get shorties labor
 

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 8 (Samstag, 19. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute ist der achte Tag, und am achten Tag hat der Liebe Gott ja bekanntlich die Harley Davidson gebaut. Behaupten zumindest Motorradfreaks. Fußballfans sagen ab heute und bis in alle Ewigkeit und bis hinter die noch weiter entfernteren Jagdgründe, dass der Liebe Gott am achten EM-Tag das Fußballspiel erfunden hat. Besser gesagt: dessen Sollzustand, wie ein Fußballspiel also idealerweise auszusehen hat. Der Liebe Gott hat nämlich das Spiel Tschechien gegen Holland gesehen und danach seine unwiederbringliche Entscheidung vom Zu-Sein-Habenden Fußballspiel definiert. Wo und wie er das Spiel geguckt hat, weiß wohl nur der Liebe Gott selbst. Ich habe es jedenfalls mit meinen Kumpels Rick und Tom in Ricks Ludwigsburger Wohnung geguckt. Und zwar so klassisch und stilecht, wie es sein muss: mit Familienpizza aus dem Karton vom Bringdienst (von den Pizzabäckern vom „O Sole Mio“, vgl. Tag 3) - belegt mit roter Paprika, schwarzen Oliven und fettiger Salami – sowie Bier aus dem Kasten („Tannenzäpfle“, was sonst?). Am Anfang ist die Stimmung gedämpft und nachhaltig nörgelnd negativ: die Holländer führen nach 20 Minuten nämlich bereits 2:0 und es droht ein Schützenfest in Orange, weil die Tschechen in der Abwehr so sicher stehen wie Fernseher-EM-Aufbauten in der Trattoria „La Signora Moro“ (vgl. ebenfalls Tag 3). Die Holländer dagegen scheinen ihre verordnete Sicherheitstaktik aus dem Deutschlandspiel völlig abgelegt zu haben und sind zu dem zurückgekehrt, was sie können und wollen: Herz erfrischendes Offensivspiel mit drei Stürmern, angetrieben von den beiden Pitbulls im Mittelfeld, Edgar Davids und Clarence Seedorf. Reporter Reinhold Beckmann ist verzückt von der Tatsache, dass er endlich mal ein taktisches Spielsystem identifiziert hat: „Trainer Dick Advocaat hat uns alle überrascht! Er lässt kein 4-4-2 und auch kein 4-3-3 spielen, wie wir es erwartet haben. Er hat ganz überraschend auf ein 3-4-3 umgestellt! Während die Tschechen mit nur einer hängenden Spitze spielen“. Beckmann, Du alter Fuchs! Hast’s erkannt!! Schon nach 20 Minuten!!! Wow!!!! Dem gemeinen, bierseligen deutschen Fußballfan hättest Du, lieber Beckmann, jetzt auch etwas vom 3-5-2, 3-3-1-3 oder 4-2-3-1 verzapfen können. Kapiert ausser Ralf Rangnick und Michael Skibbe eh keiner. Und wo, zum Kuckuck, steht eigentlich der Galgen mit der hängenden tschechischen Spitze, die Du gesehen haben willst? Egal, bei dem tschechisch-holländischen Gewusel auf dem Bolzplatz von Aveiro hat sowieso niemand einen Blick für Nebensächlichkeiten übrig.

Denn im Spiel Holland gegen Tschechien herrscht überhaupt keine Ordnung. Und das ist das Schöne daran. Ob orange oder weiß gekleidet: alle Mann vor mit Hurra und Trompete. Ohne taktisches Geplänkel, ohne Rochaden und ohne Zuordnungen aus dem Theorieknigge der Sporthochschule Köln, die uns der deutsche Taktikfuchs Michael „Skarabäus“ Skibbe bestimmt wieder zugemutet hätte. Im Gegenteil: Die Tschechen kontern nicht mit System, sondern mit Schmackes – Anschlusstreffer nach 24 Minuten. Der Zweimeterriese Jan Koller von Borussia Dortmund nutzt eine Vorlage des durchsetzungsfähigen Stürmers Milan Baros und Reinhold Beckmann flippt förmlich aus: „Drei Tore in 24 Minuten – Fußball kann so schön sein“. Und weiter geht’s, rauf und runter. Clarence Seedorf setzt einen Freistoß nur Millimeter neben das tschechische Tor und Beckmann schreit: „SEEDORF! Der Mann hat so viel Gefühl im Ball...“ Aber nicht in den Füßen, wie sich ein paar Sekunden später herausstellt. Da senst Seedorf nämlich den Tschechen Rosicky von hinten übel um, was Beckmann aufstöhnen lässt: „Hach, in den Zweikämpfen ist so viel körperliche Bereitschaft...“ Auch diesen Satz kann Beckmann Gott sei Dank nicht zu Ende reden, denn: „Der Ball läuft schon wieder“. Aber zum Glück nicht aus oder weg, sondern wieder in Richtung tschechisches Tor, wo sich Beckmann dank der nächsten Freistoßchance der Holländer ausnahmsweise mal rhetorisch um den Ball kümmern muss. Das silberne Spielgerät mit Kriegsbemalung heißt „Roteiro“ und ist nämlich höchst umstritten. Vielen Zuschauern gefällt der Ball gar nicht (Hallo Rick! Hallo Markus!) und auch manchem Spieler passt der „Roteiro“ überhaupt nicht, wahrscheinlich weil er nicht von selber ins Tor fliegt. Das haben die deutschen Kicker dem Herrn Beckmann scheinbar exklusiv und persönlich und wahrscheinlich auch höchst empört gesteckt, erfahren wir nebenbei. Der Reporter verrät uns nämlich: „Viele Spieler sagen, der Ball hätte kein Leben, er gebe nicht nach, wenn man gegen ihn tritt!“ So ein böser, böser Ball aber auch! Oder haben sie schon mal jemanden erlebt, der nachgibt, wenn man ihn tritt? In unterdrückenden Herrschaftssystemen mehrheitlich auf der südlichen Welthalbkugel mag dies vielleicht der Fall sein. Aber im Mikrokosmos der Fußbällegesellschaft? Ich hoffe, all die arbeitslosen Kulturwissenschaftler, Soziologen, Biologen und Ethnologen haben gut aufgepasst. Es gibt offenbar etwas neues zu erforschen und die zu erwartende Doktorarbeit dürfte heißen: „Die ethnische, soziale und kulturelle Zusammensetzung der Fußbällegesellschaft unter besonderer Berücksichtigung ihrer biologisch-anatomischen Beschaffenheit hinsichtlich der Trittbereitschaft von Fußballern bei wichtigen Wettbewerben – Versuch einer Annäherung“.

Zweite Halbzeit, zweites Bier. Und auch zweites Tor für die Tschechen? Rick sagt grinsend voraus, dass die Holländer noch verlieren werden. Tom hofft es und ich habe vor lauter begeisterndem Glotzen keine Zeit zu tippen, weil das Spiel jetzt noch besser wird. Torchance auf Torchance hüben wie drüben. Doch plötzlich kippt das Spiel: Der holländische Trainer Dick Advocaat nimmt seinen besten Spieler vom Platz (ein 19jähriger Linksaußen, der für alle holländischen Angriffe verantwortlich zeichnet) und wird dafür morgen in seiner Heimat bestimmt in der Luft zerrissen. Kurze Zeit später bekommt ein Holländer auch noch die Gelb-Rote Karte wegen wiederholten Foulspiels vom Schiri entgegen gestreckt. Die grandiosen Tschechen nutzen die Überzahl jetzt gnadenlos aus, geben Rick recht und biegen das Spiel tatsächlich noch in einen 3:2-Sieg um. Zuerst donnert Baros ein Brustvorlage von Koller volley und mit Karacho zum Ausgleich in den Winkel. Und kurz vor Schluss spielen sie den holländischen Torwart derart frech aus und schieben den angeblich leblosen „Roteiro“ so provokativ ins holländische Tor, dass Ricks Bude beinahe bebt vor Lachen und Jubeln. Unglaublich, wie die Tschechen das Ding nach Hause gebracht haben, vor allem, weil sie vorher noch Chance um Chance hatten und allen voran der großartige Spielmacher Pavel Nedved die holländischen Spieler stehen ließ wie überzwerch aufgebrezelte, rundum gepiercte Discopüppchen am Samstag Abend in der Ludwigsburger Fußgängerzone. Da muss sogar der Immer-ein-Haar-in-der-Suppe-findende Obernörgler und ARD-Experte Günter Netzer völlig bewegt stammeln: „Das war Weltklasse, g-r-o-ß-a-r-t-i-g-e Weltklasse!“ Noch schlimmer präsentiert sich nur das Tabellenbild von Gruppe D nach diesem Spieltag: 1. Tschechien 6 Punkte (damit vorzeitig qualifiziert), 2. Deutschland 2 Punkte, 3. Holland 1 Punkt, 4. Lettland 1 Punkt. Zu Deutsch: Jetzt müssen die Deutschen eigentlich bloß noch gegen die Tschechen gewinnen, um eine Runde weiter zu kommen. Ja, ja, nichts leichter als das, gell? Höhnisches Prusten und Gelächter schallt durch Ricks Wohnung – vor allem nach dem, was wir zwischen 18 und 20 Uhr auf der Großbildleinwand im „Café Ennuit“ beobachten mussten...

Nämlich ein Trauerspiel sondergleichen. Deutschland gegen Lettland 0:0. Aber wie soll so ein Spiel schon anders ausgehen, wenn man es im „Ennuit“ angucken muss? Eine Designerpseudoszenekneipe in der herausgeputzten und gewienerten Fußgängerzone Ludwigsburgs, wo Samstag Nachmittags die oben erwähnten Püppchen ihre sackteuren Klamotten für den Discoabend kaufen und sich anschließend zu einer „Latte“ und völlig sinnfreiem Gezicke niederlassen, bis der Alte das Konto wieder aufgefüllt hat. Dort also, im „Ennuit“, haben sie eine Riesenleinwand aufgebaut und zwar so geschickt, dass allenfalls zwölf Leute in maximalem Abstand von zweieinhalb Metern drauf gucken können. Wir tun‘s unseren Augen trotzdem an und verzweifeln an der deutschen Unfähigkeit, gegen den Fußballriesen Lettland auch nur eine überzeugende Torchance zu erarbeiten. Fußballer, die als Offensivspieler bzw. Stürmer aufgestellt worden sind und Namen tragen wie Kuranyi, Bobic, Brdaric, Klose, Frings, Schweinsteiger und Ballack, versuchen, sich gegen eine rote Mauer aus Freizeitkickern aus der russischen Winterliga, die Namen tragen wie Firnis, Leitzins und Zellulitis, oder so ähnlich, durchzusetzen. Das aber ohne Plan, ohne Raffinesse, ohne Idee, ohne System, ohne Begeisterung, ohne Leidenschaft, ohne Können am Ball etc.p.p. Unglaubliche Szenen müssen wir sehen: Frings stolpert beinahe über eine ausgerollte Klorolle auf dem Platz, Didi Hamann bricht sich beim Ballstoppen beinahe den Knöchel, Klose köpft in der Nachspielzeit völlig frei stehend am Fünfmeterraum der Letten den Ball zur Eckfahne und Wörns kann das Siegtor der Letten nur deshalb verhindern, weil er den Letten-Stürmer Verpakovskis im Strafraum in den Schwitzkasten nimmt – und der Schiri trotzdem keinen Elfer pfeift.

Teamchef Rudi Völler läuft über dieses Dilli-Gekicke derart empört rot an, dass Reporter Steffen Simon nur noch sagen kann: „Und Rudi Völler kocht!“. Einen Rührlöffel habe ich in Rudis Hand zwar nicht gesehen. Die gepfefferten und gesalzenen Verbalzutaten für ihn liefert uns nachher aber bestimmt wieder unser schonungsloses Fußballgewissen Günter Netzer ab. Der Günter, wie ich ihn in seiner Abwesenheit immer nennen darf, faselt nach dem Schlusspfiff völlig entsetzt etwas von „Verzweiflung“, „fehlender Qualität“ und ... da schaltet die aufgebrezelte Bedienung im „Ennuit“ auch schon den Ton ab. Eine Netzer-Analyse dieses grausamen Gekickes will man sich dort nicht auch noch antun. Und inzwischen ist auch dem letzten überheblichen Deutschen sein Hang nach Letten- oder Lattenwitzen vergangen. Nur Olli Kahn nimmt’s gelassen und blafft ins Reportermikro: „Wir brauchen uns doch jetzt nicht über dieses Lettenspiel hier aufzuregen!“ Richtig, Olli!! Ist doch eh alles nur dummes Lettengeschwätz hier!!!

Bis Morgänn!!!!


 
  
 
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