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Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 21 (Sonntag, 4. Juli 2004) „Liebes Tagebuch. Seit heute gelten andere Gesetze. Paragraph 1: Die Literaturwissenschaft hat ein neues Genre bekommen: Geschichten, die aus Griechenland kommen, sind nicht mehr zwangsläufig Mythen, Sagen oder Tragödien. Es gibt jetzt auch das griechische Märchen. Ursprünglich war ja von einer Komödie die Rede. Doch auf das, was heute geschehen ist, trifft wohl eher der Begriff Märchen zu. Denn wer hätte schon gedacht, dass Griechenland Fußball-Europameister wird? Noch dazu mit Otto Rehhagel als Trainer und einem taktischen Spielsystem (Libero, Manndeckung, kämpfen, beißen, kratzen), mit dem vielleicht die Deutschen unter Berti Vogts vor zehn Jahren den letzten Blumentopf gewonnen haben? Niemand, völlig richtig! Paragraph 2: Portugal kann gegen Griechenland nicht gewinnen. Sie haben sich schon im Eröffnungsspiel die Zähne an Ottos Griechen ausgebissen. Und auch heute gab es keinen Weg durch die griechische Betonabwehr. Paragraph 3: Portugiesen sind scheinbar Loser. Denn sie haben noch nie ein großes Turnier gewonnen. Nichtmal das eigene.

Dabei haben meine Freunde vom „Lisboa“ in Stuttgart auch diesmal alles dafür getan, dass es klappt. Zum Finale gibt es wieder ein „EM-Menü“, diesmal mit Schinken- und Käseplatte als Vorspeise. Im Hauptgang gegrillte Dorada mit Salzkartoffeln, grüne Bohnen, Broccoli, Karotten und Knoblauchsauce oder Rumpsteak mit Kräuterbutter, Bratkartoffeln und Salat plus ein Glas Wein oder ein Bier. Und sollte Portugal Europameister werden, so steht‘s auf der Karte, gibt’s wieder ein Gratisgetränk. Dann haben sie nicht nur ihre Tische, Wände und Theken mit Portugalfahnen eingedeckt, sondern auch sich selber sowie ihre Frauen und Kinder von Kopf bis Fuß rot-grün eingehüllt. Und angemalt haben sie sich auch im Gesicht, selbst ein paar deutsche Gäste haben sich zur Feier des Tages die portugiesische Fahne ins Gesicht geschminkt. Nicht zu vergessen die Liturgie: Die fünf Teelichte vor dem Schrein der Jungfrau von Fatima leuchten schon lange vor Spielbeginn. Und auch die Öffentlichkeitsarbeit funktionierte offenbar wieder prächtig: Nachdem in den vergangenen Tagen wohl jedes Blatt in der Umgebung über das „Lisboa“ berichtete, ist das Lokal auch heute wieder proppevoll. Klar, dass auch die Presse zum Endspiel wieder da ist. Diesmal muss es die BILD-Zeitung oder irgendeine schnelle Nachrichtenagentur sein, denn die junge Reporterin packt noch während des Spiels ihr Notebook auf den Tisch und hackt ihre Reportage hinein - immer im Handykontakt mit ihrer Redaktion. Derweil der Fotograf die verkleideten Portugiesen dazu bringt, für ihn klatschend in die Höhe zu springen und dabei ihre Mannschaft anzufeuern (obwohl der Fernseher ganz woanders hängt, aber da kann man nicht fotogen klatschend hochspringen und anfeuern).

Während des Spiels lässt die Stimmung allerdings nach. Denn Luis Figo & Co. haben abermals keinen Plan, wie sie die Griechen knacken sollen. Zwar wird jede ihrer gelungene Aktion von drei älteren deutschen Frauen am Nebentisch kreischend und klatschend begleitet. Schon allein wegen dieser Geräusche ist man aber froh, dass die Portugiesen kein Tore schießen. Was auch gar nicht geht, denn anstatt in Mannschaftsstärke den griechischen Strafraum zu stürmen, bleiben die Portugiesen nach jeder Balleroberung erst mal im Mittelkreis stehen, was den kreischenden Frauen harsche Fachkommentare abnötigt: „Was hab‘ ich gesagt?“, fragt die eine in die Runde und hebt dirigierend ihre Hand dazu. „Die warten zu lange mit dem Pass in die Tiefe“. Die anderen beiden Frauen nicken bestätigend und fordern umgehend Stürmer Nuno Gomes, denn der sehe sowieso viel besser aus als Pauleta, welcher wiederum im ganzen Turnier erst drei Torschüsse zustande gebracht habe, wie ZDF-Reporter Bela Rethy mitgezählt haben will. Auch Mittelfeldstar Rui Costa wollen die drei Frauen jetzt sehen. Doch gemach der Wallung, denn erst mal ist Pause. Es herrscht Ernüchterung im „Lisboa“: 0:0 und kaum Torchancen für die Portugiesen. „Das wird nichts mehr“, unkt einer der verkleideten Portugiesen zu mir rüber und schüttelt dabei pessimistisch mit dem Kopf. Da war sie wieder, die portugiesische Melancholie. Nur gut, dass Reinhold Beckmann das Spiel nicht kommentiert; er hätte meine Freunde vom „Lisboa“ wahrscheinlich schon längst wieder Fado singend kollektiv in den Selbstmord getrieben.

Die zweite Halbzeit beginnt, aber nichts ändert sich im Spiel. Im Gegenteil: Charisteas, der Bremer, köpft das 1:0 für Griechenland und sein Trainer Otto Rehhagel vom TuS Helene Essen hüpft an der Seitenlinie herum wie ein Flummiball. Entsetzen im „Lisboa“. Kein Anfeuern mehr, kein Optimismus. Sie haben wohl alle noch das Eröffnungsspiel im Hinterkopf. Damals gewannen die Griechen 2:1 gegen die ihren. Dann tut der portugiesische Trainer Scolari den drei älteren Frauen in der Kneipe den Gefallen und wechselt nacheinander Rui Costa und Nuno Gomes ein. Aber auch das nutzt nicht viel, denn die Griechen verteidigen ihre Führung bravourös. Still und mutlos stehen die verkleideten Portugiesen vor dem Fernseher, schütteln deprimiert mit dem Kopf und wenden sich vom Bildschirm ab. Doch auch die Bedienung der Gäste gibt keine Ablenkung, sie müssen’s ja mit anhören. Nur kurz vor Schluss, als ein Kerl mit der T-Shirt-Aufschrift „Jimmy Jump“ den Platz im „Estadio da Luz“ stürmt, ins Netz des griechischen Tores springt und anschließend in den Armen der Sicherheitskräfte zappelt wie ein gefangener Fisch, hebt sich die Stimmung im Saal für einen Moment.

Paragraph 4: Ich bin doch kein portugiesisches Maskottchen, und die Jungfrau von Fatima anzurufen funktioniert auch nicht immer. Denn kurz nachdem Luis Figo in der Nachspielzeit am Tor vorbei schießt, pfeift der deutsche Schiri Dr. Markus Merk das Spiel ab. Schluss. Aus. Vorbei. Griechenland feiert, Portugal weint - auf dem Fußballplatz, im Stadion und im „Lisboa“. Paragraph 5: Portugiesen sind beileibe keine Loser. Sie haben vielleicht das EM-Finale verloren, nicht aber Anstand und Stil. Zumindest nicht die Leute vom „Lisboa“, denn die sind allesamt gute Verlierer und prima Gastgeber. Beim Schlusspfiff stehen sie nämlich vor dem Fernseher und klatschen den griechischen Siegern und der eigenen Mannschaft Beifall – und geben ihren Gästen trotzdem einen aus. Und als der Wirt den Karton „Sagres“ auf den Tisch stellt, gibt‘s mächtig Beifall von den Kneipengästen. Der Aufforderung, mit ihnen weiter zu feiern, kommen vor allem die drei älteren Frauen gerne nach. Ich aber trinke mein Freibier aus und verabschiede mich mit einem Trost an meine Freunden vom „Lisboa“. Drei schöne Wochen waren‘s, auch wenn es zum Sieg nicht gereicht hat. Auf dem Weg zur Stadtbahn rasen griechische Fans in ihren Autos laut hupend und Fahnen schwenkend in Höchstgeschwindigkeit in Richtung Autokorso an mir vorbei. Aber auch portugiesische Fans sehe ich darunter. Es wird also wieder, wie vor zwei Wochen, eine vierfarbige Verstopfung der B27 geben: in blau, weiß, rot und grün - und garantiert eine lange griechisch-portugiesische Nacht in Stuttgart.

Ende Gelände!!!


 
  
 
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