get shorties labor
 

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 15 (Samstag, 25. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute war ich mal ganz hip! Hab‘ mich in meine wildledernen Bowlingschuhe, eine Nichtjeans mit modischem Haltebügel (denn „Hip Teens don’t wear Bluejeans“) und ein fein kariertes Siebzigerjahrehemd geworfen, darüber ein FDJ-farbenes Kapuzenteil gezogen und bin in die szenischste Szenenkneipe Stuttgarts gefedert: dem „Lotus“ in der Theodor-Heuss-Straße. Da sind Leute drin, die könnten direkt aus der Vodafone- oder der Bluna-Werbung hinein gebeamt worden sein. Und weil sie dort alle modische 70er-Jahre-Turnschuhe, 70er-Jahre-Turnleibchen mit einer Rückennummer drauf und Günter-Netzer-, beziehungsweise Karin-Tietze-Ludwig-Frisuren tragen, müssen sie ergo auch Fußball gucken. Das will der Wirt so und deshalb wird aufgefahren, was die Technik hergibt.

Draußen an der Seitenwand zur Straße hin steht eine Riesenleinwand unter zwei riesigen Schirmen, die vorm Regen schützen sollen. Daneben eine Getränkebar sowie genügend Klapptische und Klappstühle, damit jeder Besucher Platz haben sollte. Die Betonung liegt auf „sollte“, denn der Andrang zum Spiel Schweden gegen Holland ist so riesig, dass die meisten Leute um die Sitzgelegenheiten herum stehen müssen. Aber das tut man in den szenischsten Szenenkneipen in deutschen Großstädten sowieso ständig, weil man dann gleichzeitig die Beine und den Rumpf zu dem Lounge-Sound bewegen kann, der nonstop aus den Boxen dröhnt. Drum & Bass – schnelle Percussions mit treibenden, wuchtigen Bässen, darüber jazzige Melodien gelegt, meist aus Saxophonen und Trompeten kommend. Keine Gitarren und kein Gesang nerven den Szene-Smalltalk. Allenfalls die Lautstärke, aber das stört wahrscheinlich nur Leute wie den Tagebuchschreiber, die vorher den ganzen Tag in der abgeschiedenen Natur verbracht haben.

Schweden gegen Holland also. Rappelvolle Zuschauerränge vorm „Lotus“, man sollte es bei dieser Paarung nicht glauben. Aber wahrscheinlich hat das Interesse doch etwas mit den Farben zu tun. Denn Gelb-Blau und Orange sind ja wohl die oberschicksten Trendfarben der Saison, und sowas zieht die Szene magisch an. Dumm nur, dass die einen, die Holländer nämlich, heute nicht in den erwarteten Farben angetreten sind. Was im sachverständigen Publikum denn auch sofort essentielle Fragen aufwirft, die uns der TV-Reporter, der nur über Taktik und das Spiel schwafelt, natürlich nicht beantworten kann. Da müssen jetzt die modischen Typen ihrer modischen weiblichen Begleitungen ran. Folgende Frage kurz nach dem Anpfiff von ihr an ihn: „Duhuuuu, Du kennst Dich doch aus.“ „Klar, frag‘ mich!“ „Warum haben die Holländer heute keine orangenen Trikots an?“ Tja, da muss selbst der Fußball-Oberchecker kurz nachdenken, hat dann aber schnell die richtige Antwort parat: „Weil das ihre Ersatztrikots sind“. Das hat gesessen. Die weibliche Begleitung nickt, nuckelt an ihrem coolen Drink und sieht sich fortan das Spiel an – ohne weitere Fragen zu stellen. Und weil die Holländer also nicht in der Modefarbe der Saison spielen, wird klar, wem die Sympathien des Publikums gehören: Gelb-Blau, der anderen Modefarbe der Saison.

Es sind aber auch originäre Sympathien für die Skandinavier zu identifizieren, denn es sind auch einige Schweden anwesend, die ihr Gelb-Blau, wie sich's in so einer Location gehört, nur dezent auf- und angetragen haben. Keine auffälligen und prolligen Fanartikel also, die Ausgehklamotten sind indes höchstwahrscheinlich vier Stunden lang vor dem Spiegel mit dem Rest des Körpers farblich abgestimmt worden. Und auch im Gesicht oder auf der Haut sind keine Fanausweise zu erkennen, man muss sich schließlich bei einer Niederlage des eigenen Teams relativ inkognito verkrümeln können. Und in einer der szenischsten Szenenkneipen wie dem „Lotus“ schickt sich Fanaufmachung sowieso nicht. So kann man sich ja nach dem Spiel nicht an der Bar oder auf der Tanzfläche blicken lassen und dabei einen coolen Drink schlürfen. Nein, das geht ja nun gar nicht. Was sollen bloss die anderen sonst denken? Da wird dann bestimmt drüber geredet: „Mensch, hast Du gestern gesehen?“ „Huch, nein, was denn?“ „Die Sophie und der Dominik“. „Was ist mit den beiden? Sag‘ schon! Sind die jetzt zusammen?“ „Nein, die K-l-a-m-o-t-t-e-n! Die hatten so, so, so Fußballsachen an. Farbe im Gesicht, Mützen, so Fansachen halt“. „Nein, wie primitiv! Meinst Du, mit denen kann man noch weggehen?“ „Hm, weiß nicht“. „Komm, lass‘ uns erstmal Shoppen gehen. Ich brauch‘ neuen Fummel“. „Ok, gute Idee, ich nämlich auch“. Blau-Gelb wird’s wohl werden, tippe ich. Oder doch Orange?

Egal, das wird Montag sein. Jetzt erstmal Fußballgucken und mitfiebern. Und wenn draußen schon kein Platz ist, dann kann man das Spiel ja auch in den geräumigen Innereien des „Lotus“ angucken. Zum Beispiel spiegelverkehrt. Denn die Leinwand steht vor dem Haus vor einer riesigen Fensterfront und bekommt ihr Bild aus einem Projektor, der im Inneren der Kneipe steht und die Leinwand von hinten bestrahlt. Der Effekt: Stellt man sich in der Kneipe neben den Projektor, sieht man das Spiel auch – nur eben spiegelverkehrt. Aber weil in der zweiten Halbzeit immer mehr Gäste kommen und dieselbe Idee haben, kann man das Spiel auch da nicht mehr richtig angucken. Doch auch für diese Situation haben die „Lotusmacher“ einen Ausweg gefunden. Über der Flaschenbatterie hinter dem Tresen hängen zwölf Monitore, aus denen allen das Fußballspiel strahlt. Pro Barhocker ungefähr ein Monitor. Und das kommt nicht schlecht: Bei oberlautem Lounge-Sound auf einem Lederwürfel sitzen und in zwölf Monitoren über der Bar ein Fußballspiel angucken. Dazu einen Drink schlürfen und nebenbei beobachten, wie sich das distinguierte Szenevolk heutzutage aufführt. Als es dann zum Elfmeterschießen kommt, versammeln sie sich doch alle wieder vor den Bildschirmen und Leinwänden und bei jedem Schuss wird klar, dass auch im neutral gekleideten Publikum nur eine Minderheit die Holländer gewinnen sehen will. Die Hoffnung stirbt letztlich doch, denn Oranje gewinnt sein erstes Elfmeterschießen seit 412 Jahren und die Schweden müssen nach Hause fahren.

Aber nur eine Handvoll Schweden sitzt noch eine Weile betrübt vor ihren Drinks, der Rest hat die traurige Nachricht wenige Augenblicke nach Spielende per MMS, SMS oder SOS mit den um den Hals baumelnden Miniaturhandys in den Kommunikationskreislauf hinausgeschickt. Oder war’s doch nur eine lapidare Botschaft an die Fußballmuffel im Bekanntenkreis? „Spiel ist aus Holland gewonnen Sind im Lotus Kommt Ihr noch nach?“ Und mich fragt mal wieder niemand. Kein Wunder, hab‘ auch kein Handy dabei und wahrscheinlich auch den falschen Fummel an. Weder Orange, noch Gelb-Blau. Und FDJ-blau ist ja schon lange ober-mega-out. Heimfahren. Schlafen. Und...

...bis Morgänn!!!!


 
  
 
online for 8174 Days
last updated: 10.06.03, 07:45
status
You're not logged in ... login
menu
... home
... search
... topics
... 
... antville home
November 2024
So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.
12
3456789
10111213141516
17181920212223
24252627282930
März
recent
recent

RSS Feed

Made with Antville

INFECTED BY

Memoryfice

alletagekunst

osterholzallee

powered by
Helma Object Publisher