert, in Lissabon wie im „Lisboa“. Doch kaum ist das Spiel vorbei, tritt schon wieder Skepsis zu Tage. Jetzt müssen die Portugiesen nämlich Erzfeind Spanien schlagen, um eine Runde weiterzukommen. Und das traut im „Lisboa“ nun wirklich niemand seiner Mannschaft zu. Und was ist die Moral von der Geschicht‘? Bei einem Sieg Portugals wird das Glas portugiesischen Landweins plötzlich um 50 Cent teurer und einen Portwein gibt’s dann auch wohl nur gegen Bezahlung. Ganz schön durchtrieben, der Portugiese an sich. Oder?

Bis Morgännn!!!


 
  
 
online for 8174 Days
last updated: 10.06.03, 07:45
status
You're not logged in ... login
menu
... home
... search
... topics
... 
... antville home
November 2024
So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.
12
3456789
10111213141516
17181920212223
24252627282930
März
recent
recent

RSS Feed

Made with Antville

INFECTED BY

Memoryfice

alletagekunst

osterholzallee

powered by
Helma Object Publisher