get shorties labor
 

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 11 (Dienstag, 22. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute hat mich die Muse geküsst. Und ich weiß nicht mehr genau, welch Antrieb es gewesen war. Wohl doch eine innere Fügung? Denn scheinbar ausgelöst von den wärmenden Abendstrahlen der tiefen Junisonne, die hoch droben über dem Neckar thronte, setzte die Fügung mich ins Auto und lotste mich hinauf nach Marbach. Geburtsort Friedrich Schillers. Standort des Deutschen Literaturarchivs und des Schiller Nationalmuseums. Früherer Wohnort meiner Schwester. Oh Herr, welch große Welt des Wortes, die sich da ihn Marbach auftürmt. Symbolhaft prächtig präsentiert im neoklassizistischen Museumsbau am Kopfe des sanft ansteigenden Ufers des Neckars zwischen Rebenhügeln und fruchtbaren Feldern. Und drunten an der Uferstraße stehst Du, kleiner Tagebuchschreiber. Staunend aufschauend als winz‘ges und dunkel beleuchtetes Verbalinstrument schwächlicher Sprachgewalt, das seine Worte aus dem minderwertigen Repertoire brachialer, männlicher Kampfeslust in Ballspielen auf einem begrünten Stadionviereck schöpfet. Du gut gemeinter Versuch von einem probaten Sprachrohr des Volkes liebster Freizeitbeschäftigung. Olééé, oléoléoléééééé.... Spötter würden sagen: „Jetzt ist er größenwahnsinnig geworden“. Und Wohlgesonnene: „Ein bisschen Bildung und sprachliche Schärfung kann diesem wollenden Sprachcharakter ja nicht schaden; und dereinst wirst vielleicht auch Du noch den richtigen Weg zur wahren Literatur finden und ihn stolz beschreiten.“

Ich selbst aber würde sagen: Hier in Marbach hat das wahre Drama seinen modernen Ursprung. Hier wurde einst die wahre Literatur eins mit jenem Moloch, der Jahrhunderte zuvor noch ein großes Reich gewesen war und irgendwann schändlich unterging, darob aus liederlicher Dekadenz, heillosem Übermut, sträflicher Ignoranz und grobem Dünkel. ROM! Heiliges Rom!! Heimstatt der Cäsaren und der mit Schweinskaldaunen gefüllter Weinamphoren. Hedonistischer Hort der üblen Sünde und des sündigen Übels. Caligula, Brutus und Gaius Bonus. Circus Maximus, Ben Hur und Wurstpellenmarmelade. Barbaorum, Laudanum und Hintenrum Ost. Muss ich noch mehr sagen? Unterdrückung, Sklaverei und Menschenverachtung. Vertreibung, Tod und Feldzüge wohin das Auge des Alten Kontinents nur blicken konnte. Dieses Rom war dem Untergang geweiht. Moritat te salutant – die Totgeweihten grüßen Dich! Doch wenn schon nicht bei Asterix & Obelix längst geschehen, dann wenigstens bei der EM 2004 in Portugal. Und welcher Ort eignete sich nicht besser dafür, diesen Untergang zu fokussieren, als der Hort der Aufklärung, des Strums und des Drangs, des Friedrichs und des Schillers. MARBACH! Denn war Schiller nicht auch mal irgendwann in Italien gewesen? Ach nee, das war Goethe. Also weiter im Text:

Marbach, ein freundliches, kleines, schwäbisches Städtchen, das den Charme eines toskanischen Dörfchens hoch droben auf einem Reben- und Olivenhügel versprüht. Hier ist das Kopfsteinpflaster noch wirklich so alt wie Schillers Geburtshaus. Hier ist das Fachwerk noch nicht aus dem Baumarkt rekonstruiert worden. Und hier spukt der Freigeist des 18. Jahrhunderts noch immer durch die engen Gässchen, in denen heute junge Künstler, Handwerker und Literaturfreunde ihr einfaches Leben leben. Hier stehen Olivenbäumchen und Sitzbänkchen aus Holz vor den Häuschen und ranken Weinrebchen die Fachwerkwändchen hinauf. Hier versperrt der Bauer mit seinem Erntetraktor noch den Weg zum Bürgerturm. Und hier sind die Hausschilder noch aus schwerem Schmiedeeisen, und hinten, aus den kleinen Fachwerkhäuschen, an denen diese Schilder prangen, hört man lautstark weibliche Stimmen bereits die römische Nationalhymne singen und es klingt, als tue die Stimme dies nicht freiwillig oder müsse irgendwem einen ganz besonderen Nationalstolz erweisen. Hier muss man sich einfach wie dort auf dem Stiefel fühlen, wo Rom einst herrschte. Und es kann deshalb nur einen Platz geben, den Untergang des modernen Roms zu erleben: eine Pizzeria mitten im Ort.

Es ist schließlich das entscheidende Spiel in Gruppe C, mit einer Ausgangslage, die nur zu einem Drama Schillerschen Ausmaßes werden kann. Und das mit Römern als tragischen Helden der Fußballgeschichte: den Legionären, Zenturios und Gladiatoren von Lazio Rom und AS Rom von Juventus Turin und von AC und Inter Mailand. Um jeden Preis gewinnen mussten sie gegen die bereits ausgeschiedenen Bulgaren. Aber ein Sieg half ihnen nur dann, sollten Dänen und Schweden im anderen Spiel der Gruppe nicht 2:2 spielen (sagt zumindest die UEFA und wir glauben ihr das auch, denn wahrscheinlich kann wieder mal keiner das Gegenteil beweisen). Alles andere als ein 2:2 zwischen Dänen und Schweden würde Rom also doch weiterbringen. Voraussetzung allerdings ein eigener Sieg, woran zu zweifeln für einen wahren Römer ja erst gar nicht erst zur Debatte steht – vene, vidi und vici, Himmelherrgottsakra! Viel schlimmer jedoch die Vorstellung römischer Ohnmacht: Das kultivierte Rom ist nämlich abhängig vom hoffentlich unabhängigen Sportsgeiste der beiden Wikingervölker. Werden die Barbaren, die ja das Blut ihrer Opfer aus deren Schädeln trinken und aus deren Häute ihre Zeltwände gerben, werden diese Barbaren wirklich wahren Sportsgeist an den Tag legen und lieber im gloriosen Bruderkampf die Waffen strecken und einen Sieger ermitteln als sich gegen das Große Rom hinterlistig zu verbünden, wie die römische Presse und die römischen Gladiatoren mit ihrem Trainer, dem Trapper Toni, vorab unkten? Beim Mars, beim Jupiter und beim Uranus: Welch Entscheidung von historischem Ausmaß hier und heute fallen wird!

Drei Pizzerien im Kern des mediterran-friedlichen Kulturstädtchens Marbach kamen also in Frage, den Kollaps des römischen Fußballreichs televisionär zu erleben. Und es ward kaum zu glauben: In keinem, ich wiederhole: in keinem dieser Lokale stand ein Fernseher. Dafür speiste holdes, feines, ja auserwähltes Publikum exquisites Mahl darin; und ihre römischen Kellner waren beschürzt mit langen, weißen und edlen Bedienungsroben, und bestürzt ob der Frage des Tagebuch schreibenden Kulturflegels, ob denn bei ihnen das Spiel Italien gegen Bulgarien gezeigt werde. Und alle Wirte zeigten mir unisono den Weg zum Fuße des Stadthügels: zum Café Provinz. Hier also, wo junge Marbacher Bier statt Wein trinken und mit Schinken und Käse belegte Fladenbrote statt marinierte Scalopine schmausen, hier also musste ich mir den Untergang Roms ansehen. Zwischen fünf jungen deutschen Fußballfans und zwei gelangweilten, jungen Pärchen, die sich offensichtlich alle das Scheitern Roms und den Triumph der Nordischen Allianz herbei sehnten.

Und es wurde in der Tat ein Drama Schillerschen Ausmaßes. Ja, es erinnerte gar an den Vier-Minuten-Meister-der-Herzen von 2001, an Schalke 04. In der 93. Minute schaffte Rom nämlich tatsächlich den Siegtreffer gegen Bulgarien und glaubte für wenige Minuten an das Fortbestehen seines Fußballreiches. Doch dann kam die Kunde aus Porto. Dort, in dem Stadion, das den Reporter Simon an das Millerntor in Hamburg, der Kultstätte des FC St. Pauli, erinnert, dort also schenkten sich die beiden liederlichen Wikingerbanden in der Tat gegenseitig ihr Wunschergebnis 2:2 – und sorgten damit für den Untergang des Römischen Fußballreiches. Der Ausgleichstreffer der Schweden fiel äußerst glücklich in der vorletzten Spielminute. Und wenn man sich das Tor in Zeitlupe genauer ansah, dann sei schon angemerkt, dass der dänische Torwart Sörensen, wenn er denn wirklich gewollt hätte, den Ball festgehalten hätte, den ein tapferer Schwede schließlich in sein Tor schoss. Tat er aber nicht und so bleibt es müßig darüber zu sinnieren, ob das Heilige Römische Reich nicht doch einem finsteren nordischen Komplott zum Opfer gefallen war. Hamlet lässt grüßen! Und welch Fügung an diesem schicksalhaften Tage: Rom ist untergegangen, die Aufklärung, Schiller und Marbach haben gesiegt. Und ich habe ein bisschen von großer Literatur einatmen dürfen. Alea jact est!

Bis Morgännn!!!!


 
  
 
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