ingittar - 18. Juni 2004 um 13:38:34 MESZ Jagutttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 6 (Donnerstag, 17.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Heute habe ich einen schweren Konflikt mit mir auszutragen. Obwohl ich das ja nicht laut sagen darf, denn eigentlich müsste die Sache klar und bar jeder Diskussion sein: Heute ist nämlich Donnerstag und Donnerstag ist Herrenabend. Da treffen sich Woche für Woche vier beste Freunde bei einem der Freunde und machen Sachen wie Grillen, Bäume fällen, Holz hacken, Tischbillard spielen und keinen Alkohol trinken (bis auf Rick, der hat immer ein oder zwei „Tannenzäpfle“ dabei). Und für den Herrenabend gibt es keine Ausreden. Und Fußball ist schon gar keine Ausrede. Was also tun, lieber Herr EM-Tagebuchschreiber, der sich, wie verabredet, um Punkt 18 Uhr – exakte Anpfiffzeit des Spiels England gegen die Schweiz – in Rohlaffs Garten im Schrebergartendickicht von Stuttgart-Hofen einfindet? Dort also, wo gar kein Fernseher sein kann und wo niemand auch nur ansatzweise auf die Idee kommen würde, den Herrenabend der intensiven Gartenarbeit wegen eines Fußballspiels England gegen die Schweiz für einen Abend vor dem Fernseher einzutauschen? Noch dazu bei derart sommerlichen Temperaturen? Aber es gibt ja geistige Fantasie in unseren Hirnen und technische Alternativen in unseren Vorratsschränken. Zum Beispiel das gute, alte Kofferradio. Wer erinnert sich nicht an die Zeiten vor 20, 30 Jahren, als man der Samstag-Nachmittag-Fußballreportage mit dem Weltempfänger lauschte, ohne dabei aufs Reparieren des Kadett B vor der Garage oder aufs Schneiden der Weinreben irgendwo in einem abgelegenen Weinberg zwischen Ochsenbach und Gündelbach oder aufs Grassensen im Stückle weit ab hinterm Hohenasperg verzichten zu müssen? Genau! Und der Rohlaff wäre nicht ein vorbildlicher Schrebergärtner, hätte er nicht einen ordentlichen Weltempfänger in seinem Geräteschuppen in seinem Garten in Stuttgart-Hofen liegen. Nur leider ohne Batterien. Also schnell hinunter zur Tanke in Mühlhausen radeln und vier Batterien kaufen. Wieder hoch schnaufen, Batterien einsetzen (erst mal natürlich falsch herum – aber das muss man dem aufgeregten und höchst nervösen Fußballhörer schon konzedieren dürfen, vor allem, wenn das Spiel schon läuft), Antenne ausfahren, Radio einschalten – und dann alle Wellen durchsuchen. „Chhhr, Chrrr, siosiosiossssss, slupp, ssssst“ – das sind in etwa die Geräusche, die toujours durch zu hören sind, wenn man den Sendersuchlauf eines Weltempfängers in einem Schrebergarten in Stuttgart-Hofen betätigt. Nun sind wir bei unseren Bemühungen wohl bei so manchem Piratensender oder offiziellem Staatsfunk unterhalb des Äquators gelandet, haben wahrscheinlich die Hörausgabe des arabischen Bombenlegersenders El Dschasira gehört und den irakischen Oppositionssender gleich hinterher. Sind auch bei Radio Toulouse vorbei gerauscht und haben ein Baseballspiel auf WHYC aus New Jersey gehört. Haben Lokalnachrichten aus Montevideo, Politagitation aus Serbien-Montenegro und Urlaubshits von der Deutschen Welle für Polynesien gelauscht. Doch auf den Schweizer oder den Britischen Sender etwa, der uns eine Live-Reportage des EM-Spiels England gegen die Schweiz beschert hätte, sind wir zumindest auf Lang- und Mittelwelle nicht explizit hörbar gestoßen. Und die Ultrakurzwelle ist zumindest in unserem Einzugsbereich für aktuelle Berichterstattung lebensnotwendiger Sportereignisse inzwischen ultra-ignorant geworden. Kein Fußball weit und breit zwischen SWR1 und Antenne 2. Dafür überall die selben Hits und die selben Möchtegern-Lustig-Sprecher. Kaum zu unterscheiden, ob sie ihre Sparwitze fürs Privatradio oder das Öffentlich-Rechtliche ablassen. Enttäuscht legen wir den Weltempfänger zurück in den Geräteschuppen und schreiten zur Gartenarbeit. Wir fällen einen Baum in Nachbars Garten, sägen seine Teile klein, entfernen die Holzreste, legen die Rindersteaks und die Schweinebäuche auf den Grill, erzählen uns die Stechmückenerlebnisse unserer Campingurlaube, mutmaßen darüber, was ehemalige Kumpels heute so machen, radeln zum Billard-Ausklang den Neckar entlang nach Remseck in meine Wohnung und vergessen bei diesem abwechselnden Programm völlig, dass heute Fußball-EM ist und ein Tagebuchschreiber eigentlich seiner Pflicht nachkommen sollte. Der höchste originelle Herrenabend wird mit einem hoch spannenden Billard-Turnier beendet, aber trotz dieser Spannung kann ich’s dann doch nicht lassen. Denn auch wenn’s nur England, die Schweiz, Kroatien und Frankreich sind, die heute gespielt haben: Ich muss einfach wissen, wie sie gespielt haben, gehe während einer Spielpause heimlich ins Internet und erfahre auf T-Online.de, dass die Briten die Schweizer mit 3:0 „überrannt“ und die Kroaten „Frankreichs Überheblichkeit bestraft haben“ - 2:2, weil die Franzosen scheinbar keinen rechten Bock hatten und nur am Anfang und gegen Ende des Spiels etwas aufdrehten. Mein Gott, wie wird das mal sein, wenn die Franzosen 90 Minuten lang aufdrehen? Hoffnung dagegen für die Kroaten, die das 2:2 leider ohne VfB-Verteidiger Zivkovic erreicht haben. Mit einem Sieg gegen England nächsten Dienstag wären sie eine Runde weiter. Schlechte Nachrichten werden auch über den anderen VfB-Spieler des Abends kolportiert: Hakan Yakin, der türkische Schweizer. Ihm und seiner Mannschaft wurde von einem 18jähriges Pickelgesicht namens Rooney (der Mann, von dem der Laber-Franz übrigens sagt, er erinnere ihn „an den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“), die Grenzen des Schweizer Fußballs aufgezeigt – und ihnen sogleich demonstriert, dass man einfach nicht gewinnen kann, wenn man in jedem Spiel eine Rote Karte bekommt und das Match ergo mit einem Mann weniger beenden muss. So, wie es der Schweiz in diesem Turnier jetzt schon das zweite Mal hintereinander passiert ist. Und was lernen wir aus dem heutigen Tag? Erstens: Nix gegen ein Fußballspiel England gegen die Schweiz – aber Bäume fällen in Nachbars Garten ist auch eine coole Freizeitbeschäftigung. Zweitens: Wayne Rooney erinnert Franz Beckenbauer „an den jungen Schappa-Pa-Paaaa“ (sagt mir Bescheid, wenn ich mich wiederhole). Drittens: Im Gegensatz zu den Herren des Herrenabends reißen - bis auf Philipp Lahm - VfB-Spieler bei dieser EM keine Bäume aus. Viertens: Zu legendären Medienzeiten muss Fußball mal ein Live-Ereignis fürs Radio gewesen sein. Das heißt für mich: Wenn die Leser dieses Tagebuchs mal wieder über die Verbalgrätschen von Beckmann, Kerner, Beckenbauer, Netzer & Co. informiert werden wollen, muss ich ab heute wieder ins Fernsehen glotzen. Ich hoffe nur, dass am nächsten Donnerstag spielfrei ist... Bis Morgännn!!! |
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