get shorties labor
 

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 10 (Montag, 21. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute habe ich die beste Pleskavica seit 21 Jahren gegessen, als ich noch Schüler war und zum bisher ersten und einzigen Mal in Kroatien, damals noch Jugoslawien, urlaubte. Eine Pleskavica ist eine ziemlich große, hart gepresste, gegrillte Hackfleischscheibe serviert mit Pommes, Djuvec-Reis, Ajvar-Relish und gehackten Zwiebeln. Dazu ein Pils. Djuvec-Reis ist übrigens gewürzter, in Paprikasauce angemachter Reis und Ajvar-Relish eine ziemlich scharfe Paprikapaste, sozusagen die kroatische Salsasauce. Ein Gedicht, das ich mir da in den Schlund gleiten ließ. So etwas Gutes bekommt man nur in einer Vereinsgaststätte serviert, denn in einer Vereinsgaststätte kocht der Koch praktisch für seinesgleichen. Das kann nur beste Küche sein, denn ich will mal den Koch einer Vereinsgaststätte sehen, der pfuscht und schlampt. Der wird von den Mitgliedern des Vereins unter Zuhilfenahme von deren Vätern, Brüdern und Kumpels wahrscheinlich zuerst kopfüber in den Suppentopf geworfen, darin mehrmals umgerührt - und wird auch danach kein schönes Leben mehr in seiner Küche haben.

Ich habe die Pleskavica im „Makarska“ gegessen, der Vereinsgaststätte der SKG Stuttgart Max-Eyth-See 1898 e.V., an einem Waldstück auf dem Weg nach Remseck und wenige Meter vor der Neckarstaustufe Mühlhausen, dem Open-Air-Lokal „Arschlöchle“ und Rohlaffs Schrebergarten in Hofen gelegen. Im und vor dem „Makarska“ ist eigentlich immer eine ganze Menge los. Auf den Fußballplätzen und Tennisplätzen drumherum wird ständig gespielt, egal ob Jugendmannschaften oder Erwachsene, werden Vereinsfeste gefeiert mit viel Bier und viel Grillen, oder man trifft sich auch mal zu einer privaten Zusammenkunft im Lokal. Vor dem „Makarska“ sind immer viele Fahrzeuge geparkt, und wenn die aus ihren Parklücken hinausgefahren werden, müssen ihre Fahrer ziemlich gut aufpassen, denn sonst überfahren sie garantiert Skater, Biker, Walker und anderes sportives Publikum, das dort in den sommerlichen Abendstunden und vor allem am Wochenende in der Stärke eines Ameisenstaates die Wege vor der Vereinsgaststätte kreuzt.

Derart bevölkert hatte ich mir die Lage auch heute Abend vorgestellt. Zumal es für die Kroaten bei der EM um Alles oder Nichts ging. Nur ein Sieg über England würde den Einzug ins Viertelfinale gegen Gastgeber Portugal bedeuten, alles andere die vorzeitige Heimfahrt. Die Stimmung ist gut unter den Kroaten, denn sie haben den großen Franzosen erst vor wenigen Tagen ein 2:2 abgetrotzt - und zwar ziemlich verdient. Jetzt also England, das verspricht ein großartiger Fight bis zur letzten Spielsekunde zu werden. Zwei Mannschaften, die es gewohnt sind, um jeden Ball und jeden Zentimeter Boden zu kämpfen, die austeilen und einstecken und ergo alles tun, um eine Runde weiterzukommen. Besser kann die Ausgangslage für ein großes Fußballfest in einem kroatischen Vereinslokal also nicht sein. Ich sehe sie schon vor mir, die vielen rot-weiß-kariert gekleideten Fans, die lautstark und im Chor „Hrvatska, Hrvatska“ schreien und jeden Ballgewinn, jede Torchance und jede Parade des eigenen Torwarts vor dem Fernseher stehend bejubeln und mit Beifallsstürmen beschenken.

Doch scheinbar trauen die Kroaten ihrer Mannschaft in diesem Jahr nicht viel zu. Denn vor dem Fernseher im „Makarska“, wo bestimmt 80 Menschen Platz gefunden hätten, hält sich zu Spielbeginn gerade mal ein einziger Mensch auf. Es ist der kroatische Wirt, der überhaupt nicht verstehen kann, dass die vielen Fans und Freunde, die sonst immer zu jeder Gelegenheit in sein Lokal stürmen, das entscheidende Spiel offenbar woanders angucken. Ein ganz schlechtes Omen für den Wirt, der darob dreinschaut als hätte man ihm soeben die Konzession entzogen. Ich setze mich zu ihm an den Tisch vor dem Fernseher, an dem mindestens 25 Menschen Platz gehabt hätten und bestelle eine Pleskavica und ein Pils. Das imponiert den Wirt überhaupt nicht und seine Miene erhellt sich erst in dem Augenblick, als ich ihm seine erste Gewissensfrage beantworte: „Und, junggäääär Maaaan, was tippen Sie?“ „1:0 für Kroatien“, sage ich weniger aus Höflichkeit, sondern weil ich dem Team von Ex-VfB-Trainer Otto Baric in der Tat eine Überraschung zutraue. Die Kroaten sind für mich stets zu allem fähig; außerdem hält der gute VfB-Verteidiger Zivkovic ihre Abwehr zusammen. Dann muss ich dem Wirt begründen, warum ich das Spiel gerade bei ihm angucke („weil es bei Ihnen die beste Pleskavica gibt“), ob ich Kroaten sympathisch finde („auf jeden Fall!“) und weswegen ich glaube, dass Kroatien das Spiel gewinnt („weil sie immer kämpfen bis zum Umfallen und weil VfB-Verteidiger Zivkovic die Abwehr zusammenhält“).

Der Wirt sieht mich an, als hätte ich ihm soeben verschimmeltes Brot als die neueste, gesündeste und wohlschmeckendste Innovation des Bäckerhandwerks am Anfang des 21. Jahrhunderts verkauft und lästert erstmal ordentlich über seine Mannschaft ab: „Die spielen doch alle in der ganzen Welt verstreut. Die haben doch gar keine Zeit gehabt, eine Mannschaft zu werden. Neenee, das wird nichts“. „Warten wir’s ab“, sage ich und kaum ist der letzte Atmer dieses Satzes in meinem Pilsglas verschwunden, führt Kroatien schon mit 1:0. Nach fünf Minuten drückt Niko Kovac von Hertha BSC eine miserable Abwehr von Englands Torwart James (auf der Insel wegen solcher Aktionen auch „Calamity-James“ gerufen) über die Torlinie. Der Wirt und ich klatschen uns ab – er glaubt nun doch, dass der Liebe Gott ein Herz für unterdrückte slawische Völker hat und ich habe meinen ersten richtigen Tipp dieser EM glitzernd vor Augen.

Nach dem 1:0 findet das Spiel nur noch vor dem kroatischen Tor statt. Die Engländer sind das definitiv bessere Team, spielen mit ihren Stars Beckham, Rooney (von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“), Scholes, Owen, Gerrard (der Mann, für den russische Ölmilliardäre 60 Millionen Euro Ablöse bezahlen) und Lampard Powerplay und es fällt nur deshalb nicht gleich der Ausgleich, weil sich die Kroaten mit Mann und Maus vor die Füße der Engländer werfen. Der Wirt raucht eine „Lord Extra“ nach der anderen und gibt seinem Team weiterhin keine Chance. Denn die Entlastungsangriffe der Kroaten sind ziemlich harmlos, und der Wirt ist ziemlich froh darüber, dass er für einen Moment in die Küche gehen kann, wo seine Frau meine Pleskavica zubereitet hat. „So, junggäääär Maaaaan, hier ist Ihr Essen. Stört es Sie, wenn ich rauche?“ Nein, es stört mich nicht. Es stört mich nur, dass sich die Kroaten von den Engländern derart einschnüren lassen, dass ich meinem Tipp schon nach 20 Minuten keine Chance mehr gebe. Das sieht der Wirt genauso und seine Laune verschlechtert sich von Minute zu Minute. Außerdem regt er sich darüber auf, dass der Reporter Johannes B. Kerner jedes Mal, wenn einer der vier kroatischen Bundesligaspieler am Ball ist, sagt, dass dieser Spieler in der Bundesliga spielt. „Ach, Ihrrr Deitschen! Warum muss er das immer sagen?“, fragt der Wirt zurecht und ich denke mir dazu: „Naja, ein gutes Zeugnis ist es zurzeit ja nicht gerade, in der Bundesliga zu spielen“. Und während der Wirt vor Aufregung mal wieder in der Küche nach dem Rechten sieht, fällt der Ausgleich. Und kurz danach auch das 2:1 für England durch den 18jährigen Shootingstar Wayne Rooney, von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“.

2:1 zur Pause, und der Wirt und ich wollen nicht mehr so recht an eine Wende glauben. Otto Baric wechselt einen Spieler namens Ivica Mornar ein, der Rechtsaußen spielt und der den Wirt in Optik und Motorik an den ehemaligen Bayernspieler Carsten Jancker erinnert. Und in der Tat: Mit Mornars Grobmotorik haben die Kroaten vorne noch weniger zu bieten. Im Gegenteil: Auf der Gegenseite fällt das 3:1, weil Stürmerstar Wayne Rooney, von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“, den Ball lässig am guten kroatischen Torwart Butina vorbei ins Netz schiebt. Die Sache scheint gelaufen, doch die Kroaten wären nicht Kroaten, wenn sie nicht weiter kämpften, um die Ehre, um ihr Ansehen und natürlich um ihre letzte Chance. Verteidiger Tudor köpft eine Viertelstunde vor Schluss das 2:3, was den Wirt nicht sonderlich beeindruckt. Doch die kroatische Mannschaft bestürmt weiterhin tapfer das Tor von Calamity-James und könnte, mit etwas mehr Feinmotorik am Ball, längst das 3:3 geschossen haben.

Es kommt aber wieder ganz anders: Die Engländer setzen den nächsten Konter, den Lampard zum 4:2 abschließt und nun ist die Messe wirklich gelesen, die der kroatische Wirt aber nicht mehr zu Ende hören will und nun endgültig und restlos bedient in seiner Küche verschwunden ist. Trotzdem versuchen die Kroaten, bis zum Schluss ein Tor zu erzielen und das tun sie mit Moral und vor allen Dingen mit fairen Mitteln, womit mich dieser Abend in einem leeren kroatischen Vereinslokal im obersten Norden Stuttgarts um eine weitere Erkenntnis bereichert hat: Wenn Kroaten nur wollen, dann sind sie fair, sympathisch und freundlich. Und dann dauert es bestimmt auch nicht mehr 21 Jahre, sondern vielleicht nur noch 21 Tage, bis ich meine nächste Pleskavica esse. Und ich weiß auch schon, wo und von wem ich mir dieses leckere Futter servieren lasse.

Bis Morgännnn!!!


 
  
 
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