stumpy-joe - 25. Juni 2004 um 10:47:23 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 13 (Donnerstag, 24. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute haben der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima die portugiesische Seele errettet. Die Herrschaften hoch droben im Himmel ließen tief drunten auf dem Fußballrasen des „Estadio da Luz“ in Lissabon mindestens 15 heilige Fußballer sowie rund zehn Millionen Portugiesen vor den Fernsehschirmen durch das Fegefeuer schreiten und dabei Höllenqualen erleiden. Und vor allem Luis Figo haben sie errettet, der wahrscheinlich jetzt noch in der Umkleidekabine des Stadions sitzt und schmollt, um seine Seele und um das Fortbestehen allen irdischen Seins zittert. Sein Trainer nämlich, der explosive Brasilianer Luiz Felipe Scolari, der das ganze Viertelfinalspiel Portugal gegen England über nervös mit seiner rechten Hand in der rechten Hosentasche murmelnd und knödelnd am Spielfeldrand umher trippelte, hatte den begnadeten Fußballer und portugiesischen Volksheld eine Viertelstunde vor Schluss beim Stand von 1:0 für England ausgewechselt. Luis Figo, der just zuvor mit einem großartigen Schuss beinahe das 1:1 erzielt hätte, 65.000 Zuschauer im Stadion und 17,8 Milliarden Fußballfans auf der Erde – niemand wollte in diesem Moment die Welt und den Trainer Scolari verstehen. Wer, oh Herr, sollte denn jetzt noch Portugal retten? Es können wirklich nur der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima ihre salbungsvollen Hände im Spiel gehabt haben. Denn es begab sich wenige Minuten vor Spielbeginn in dem portugiesischen Restaurant „Lisboa“ in Stuttgart: Da schritt ein portugiesischer Fan in einem rot-grünen Trikot zur Tat. Er zündete fünf Teelichte an, stellte sie vor den Schrein der Jungfrau von Fatima auf ein drapiertes Bistrotischchen vor einer ausgebreiteten portugiesischen Flagge unter dem Kneipenfernseher und murmelte mit gefalteten Händen ein kurzes, intensives Gebet. Dass der Schrein komplett aus Plastik war und wahrscheinlich in einem Trödelladen im Bohnenviertel für 3,99 Euro erstanden worden war, spielt jetzt nicht die geringste Rolle. Es geht hier schließlich um Höheres, um ganz Hohes, weswegen dem portugiesischen Fan die zahlreichen deutschen Schmunzler um ihn herum ob seines liturgischen Spektakels herzlich egal waren. Er blickte uns Ungläubige nur kurz grimmig und seelisch überlegen in die Augen, stellte sich zu seinen beiden anderen rot-grün gekleideten Fans, dem Wirt und seinem Kumpel, und hatte nur eines im Sinn: Lieber Gott und Jungfrau von Fatima, macht, dass Portugal gegen England gewinnt und ins Halbfinale einzieht! Wir werden auch weiter ehrfürchtig Eurer gedenken und bis ins Jenseits hinein an Euch glauben. Die Erbittung hielt exakt zwei Minuten an, dann zirkelte der Engländer Michael Owen eine verunglückte Abwehr eines portugiesischen Abwehrspielers Costinha über den Keeper hinweg zum 1:0 für England ins portugiesische Tor. Der Liebe Gott schien für einen Moment in der Nase gepopelt zu haben. Oder er wollte es richtig spannend machen und seine Schäfchen einfach nur leiden lassen. Aber so Teelichte, die brennen ja lange... Wie auch immer. Die Portugiesen bestürmten in der Folge 80 Minuten lang vergeblich das englische Tor und ihre Fans in der Kneipe durchschritten in dieser Zeit die Hölle. Das wohl aber demütig und ohne den Lieben Gott, die Jungfrau von Fatima und ihre Fußballheiligen auf dem Rasen innerlich zu schmähen. Denn bei so viel Demut konnten der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima gar nicht anders, als eine Viertelstunde vor Schluss eine Fügung in die rechte Hosentasche des Trainers Luiz Felipe Scolari zu schicken. Scolari holte daraufhin seine Hand aus der Hosentasche, winkte damit den Ersatzspieler Postiga auf den Rasen und dafür den Volkshelden Luis Figo in die Umkleidekabine, wo dieser wahrscheinlich jetzt noch sitzt und schmollt. Wenige Minuten später wechselte Scolari noch einmal aus: Es kam Rui Costa ins Spiel. Und der Liebe Gott hatte recht und das Gebet des portugiesischen Fans in der Stuttgarter Kneipe hatte gewirkt. Fünf Minuten vor Schluss köpfte erst der eingewechselte Postiga das rettende 1:1. Fünf Millionen Portugiesen lagen sich in den Armen; es gab Verlängerung. Und es kam noch besser: Auch der zweite Einwechselspieler schien vom Herrn persönlich auf den Rasen geschickt worden zu sein: Rui Costa hämmerte die Silberkugel in der Verlängerung zum 2:1 ins englische Tor. Zehn Millionen Portugiesen schienen jetzt errettet zu sein. Die portugiesischen Fans im „Lisboa“ schickten zahlreiche Gebete gen Himmel. Szenen wie in Lourdes und bei einer Papstmesse vor dem Petersdom spielten sich ab. Nur der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima hatten weiter kein Erbarmen mit ihren rot-grünen Schäfchen, die offenbar noch immer nicht genug gelitten hatten: Die beiden Sadisten im Himmel wollten vor ihrer Himmelsglotze nämlich ein Elfmeterschießen sehen und ließen deshalb den Engländer Frank Lampard fünf Minuten vor dem Ende der Verlängerung das 2:2 erzielen. Der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima bekamen, was sie wollten - und belohnten deshalb die Portugiesen für ihr demütiges Leiden und für ihren unerschütterlichen Glauben. Zuerst bedachten sie den ungläubigsten aller Fußballspieler mit der Schmach seines Lebens: Sie machten, dass der Engländer David Beckham bei seinem Elfmeter vor Milliarden Menschenaugen bei seinem Schuss in seinem linken Schnürsenkel oder einem Stück Rasen hängenblieb, den Ball über das Tor drosch und dabei fast auf die Schnauze fiel. Es sah wirklich aus wie die Strafe Gottes für die hässlichsten Tattoos, den gierigsten Schlund, das dämlichste Gequatsche und die schlechteste fußballerische Leistung des Turniers (nach den Deutschen). Beckham wird für den Rest seines Lebens wohl in der Fußballhölle schmoren müssen. Und weiter ging’s nach dem Drehbuch Gottes: Denn scheinbar schien auch der gute Rui Costa in seinem vorigen Leben etwas falsch gemacht zu haben. Die Freude über sein 2:1 hielt nämlich nicht lange an – auch er verschoss seinen Elfer und drohte nun damit, sich und zehn Millionen Portugiesen in die tiefste Depression seit dem Verlust ihrer Vormachtstellung als Seefahrernation im 16. Jahrhundert zu stürzen. Doch dann schickten der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima die nächste Fügung ins „Estadio da Luz“. Sie traf wieder den offenbar in jeder Hinsicht braven Spieler Postiga: Denn als ob’s ein Schülerkick im Pausenhof im Lissaboner Arbeiterviertel sei, lief er an, und sluppte die Kugel unterschnitten über den englisch Torwart Calamity-James ins Tor. Was für eine coole, ja geniale Frechheit in der wichtigsten Situation der portugiesischen Welt vor den Augen von Milliarden Menschen! Was der Liebe Gott dem guten Postiga wohl geschickt haben mag? Wir wissen es nicht, wir ahnen nur, dass er und die Jungfrau von Fatima nun die nächste Fügung hinab sandte – sie landete in den Händen und im rechten Fuß des portugiesischen Torwarts Ricardo. Als es nämlich Spitz auf Knopf stand, hielt Ricardo einen Elfer des bedauernswerten englischen Stürmers Vassell – und zwar ohne Torwarthandschuhe! Und als ob dies der Heldentaten nicht genug sei, schnappte sich Ricardo kurz darauf den Ball und versenkte die Kugel mit dem nächsten Elfer im englischen Tor. Portugal hatte gewonnen und zog ins Halbfinale ein. Oder anders gesagt: 15 heilige Fußballer (elf Spieler, drei Ersatzspieler und der Trainer Scolari), der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima hatten ein ganzes Volk errettet. Im „Lisboa“ lagen sich Stuttgarter Portugiesen in den Armen und der Mann, der vor dem Spiel die Teelichte unter dem Schrein auf dem Tischchen vor der Fahne anzündete und betete, der schritt noch einmal an seinen Altar, faltete die Hände, senkte sein Haupt für ein Moment und stieß vor den immer noch leuchtenden Teelichten einen kurzen Freudenjubel aus. Dann hängte er die portugiesische Flagge vor die Kneipe, gab mir einen Klaps auf die Schulter und sagte: „Bis zum nächsten Spiel“. Und hinterließ damit einen Tagebuchschreiber von Sinnen: War ich am Ende Teil der portugiesischen Fußball-Liturgie? Bin ich etwa ein portugiesisches Fußballmaskottchen? Muss ich jetzt katholisch werden und zum Halbfinale wieder das St.Pauli-Retter-T-Shirt anziehen? Und werden dann auch die gegrillten Sardinen und der Wein billiger für mich? Ich bin irritiert, aber irgendwie entzückt. Und denke an Luis Figo, den der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima inzwischen bestimmt aus der Umkleidekabine geführt und wieder in ihre portugiesische Mitte geschlossen haben. P.S.: Falls jetzt irgend jemand irgend etwas vermisst haben sollte, noch dies: In der 27. Minute vertrat sich der 18jährige englische Stürmer Wayne Rooney den Knöchel und wurde ausgewechselt. Jener Wayne Rooney, von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“. Ich wollt’s einfach nochmal gesagt haben. Bis Morgänn!!!! |
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