get shorties labor
 

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 9 (Sonntag, 20. Juni) „Liebes Tagebuch. Seit heute weiß ich endlich, was ein richtiger Autokorso ist. Kurz nach halb elf Uhr abends ist die Stuttgarter Innenstadt nämlich komplett blockiert. Hunderte portugiesischer und griechischer Fans haben sich spontan in ihre Autos gesetzt und verstopfen jetzt die Hauptverkehrsadern der Stadt: vom Rotebühlplatz die B27 hinunter bis zum Hauptbahnhof, an dessen Front vorbei und hinten wieder die B14 hoch zum Charlottenplatz geht nichts mehr. Die Stuttgarter City ist von einem blau-weiß-grün-roten Fahnenmeer und einem Hupkonzert sondergleichen überzogen. Die Menschen stehen eingehüllt in griechische und portugiesische Flaggen in ihren Autos und jubeln aus den Autofenstern und den Schiebedächern hinaus. Andere haben ihre Fahrzeuge, auch Motorräder und Vespa-Roller sind darunter, komplett in ihre Landesflagge eingewickelt; sie schreien, singen und tanzen und erstmals wird so richtig deutlich, wie viele Griechen und Portugiesen in Stuttgart und Umgebung eigentlich zu Hause sind. Denn innerhalb kürzester Zeit haben sich auch Autos aus den umliegenden Kreisen ein den Korso eingereiht, wie an den Nummernschildern zu erkennen ist. Doch der Reihe nach: Heute war der entscheidende Spieltag in Gruppe A: Portugal gegen Spanien und Russland gegen Griechenland. Bis auf Russland konnten noch alle drei Mannschaften weiterkommen.

Um 20.47 Uhr hatte es noch gar nicht nach Autokorso ausgesehen. Denn die Russen schossen in Faro schon nach zwei Minuten das 1:0 gegen Griechenland und parallel dazu machten sich fünfzigtausendundelf Portugiesen in einem großen Stadion in Lissabon fast in die Hosen. Sie hatten Angst vor der Blamage, als Gastgeberland und Favorit der EM schon in der Vorrunde rauszufliegen, weswegen der wortgewaltige Trainer Scolari das entscheidende Spiel gegen Erzfeind Spanien im Vorfeld als „Krieg“ bezeichnete. Man muss wissen: Portugal verhält sich zu Spanien wie Österreich zu Deutschland. Und unsere Freunde aus dem südöstlichen Alpenland müssen sich ja auch immer martialisch aufmanteln, um wahrgenommen zu werden. Aber mal ehrlich, liebe politisch korrekten Kulturkritiker: Was schert es die Laterne, wenn sie von einem räudigen Straßenköter angebrunzt wird? Nochmal zur Erinnerung: Portugal muss gegen Spanien gewinnen, um weiterzukommen. Der große Bruder Spanien wäre dann draußen, was einer Kulturrevolution gleichkäme, die in so manchen Politikerhirnen auf der iberischen Halbinsel wieder die Sehnsucht nach Vormachtskämpfen wie im 16.Jahrhundert schüren dürfte. Wir befinden uns aber nach wie vor im 21. Jahrhundert und auf dem Fußballplatz, wo die Situation nach zwei Spielminuten hingegen auch an einem völlig anderen, relativ emotionslosen Menschentypus nicht vorbeigeht: dem Wetter. Der Wetter ist nicht etwa Regen oder Schnee oder Sonne, sondern ein Mensch, dem es völlig egal ist, ob sich ein Land wegen eines verlorenen Fußballspiels kollektiv in den Atlantik stürzt oder nicht – Hauptsache, die Quote stimmt.

Im Live-Wettbüro im Gerberviertel stehen die Quoten nämlich nach zwei Spielminuten wie folgt: Wer auf einen Sieg Russlands setzt, bekommt für einen Euro Einsatz einsneunzich zurück, wer einen Euro auf die Griechen setzt, bekommt zwoneunzich zurück. Ein Sieg Spaniens bringt dreivierzich, ein Triumph Portugals zwoneunzich. Das sind aber nicht die einzigen Live-Wetten, die in dem kargen, mit Neonlicht beleuchteten Wettbüro mit angeschlossenem Internetcafé angeboten werden: „Wer schießt das nächste Tor?“, fragt der Monitor an der Decke. „Wer gewinnt die erste Halbzeit?“ und „Wer schießt den nächsten Eckball?“ sind die weiteren Wetten, mit denen man seine Ersparnisse verjubeln kann. Vier, sagen wir mal, Kirgisier an dem einen Tisch und drei ältere, etwas verlebt wirkende Deutsche am anderen Tisch brüten derweil über ihren Tippzetteln – als plötzlich das 2:0 für Russland fällt. Hektische Betriebsamkeit im Wettbüro. Zwei Männer stehen hektisch auf und geben neue Tipps ab, ein südländischer, heftig tätowierter Typ stürmt plötzlich mit einem Bündel Scheinen in den Raum und erklärt der etwas korpulenten und nicht eben intelligent wirkenden Blondine am Tippschalter nachhaltig gestikulierend, was er mit dem Geld vorhat. Unterdessen sich die Quoten am Bildschirm minütlich ändern: Nach 18 Spielminuten gibt’s zwofuffzich für einen russischen und nur noch einsfünfundsechzich für einen griechischen Sieg. Relativ ausgeglichene Quoten dagegen beim anderen Spiel: Spanien zwoneunzich für eins, Portugal zwodreißich für eins. Acht Minuten später: Im Spiel Russland gegen Griechenland will sich Otto Rehhagel beinahe vom Tribünendach stürzen, weil Charisteas, der Bremer, den Ball aus drei Metern Entfernung vier Meter über das leere russische Tor drischt. Das wirkt sich sofort auf die Quoten aus: Für einen griechischen Sieg gibt’s jetzt neun für eins, für einen russischer Sieg gerade noch einszwanzich. In der 35. Minute bringt ein griechischer Sieg sogar zwölf für eins. Dann die 44.Minute: Die Griechen erzielen den Anschlusstreffer und zur Pause haben sich die Quoten zu Gunsten der Griechen verdrittelt: vierfuffzich gibt’s für ihren Sieg, wer jetzt noch auf die Russen setzt, bekommt einsfuffzich. In Lissabon gehen die iberischen Kontrahenten unterdessen mit einem 0:0 in die Pause. Die Portugiesen waren spielbestimmend, deshalb auch die Quoten: Spanien dreidreißich für eins, Portugal zwozwanzich für eins.

Wer jetzt glaubte, das Wettbüro in der Christophstraße werde in der Halbzeitpause von wettwütigen Portugiesen, Russen, Griechen und Spaniern aus den umliegenden Kneipen überrannt, wird maßlos enttäuscht: Nur die vier Kirgisier brüten weiterhin über ihren Tippzetteln und reden bereits über das morgige Spiel England gegen Kroatien. Die verlebten Deutschen holen sich aus dem Kühlschrank inzwischen einen Erfrischungsdrink (übrigens nur alkoholfreie Getränke drin!), vertreten sich die Beine und lauschen den schlauen Halbzeitworten des Netzers. Wie viel Euros nach dem Ende der Spiele an diesem Abend tatsächlich die Taschen der Besitzer wechselten, werde ich wahrscheinlich nie erfahren, denn ich bezahle einen Euro für das Apfelschorle und wechsle das Lokal. Jetzt wird’s nämlich richtig spannend und das will ich da erleben, wo die Fans sind. Ich entscheide mich für das „La Oncha“ am Wilhelmsplatz, gleich neben dem „Sancho Panza“ (vgl. Tag 5). Der Kneipenname kommt mir ziemlich spanisch vor, und ich vermute, dass hier richtig Stimmung ist. „La Oncha“ kann aber unmöglich spanisch sein, denn in dem engen Kellergewölbe zapft sich ein langhaariger Mann mit griechischem Fußballtrikot an der Bierzapfanlage beinahe um den Verstand. Direkt vor der Leinwand haben sich drei Frauen auf Barhockern aufgebaut, wobei die mittig platzierte mit ihrem Körperumfang fast die komplette Leinwand bedeckt und ihren Freundinnen dabei lautstark berichtet, warum die Lehrer sie in der Schule immer benachteiligt haben. Das restliche Publikum in der Kneipe sind auch weder Portugiesen noch Griechen noch viele Spanier, sondern Bier trinkende, deutsche Mittdreißiger, die gekleidet sind als lebten sie ihr Leben in ihren 30 Jahre alten Jeansjacken den gesungenen Geschichten von Johnny Cash und Kurt Cobain nach. Nur ein trauriger Spanier sitzt auf der Bierbank an der Wand, fiebert leise leidend mit seinem Team mit und umklammert dabei fest ein Stuttgarter Double von Jennifer Lopez.

Tja, Glück in der Liebe, aber Pech im Spiel. Seine Mannschaft muss in der 57. Minute nämlich den Siegtreffer der Portugiesen durch Volksheld Nuno Gomes hinnehmen und ich stelle fest: Wer Nirvana und Johnny Cash hört, steht im Fußball auf Portugal. Denn bis auf den traurigen Spanier mit der Jennifer Lopez im Arm jubelt die ganze Kneipe. Ist auch kein Wunder: Die Portugiesen spielen wesentlich schöner, engagierter und leidenschaftlicher. Und während die Spanier etwas uninspiriert versuchen, den Ausgleich und damit das Viertelfinale zu retten, versemmeln die Portugiesen bei ihren Kontern kurz vor Schluss tausendprozentige Torchancen, was Günter Netzer mitfühlen lässt – und zwar zugunsten der portugiesischen Sportsfreunde, die die Bälle in todsicherer Position in den Lissaboner Nachthimmel dreschen. Denn hätten die Spanier tatsächlich doch noch den Ausgleich geschossen und ganz Portugal damit in die Depression geschickt, hätte man die Fahrkartenschützen anderntags garantiert in eine Nussschale im Lissaboner Hafen gesetzt und rudernd nach Brasilien geschickt.

Ist, zum Glück für Portugal, aber nicht passiert, weswegen sich der traurige Spanier noch lange nach dem Schlusspfiff niedergeschlagen im Schosse seiner Jennifer Lopez trösten muss. Derweil die Kurt-Cobain-und-Johnny-Cash-Hörer zufrieden und lautstark Fußballszenen diskutierend ihr Jeansjackenleben an der Bar weiterführen – und dabei ziemliches Glück haben: Denn der Barkeeper im Griechentrikot kann leider nicht am Autokorso seiner Landsleute teilnehmen. Er muss Bier im Minutentakt zapfen, was er aber mit freudigem Gesichtsausdruck tut, denn auch sein Team ist trotz der 1:2-Niederlage gegen Russland im Viertelfinale angekommen.

...Bis Morgännn!!!


 
  
 
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