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Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 7 (Freitag, 18. Juni) „Liebes Tagebuch. Ich kann’s kaum erwarten: Dänemark gegen Bulgarien! Ein Match, auf das ich mich seit mindestens acht Jahren freue wie ein werdender Vater auf sein erstes Kind. War es nicht anno 96, als die beiden bei der EM in England die Zuschauer zuletzt begeisterten und die Fußballwelt seither in Agonie auf ein ähnlich spektakuläres Spiel zweier Weltklasseteams wartet? Heute, 18 Uhr, ist es endlich soweit: Hristov gegen Jörgensen, Petrov gegen Tomasson, Berbatov gegen Gravesen. Das ist Fußballglück in meinen Ohren: Das klingt nach rasend schnellen Ballstafetten und nach druckvollem Flügelspiel. Nach Fallrückziehern und Hacke, Spitze, Trallala. Nach Effet-Freistößen in den Torwinkel und nach packenden Zweikämpfen mit anschließendem Shakehands. Nach fairen Tacklings und nach lächelnden Schiedsrichtern, die ihre Karten ob des garantierten Sportsgeistes beider Mannschaften getrost in der Kabine vergessen können. Das klingt nach Spaß für die Galerie, nach einem 3:3 oder 4:4. Nach La Ola und Standing Ovations. Kurz: nach einem Fußballfest, wie es die Welt seit Italiens 4:3 nach Verlängerung gegen Deutschland bei der WM 1970 in Mexiko nicht mehr erlebt hat. Ach, am liebsten wäre ich jetzt im Hexenkessel des Estadio Municipal von Braga.

Und ich werde nicht enttäuscht: Mit dem Anpfiff geht die Post ab. Nach 20 Minuten führen die Dänen in einem packenden, schnellen, technisch anspruchsvollen, taktisch erstklassigen und sportlich äußerst fairen Spiel mit 2:1. Obwohl es auch schon 3:3 stehen könnte, denn die mit Weltstars wie den drei Jensen-Brüdern und den großartigen Bulgaren Ivanov, Stoyanov und Lazarov gespickte Partie ist total ausgeglichen und an Rasanz kaum zu überbieten. Dann die 44. Minute: Der bulgarische Filigrantechniker Marian Hristov vom 1.FC Kaiserslautern nimmt eine Rechtsflanke quer in der Luft liegend volley ab und hämmert die Kugel so wuchtig ins Tordreieck, dass das Tor beinahe einstürzt. WAHNSINN! Das Stadion stürzt fast ein unter den begeistert trampelnden 22.000 Zuschauern. Die Partie verspricht, was sie hält. Die Akteure werden mit Ovationen in die Halbzeitpause geleitet.

Zweite Halbzeit. Der Fußballzauber geht weiter. Jede einzelne Szene zu beschreiben, würde den Speicherplatz des größten Webservers der Welt sprengen. Es muss die Information genügen, dass am Ende ein 4:4 steht. Die Bulgaren gingen noch zwei Mal in Führung: ein Flugkopfball von der Strafraumgrenze aus und ein angeschnittener Heber vom Mittelkreis über den dänischen Torwart hinweg. Die Dänen glichen aus mit einem Hackentrick am Fünfmeterraum und einem brettharten Drehschuss nach sechsmaligem Ballhochhalten mit dem Rücken zum Tor. Nach den 90 Minuten sind die Spieler völlig ausgepumpt, der Schiedsrichter gratuliert allen 22 Akteuren plus den Trainern einzeln und Ehr‘ erbietend für die legendär gloriose Partie, die er pfeifen durfte. Die Zuschauer stehen noch 20 Minuten nach Spielende völlig hypnotisiert auf ihren Stühlen, schreien sich die Lunge aus dem Hals, um Zugabe zu fordern und wollen einfach nicht aufhören zu applaudieren. Die Spieler beider Mannschaften drehen gemeinsam eine Ehrenrunde und demonstrieren anschließend noch ein Mal die spektakulärsten Szenen in Zeitlupe nach. Die Fernsehsender verschieben die Hauptnachrichten und die Werbeblocks um zwanzig Minuten, damit die begeisterten Fernsehzuschauer langsam abchillen können. Die Staatschefs der EU-Länder, die in Brüssel gerade um die neuen EU-Verfassung ringen, unterbrechen ihre Verhandlungen, um kollektiv vor dem Fernseher Sekt trinkend die Feierlichkeiten nach diesem unglaublichen Spiel anzugucken. US-Präsident Bush zieht vor lauter Begeisterung die Truppen aus dem Irak ab. Osama bin Laden verkündet das weltweite Ende des Al-Kaida-Terrorismus. Die deutsche Wirtschaft verspricht unter dem Eindruck dieses unglaublichen Spiels die Schaffung von einer Million Arbeitsplätze in den nächsten sechs Monaten. Die Mineralölindustrie verkündet die Senkung der Spritpreise um 20 Cent pro Liter schon ab morgen. Die internationale Lebensmittelindustrie verspricht in einem Memorandum den Verzicht jeglicher unnatürlicher Zusatzstoffe ab sofort. Bayern-Manager Uli Hoeness gibt dem VfB Felix Magath zurück und obendrein 25 Millionen Euro, damit der die Gehälter seiner jungen Wilden in den nächsten fünf Jahren bezahlen kann und verzichtet gleichzeitig für die nächsten zehn Jahre freiwillig auf die Deutsche Meisterschaft. Und der liebe Gott verkündet Peace, Love and Happiness auf der Erde für die nächsten 800.000 Jahre.

Dann wache ich auf und sehe im T-Online-Live-Ticker nach, was ich wirklich verpasst habe: das schlechteste Spiel dieser EM. Not gegen Elend. Kaum Höhepunkte. Eine Fehlpassorgie sondergleichen. Missverständnisse. Nicklichkeiten. Böse Fouls en masse. Kurz: unterhaltungsfreies Gekicke völlig talentfreier Akteure mit acht gelben und einer gelb-roten Karte. Als Einäugiger unter den Blinden gewinnen die Dänen schließlich 2:0, haben damit in zwei Spielen noch immer kein Tor kassiert und dafür jetzt beste Chancen auf das Viertelfinale. Die Bulgaren dagegen sind raus: 0 Punkte, 0:7 Tore. Ich freue mich auf die Realität von Spiel 2:

Gelb-Blau gegen Blau-Weiß. Nein, leider nicht Brasilien gegen Frankreich, sondern Schweden gegen Italien. Doch allen Unkenrufen und negativen Vorahnungen ob eines abermalig chancenarmen Grottenkicks zum Trotz, tragen die beiden Mannschaften die symbolhaften Farben des vollendeten Fußballglücks beinahe zurecht: Gelb-Blau gegen Blau-Weiß, das ist auch dann ein großartiges Spiel, wenn Schweden und Italiener in diesen Trikots stecken. Von der ersten Minute an, und das ist wirklich kein Traum, Power und Rasanz, hohes Tempo und trotzdem technisch hochwertiger Fußball. Die Italiener präsentieren sich heute von ihrer besten Seite. Liegt es daran, dass „Lama Totti“ nicht dabei ist? Dass Del Piero und Cassano die Fäden ziehen dürfen? Dass Panucci rechts und Zambrotta links ein für die Italiener ungewöhnliches Flügelspiel aufziehen? Sie liegen nur deshalb nicht schon früh in Führung, weil Vieri in der Mitte die präzisen Flanken von Panucci und Zambrotta nicht so trifft, wie sonst. Da vergisst auch Reporter Johannes B. Kerner vor lauter Begeisterung für einen kurzen Moment, was er im Rechenunterricht in der zweiten Klasse gelernt hat, als er sagt: „Zählen wir die beiden Kopfbälle von vorhin mit, dann hat Vieri gerade eben seine vierte Torchance verpasst“. Aha. Das erinnert mich an Fritz Walter, ehemaliger, geistig vollkommener VfB-Stürmer über sich selbst und Jürgen Klinsmann: „Der Jürgen und ich, wir sind schon ein tolles Trio“.

Trotz Vieri, Kerner und Fritz Walter: Immer muss man mit einem Tor der Schweden rechnen. Die Skandinavier halten das schnelle Niveau nämlich mit und tauchen mit den großartigen Spielern Ljungberg, Ibrahimovic und Larsson jederzeit vor Buffons Tor auf. Dort sind sie aber zu unkonzentriert oder scheitern an den Innenverteidigern Cannavaro und Nesta. „Eine italienische Abwehr“ möchte man diese Szenen nennen, denn an diesen beiden Abwehrspielern vorbei zu kommen, das schaffen wahrscheinlich nur Zidane und Ronaldo. Im Gegenzug kommen auch die Italiener immer wieder zu Torchancen, vor allem durch Del Piero, weil die Schweden riskant auf Abseits spielen und Reporter Johannes B. Kerner daraufhin fachkundig und besorgt fragt: „Ist es gefährlich, wenn man auf Abseits spielt?“ Ja, ist es, Herr Kerner! In der 38. Minute geht das risikoreiche schwedisch Defensivspiel nämlich schief und drei Italiener stehen plötzlich völlig frei, aber regelkonform vor dem schwedischen Torwart. Einer davon, Cassano, lässt Panuccis Flanke über seinen Scheitel ins linke untere Toreck gleiten. 1:0 für Italien – und Loddamaddäus, der heute ZDF-Experte sein darf, ist zur Pause ein glücklicher Experte, hat der Italienfan doch sechs Jahre seiner Karriere unter Drreeenerrdrrabbadoni drrenierren dürfen.

Keine Niveauverschlechterung in der zweiten Halbzeit. Italien und Schweden liefern sich weiter einen großen, technisch feinen Kampf. Und wenn Del Pieros Lupfer von der Strafraumgrenze ins Tor gegangen wäre, dann würde man in 30 Jahren noch von diesem Spiel im Raumschiff Porto sprechen. Dummerweise für die Schweden liegen sie weiterhin 0:1 zurück und das Trainergespann der Skandinavier setzt jetzt alles mutig auf eine Karte: Sie wechseln mit Kim Kallström, Kalle Blomqvist und Lasse Samenström drei neue Stürmer ein. Was Reporter Kerner zur abermaligen Demonstration seiner Rechenkünste anspornt: „Die Schweden haben jetzt dreieinhalb bis vier Stürmer auf dem Platz.“ Herrje, was für ein witziger Sprachfuchs dieser Kerner doch ist! Die Einwechslungen verfehlen ihre Wirkung aufs Spiel nicht: Die dreieinhalb bis vier schwedischen Stürmer erspielen sich Torchance um Torchance und „eine italienische Abwehr“ kommt inzwischen ganz schön ins Trudeln. Vor allem Larssons Schuss aus spitzem Winkel hat’s in sich, den Reporter Kerner spontan jubilierend so kommentiert: „Oh Mann, war der spitz, der Winkel!“ „Wie Nachbars Lumpi“, möchte man angespitzt hinzufügen. Dann die 85.Minute: Schwedenstürmer Zlatan Ibrahimovic, den in Schweden alle nur „Zlatan“ nennen, wie uns Herr Kerner kenntnisreich aufklärt, lenkt einen Ball in der Luft mit der Hacke an Buffon vorbei. Der Ball senkt sich über den auf der Torlinie hochspringenden, 1,90 Meter großen Christian Vieri hinweg in den Torwinkel. 1:1, was für ein Tor! Und ich wähne mich schon im Traum des vorigen Spiels. Im Stadion rasten derweil Zehntausende gelb gekleideter Menschen völlig losgelöst aus und die Kameraleute haben Schwierigkeiten, ihre Lieblingsmotive bei Schwedenspielen einzufangen: blonde, angemalte, lachende und in jeder Hinsicht hüpfende Schwedinnen.

Fünf Minuten später ist das Spiel aus. 1:1 trennen sich Italien und Schweden in einem hochklassigen Match, nur Italienfan Loddamaddäus ist etwas geknickt. Er trauert noch den vielen Kopfballchancen von Christian Vieri nach: „In seiner Dobbzeid hädde der Vieri die Dinger rreingemachd“. Es kommt noch schlimmer für Lodda: Wolf-Dieter Poschmann hat mit seiner Leuchtstiftbatterie mindestens 48 Szenen auf seiner Zettelwirtschaft markiert, die der Lodda jetzt alle analysieren muss. Das spare ich mir total auf und gehe mit der Hoffnung nach Hause, dass die Italiener im letzten Spiel die Bulgaren schlagen und ins Viertelfinale einziehen. Auf wen ich wohl im Meistertipp gesetzt haben mag?

Bis Morgännnn!!!


 
  
 
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