stumpy-joe - 2. Juli 2004 um 12:39:41 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 20 (Donnerstag, 29. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute habe ich eine griechische Komödie gesehen. Beziehungswiese den vorletzten Aufzug davon. Oder war’s ein Märchen? Egal, der erste Aufzug begann jedenfalls schon vor drei Jahren, als ein älterer, scheinbar ausgelaugter, antiquierter und verschmähter deutscher Fußball-Lehrer nach Griechenland auszog, um ein offensichtlich am Boden liegendes Etwas zum Leben zu erwecken und Ruhm und Ehre über es zu bringen. Und der Chor in seinem deutschen Heimatland lästerte: „Hahaha, Otto geht nach Griechenland, Otto geht nach Griechenland. Seine Rente abholen. Schön, dass er endlich weg ist. An den leistungsrenitenten Bakschisch-Griechen mit ihren korrupten Verbandsbossen wird er sich er sich schön die Zähne ausbeißen. Hahaha, tirilihihi“. Zweiter Aufzug: Otto trat seinen Dienst an und die Griechen verloren die ersten Spiele ziemlich hoch und Ottos Kritiker sahen sich bestätigt und lachten und im Griechenland gab keiner auch nur einen Pfifferling auf die Mannschaft. Dann, in der EM-Qualifikation, schlugen Ottos Griechen plötzlich die Spanier in deren eigenem Stadion und alle wollten nur einen Zufall darin gesehen haben und Otto tat, was er immer tat: tiefstapeln, die Tat herunter reden und seine Spieler als Lehrlinge bezeichnen. Es gab ihnen ja eh keiner eine Chance in der Gruppe. Und der Chor nörgelte abfällig zu Otto: „Zufall, alles Zufall. Die Spanier waren müde und haben Deine Griechen unterschätzt. Und wenn die Spanier mal richtig aufdrehen, dann gibt’s Haue, Haue, Haue. Hahaha.“ Und Otto grinste verschmitzt und dachte sich nur: „Ihr werdet Euch alle noch wundern.“ Dritter Aufzug: Nach dem Spiel in Spanien verloren die Griechen kein einziges Qualifikationsspiel mehr, kassierten kein weiteres Tor, wurden souverän Gruppensieger und dafür mit der Teilnahme an der EM belohnt. Und in Griechenland wurden sie erstmals richtig aufmerksam auf die Mannschaft und den Otto und sie erinnerten sich alle daran, dass er in Deutschland nur „König Otto“ genannt wurde. Und irgendwie passte das zu Griechenland. Zum ersten Mal seit 1980 waren sie wieder bei einer EM dabei, und zum ersten Mal seit 1994, als sie bei der WM in den USA mit 0 Punkten und 0 Toren nach Hause geschickt wurden, überhaupt wieder Teilnehmer an einem wichtigen Turnier. Für Otto eine ganz tolle Sache, für seine Chorkritiker allenfalls ein anerkennendes Nicken wert, aber immer noch kein Grund, ihn wirklich zu schätzen. Und der Chor sang: „Ihr, Ottos Griechen, werdet bei der EM so böse Prügel beziehen, dass Ihr Euch gewünscht hättet, gar nicht erst dabei gewesen zu sein, dideldumm, dideldumm, trara“. Und Otto nickte seinem Kritikerchor höflich zu, dachte sich: „Wir werden ja sehen...“, sprach aber laut wie er es seit jeher tat: „Wir sind die Außenseiter, wir können hier nur lernen, wir sind aber glücklich, überhaupt dabei zu sein“. Dideldumm, dideldumm, dideldumm. Vierter Aufzug: Eröffnungsspiel Portugal gegen Griechenland. Der Gastgeber, hoher Favorit mit Weltklassespielern und einem Trainer, der Brasilien schon zum Weltmeister machte, gegen den krassen Außenseiter Griechenland, mit einem Trainer, der zwar schon mehrfach Deutscher Meister und Pokalsieger und auch schon Europacupsieger war, dem aber als Griechenlands Trainer eher das wohlwollende Etikett des Entwicklungshelfers anhaftete. Doch nach sechs Minuten in diesem Spiel erzielten die Griechen das 1:0 und in der Folge bissen sich die hoch gelobten und technisch perfekten Portugiesen an einer griechischen Betonabwehr die Zähne aus. Otto hatte den klischeemäßig laschen und undisziplinierten Griechen deutsches Abwehrverhalten beigebracht und seine Spieler dazu gebracht, sich an Struktur und Vorgaben zu halten. Am Ende gewannen die Griechen das Spiel mit 2:1 und die Fachwelt war wie paralysiert. Vor allem der Kritikerchor zog erstmals den Hut: „Gratuliere, gratuliere, tolle Leistung. Wir freuen uns für Dich, lieber Otto.“ Erstmals waren sie also lieb zu ihm, so richtig ernst nahmen sie ihn aber immer noch nicht. Nur Otto, der freute sich mit seiner Mannschaft wie ein Schneekönig. Für ihn und die Griechen war das ein tolles Erlebnis, das sie mit Lust am Ereignis und nicht mit irgendwelchem Erfolgsdruck angingen. Und sie wurden eine kleine, verschworene Gemeinschaft. Die Süddeutsche Zeitung titelte: „Werder Bremen ist Griechenland“. Fünfter Aufzug: Im zweiten Spiel gegen Spanien glich Charisteas, Ottos Lieblingsspieler von Werder Bremen, die spanische Führung aus. In der Folge bissen sich die Spanier an der griechischen Abwehr genauso die Zähne aus, wie es die Portugiesen im Eröffnungsspiel taten. 1:1 endete das Spiel, die Griechen waren damit praktisch eine Runde weiter, weil sich Portugal und Spanien im letzten Spiel gegenseitig aus dem Turnier kegeln mussten. Derweil tanzte Otto mit seinen Spielern auf dem Spielfeld eine Mischung aus Sirtaki und Rumpelstilzchen und gab dem Kritikerchor freudvolle Interviews. Inzwischen freute sich sogar schon der Chor für ihn und nach dem letzten Spieltag musste er kleinlaut singen: „Otto ist jetzt neben Schiedsrichter Merk der letzte Deutsche im Turnier“ – und so mussten sie ihm aus lauter Patriotismus auch noch die Daumen halten, ob sie wollten oder nicht. Währenddessen brach bei den Deutschen alles zusammen. Sie schieden aus dem Turnier aus, der Teamchef warf hin und im Chor sangen sie jetzt nur noch durcheinander und fielen gegenseitig über sich her. Jeder wollte der Chorleiter der Deutschen sein. Und Otto lachte und freute sich diebisch. Sechster Aufzug: Im Viertelfinale durfte Otto mit seinen Griechen gegen Welt- und Europameister Frankreich spielen. Für den Chor und alle anderen Experten die Übermacht im Fußball schlechthin: „Die kannst Du gar nicht schlagen“, sangen sie laut und rhythmisch und ihrer Sache sicher. Und weiter: „Otto wird gegen Frankreich sein blaues Wunder erleben, tirilihihi“. Und Otto antwortete: „Wir haben schon jetzt mehr erreicht als uns zugetraut wurde. Es ist für uns eine Ehre, gegen die großen Franzosen spielen zu dürfen“. Und dann lernten auch die Franzosen Ottos scheinbar antiquiertes System „Kontrollierte Offensive“ aus den Bestandteilen Betonabwehr, mannschaftliche Geschlossenheit und schnelles Passspiel kennen. Und die tollen Franzosen fanden keine Mittel, um den Griechen eins einzuschenken, wie der Chor wohl hoffte. Und dann liefen sie auch noch in einen Konter, den die Griechen zum 1:0 abschlossen. Der Reporter bekam schier einen Herzkasper und alle, alle, alle hoben Otto und seine Griechen plötzlich in den Olymp und holten alle Assoziationen und Klischees zu Griechenland heraus, die die Kulturgeschichte zu bieten hat. Und selbst der Chorleiter, Franz Beckenbauer, musste jetzt ein Loblied auf Otto knurrend anstimmen. Und weil die Deutschen ja sowieso gerade einen neuen Trainer suchten, wurden schon Ansätze eines Bittliedes an Otto getextet. Der aber sang zurück: „Ich habe hier noch einen Vertrag und möchte gerne in Griechenland bleiben.“ Derweil sie ihn in Griechenland schon als 13. Gott neben Herrn Zeus Pfeile werfen sahen und ihm schon die griechische Staatsbürgerschaft anboten. Denn laut EU-Recht musst Du wohl einen griechischen Pass haben, um Gott in Griechenland zu werden. Siebter Aufzug: Das Halbfinale Griechenland gegen Tschechien. Und wieder traute der Chor dem Otto nix zu: „Aber jetzt wirst Du Dein weißes Wunder erleben, denn so, wie die Tschechen spielen, werden sie Deine Mannschaft an die Wand dribbeln“. Nur der portugiesische Chor sang nach dem eigenen Halbfinalsieg gegen Holland: „Jetzt wollen wir im Finale gegen Griechenland spielen, denn mit Euch haben wir aus dem Eröffnungsspiel noch ein Hühnchen zu rupfen.“ Und am Anfang sah es ganz so aus als hätte der Chor recht: Die Tschechen hatten eine Riesenchance nach der anderen und Ottos Griechen kamen kaum vor das tschechische Tor. Doch dann verletzte sich Nedved, das Herz der tschechischen Mannschaft, und fortan war das Spiel ausgeglichen. Es musste sogar verlängert werden, weil die Tschechen auch die besten Torchancen nicht nutzten und Ottos griechische Betonabwehr diesmal auch viel Glück hatte. Und dann gab es Verlängerung und als alle mit dem Pausenpfiff rechneten, gab es Eckball für Griechenland und der Tagebuchschreiber flüsterte dem Chor ins Ohr: „Wenn sie jetzt treffen, ist das Spiel gelaufen“. Und der Fernsehsänger sang: „Wenn sie jetzt ein Tor schießen, ist das Spiel gelaufen.“ Und der Grieche trat die Ecke auf die Spitze des Turms der griechischen Betonabwehr. Von dort sprang der Ball ins Tor, der Schiedsrichter pfiff ab und die Welt hatte ihr erstes und wohl letztes „Silver Goal“ gesehen (siehe auch Tag 17). Ottos Griechen hatten auch die Tschechen erledigt und jetzt versank das Land unter dem Freudentrampeln seiner vielen Millionen Fans, die außer sich waren und gar nicht mehr aufhören wollen zu feiern. So etwas hatte das Land noch nicht gesehen und mittendrin stand Gotto Rehhagel, für den ein Traum in Erfüllung ging und dem jetzt ein Chor gegenüber stand und sang: „Du bist der Größte und der Schönste und wir verneigen uns vor Dir und willst Du nicht deutscher Nationaltrainer werden und uns in zwei Jahren zum WM-Titel führen?“ Und Otto sang zurück: „Ich werde jetzt erstmal mit meinen Spielern feiern“. Und lachte dabei in sich hinein. Und wir freuen uns alle schon auf den achten Aufzug am Sonntag, wenn das erste Spiel der EM auch das letzte sein wird. Wenn wir eine Partie sehen, die wohl die allerwenigsten getippt hatten, und die den, der sie getippt hat, jetzt wohl reich macht: Portugal gegen Griechenland. Zwei Mannschaften, die sonst eher niemand auf dem Zettel hatte und über die jetzt alle Kritikerchöre aus Frankreich, England, Deutschland, Spanien, Tschechien und Holland wohl auf Knien rutschend nur noch Loblieder singen dürften. Bis Morgännn!!! link me stumpy-joe - 1. Juli 2004 um 11:29:28 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 19 (Mittwoch, 30. Juni) „Liebes Tagebuch. Der Doktor hat recht gehabt: Heute ist alles wieder gut, denn es gibt wieder Fußball. Das EM-Halbinfale Portugal gegen Holland. Und es kann für mich nur einen Ort geben, wo ich mir das Spiel ansehe: das „Lisboa“ in Stuttgart. Schließlich habe ich einen wissenschaftlichen Auftrag zu erfüllen: Ich muss nicht mehr und nicht weniger tun als den empirischen Nachweis zu dokumentieren, dass Marienschreine mit fünf angezündeten Teelichten vor portugiesischen Flaggen unter Fernsehgeräten in portugiesischen Kneipen in Stuttgart dazu führen, dass die portugiesische Fußballnationalmannschaft wichtige Fußballspiele gewinnt. Und sie steht auch heute wieder da, wo sie stehen soll: Die Jungfrau von Fatima, die Schutzpatronin aller Portugiesen, wartet unter dem Kneipenfernseher auf den Anpfiff von Schiedsrichter Anders Frisk aus Schweden. Und vor ihr fünf Teelichte darauf, angezündet zu werden. Und außerdem will ich wissen, ob ich tatsächlich zum Portugiesen-Maskottchen tauge, wie ich nach dem Spiel gegen England leise vermutete. Die Besitzer vom „Lisboa“ haben ihre Kneipe für ein großes Fußballfest geschmückt. Jeder Tisch hat als Tischdecke eine portugiesische Fahne bekommen. Überall in der Kneipe baumeln rot-grüne Wimpel, Schals und Fahnen. An der Wand im Restaurant hängt ein Bild von Portugals Fußball-Legende Eusebio und der Wirt hat alle seine Kumpels zum Mithelfen zusammengetrommelt und sie dafür, wie sich selbst, in portugiesische Fußballtrikots gesteckt. Und sie haben wirklich alle Hände voll zu tun: Inzwischen ist Portugal nämlich auch in Stuttgart mega-in, denn auch wer sonst nicht viel mit Fußball am Hut hat, geht heute ins „Lisboa“, um sich den portugiesischen Festtag nicht entgehen zu lassen. Selbst die Stuttgarter Nachrichten haben einen Journalistenkollegen zum Verfassen eines Stimmungsberichts für die morgige Ausgabe dorthin entsandt - samt Fotografin, die ein bisschen Schwierigkeiten hat, den Kneipenbesitzer und seine Helfer so kurz vor Spielbeginn zu einem Gruppenfoto unter dem rot-grünen Schmuck im Thekenbereich zu versammeln. Dort müssen die vielen Gäste schwer zusammenrücken, damit jeder in den Fernseher blicken kann. Auch das Restaurant ist voll; alle Tische sind besetzt, meist mit Pärchen, die sich für eineinhalb Stunden zugunsten eines Fußballspiels vergessen. Die Gäste lesen vergnügt die in rot-grüner Schrift gehaltene Tageskarte durch, die überall ausliegt. Zur Feier des Tages gibt’s nämlich etwas ganz Besonderes: das EM-Menü für 23,50 Euro. Als Aperitif einen Portwein, als Vorspeise Stockfisch, frittierte Sardinen und Kroketten und im Hauptgang eine „gegrillte Fischplatte“ (wie sich die wohl zerschneiden lässt?) mit Salzkartoffeln, grünen Bohnen, Broccoli, Karotten und Knoblauchsauce. Dazu ein „Sagres“, das portugiesische „Warsteiner“, wahlweise ein Glas Wein. Und wenn Portugal gewinnt, gibt es „ein portugiesische Getränk GRATIS! GRATIS! GRATIS! GRATIS!“. Dann betreten die Spieler den Rasen und formieren sich zum Abhören der Nationalhymne. Die Kamera zeigt auf Luis Figo, der die Portugiesen heute wieder anführt. Alle sind erleichert, dass er pünktlich zum Halbfinale wieder aus seiner Schmollecke herausgekommen ist. Der Reporter Reinhold Beckmann erzählt den Fernsehzuschauern, dass Figo in den letzten Tagen ganz viel mit der Jungfrau von Fatima gesprochen habe, weil er doch zuletzt nicht so gut gespielt hatte, deshalb im letzten Spiel ausgewechselt wurde, deshalb lange geschmollt hat und seinem Trainer gram war und deshalb ganz Portugal in Angst und Schrecken versetzt hat ob des dräuenden Unfriedens, der die Mannschaft um den Sieg bringen könnte. Jetzt ist aber alles wieder gut, die Jungfrau von Fatima hat Luis Figo beruhigt und er ist wieder der Leader of the Pack. Auch die Sternen stünden gut, wie Beckmann ergänzt, für all diejenigen, die nicht an Jungfrauen von Fatima, sondern lieber an Horoskope glauben. Dann ertönen die Hymnen. Das ganze Stadion singt mit und im „Lisboa“ halten der Kneipenbesitzer und seine Freunde inne, ebenso die Gäste. Doch da! Was ist das? Die Teelichte brennen noch nicht!! Wie soll Portugal so gewinnen? Ich mache den Liturgiebeauftragten der Kneipe darauf aufmerksam, der völlig außer sich ist, sich daraufhin schnell den Weg zum Schrein bahnt und die Lichte anzündet. Uff, es hat gerade noch gereicht. Jetzt kann wirklich nichts mehr schief gehen. Das Spiel beginnt und die Portugiesen legen gleich los wie die Feuerwehr. Sie sind klar die bessere Mannschaft und das gefällt auch dem Frauentisch neben mir. Vier Ladys um die 30 haben sich offenbar von ihren Männern für heute frei genommen und sich einen Frauenabend gegönnt. Und nach den Kommentaren zu urteilen, weiß ich auch, warum: Sie warten auf die Nahaufnahmen von den Spielern. Die eine steht auf Figo, eine andere observiert den dunkelhäutigen Holländer Edgar Davids („Hmmm, der sieht aber auch gut aus. Aber sieht der überhaupt was mit seiner Brille?“) und alle zusammen finden den 19jährigen Christiano Ronaldo „so süüüüüüüß“. Und als der das 1:0 erzielt und sich beim Jubel seines Trikots entledigt, ist es um den Frauentisch geschehen. Bei so viel Zustimmung aus dem weiblichen Publikum nimmt Ronaldo fürs Trikotausziehen gerne auch die Gelbe Karte in Kauf. Und wahrscheinlich hat sich auch Davids davon beeindrucken lassen, dass eine der Damen am Tisch so auf ihn steht. Denn während Ronaldo das 1:0 köpft und damit das „Lisboa“ und ganz Portugal in Ekstase versetzt, lehnt Davids lässig am Pfosten und sieht zu, wie der Ball ins Tor geht. Das kommt davon, wenn sich Fußballspieler von weiblichen Blicken ablenken lassen. Zur Pause steht’s 1:0 und der Wirt vom „Lisboa“ macht das Geschäft seines Lebens. Bis auf einen verirrten Hollandfan halten alle Gäste zu Portugal, sind ob der tollen Leistung der Mannschaft hoch zufrieden und bestellen, was das Zeug hält. Im Pausenbericht ist die ARD-Reporterin bei den Eltern des obercoolen portugiesischen Torwarts Ricardo zu Gast. Genau der, der beim Elfmeterschießen gegen England David Beckham so erfolgreich provizierte, dass der seinen Elfer vergeigte, der anschließend seine Torwarthandschuhe wegwarf, den Elfer des Engländers Vassell mit bloßen Händen parierte und den entscheidenden Strafstoß schließlich selbst verwandelte. In dessen Elternhaus also weint die Mama während der Hymne, hat der Sohn ein Kruzifix im Mund und ein Handy in der Hand und versucht der Papa, die unangenehme Situation mit einem deutschen Fernsehteam in seinem Wohnzimmer mit Würde zu überstehen. Zweite Halbzeit. Die Holländer versuchen es jetzt mit dem FC-Bayern-Stürmer Rheuma-Kay, doch das Tor erzielen die Portugiesen. Maniche zirkelt einen Ball vom Strafraumeck an Keeper Edwin van der Sar vorbei in den Torwinkel. Jetzt flippt Portugal komplett aus. Und selbst die Frauen am Nebentisch vergessen für einen Moment ihre wahren Wahrnehmungsintentionen: „Jetzt haben es die Holländer aber verdammt schwer“, nicken sie sich fachfrauisch zu und Reinhold Beckmann scheint von der Situation derart ergriffen zu sein, dass er jetzt nur noch Portugiesisch kommentiert. Zumindest versucht er’s und es hört sich natürlich völlig idiotisch an. Eine Deutsch-Portugiesin am Tresen lacht sich einen Ast, wie Beckmann zum Spieler Simao ständig „Schimao“ sagt, weil er offenbar meint, auch das Anfangs-S werde „Sch“ gesprochen. Völlig falsch, meint die Frau, doch Beckmann tut weiter so, als habe er die portugiesische Sprache erfunden. Dann fällt der Anschlusstreffer der Holländer durch ein Eigentor und der Frauentisch kommentiert das völlig nüchtern: „Ein Eigentor! Und was für ein klassisches!“ Danach herrscht Totenstille der in Kneipe und im Stadion und Reinhold Beckmann darf wieder über die Angst und die Melancholie und den Fado und all die anderen dämlichen Klischees von den portugiesischen Verlieren mit ihrem Hang zum Leiden dozieren. Und als dann auch noch der Stürmer Nuno Gomes eingewechselt wird, hat dieses Klischee wieder sein Gesicht bekommen: das Pudelgesicht, wie Beckmann sagt. Eine Viertelstunde vor Schluss ist auch der Frauentisch von der Spannung ums Spiel völlig ergriffen. Van Niestelrooy tritt den Torwart Ricardo und die Frauen diskutieren, ob das Absicht war oder nicht. Aber niemandem, nicht mal den Frauen, fällt auf, dass dem holländischen Trainer Advocaat wohl geraten worden ist, statt eines Schweißflecken verursachenden Nylonhemdes ein Schweiß absorbierendes Frotteehemd anzuziehen. Die Portugiesen retten das 2:1 über die Zeit, weil die Holländer nicht viel zustande kriegen. Im „Lisboa“ brandet großer Jubel auf und alle klatschen. Der Wirt und seine Freunde sind völlig happy und sie machen ihre Ankündigung von der Tageskarte wahr, holen einen Karton „Sagres“ aus dem Keller und verteilen Freibier an die ganze Kneipe. „Danke, aber i muss no fahrä“, hört man zwar auch aus der ein oder anderen Ecke, aber alle feiern irgendwie mit und gratulieren dem Wirt zum Sieg seiner Mannschaft. Da kommt auch schon der Radioreporter vom SWR in die Kneipe gestürmt und will von allen Portugiesen in sein Mikro gesprochen haben, wie glücklich sie jetzt sind, damit er noch in der Nacht den O-Ton-Beitrag über glückliche Stuttgarter Portugiesen für die Frühsendungen produzieren kann. Vor der Kneipe rasen unterdessen die ersten hupenden Autos mit portugiesischen Fahnen aus den Fenstern hängend die Weinsteige hinunter in Richtung B27, wo es wahrscheinlich die ganze Nacht über autokorsal zugehen wird. Sofern die Polizei das Feiern nicht irgendwann freundlich, aber bestimmt unterbindet, wovon in Stuttgart auszugehen ist. Das stört unter den Portugiesen aber wahrscheinlich niemanden mehr, denn sie haben ja den Beistand der Jungfrau von Fatima, die heute wieder alles gerichtet hat. Vor allem der portugiesischen Kneipenwirt, der gerade noch im richtigen Moment die Teelichte angezündet hat. Deshalb, und nur deshalb, steht Portugal jetzt zum ersten Mal im Endspiel eines wichtigen Turniers, und beim Abschied aus dem „Lisboa“ werde ich vom Kneipenwirt fröhlich auf den nächsten Spieltermin am kommenden Sonntag hingewiesen – das Finale! Scheinbar bin ich jetzt doch zum portugiesischen Maskottchen aufgestiegen. Und wenn ich am Sonntag nicht komme? Dann wird’s die Jungfrau von Fatima auch ohne mich richten. Vorausgesetzt, sie vergessen nicht, die fünf Teelichte anzuzünden... Bis Morgännn!!! link me stumpy-joe - 30. Juni 2004 um 12:02:37 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 18 (Dienstag, 29. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute war ich beim Arzt. Ich wollte mir eine Überweisung für die Suchtklinik holen. Schon am Morgen zitterte ich ein wenig. Meine Nasenspitze war kalt, mir fielen ständig Sachen zu Boden wie das Essen, die Zeitung oder die Küchengeräte. Ich lief in meiner Wohnung auf und ab und hin und her wie ein hungriger Tiger im Zookäfig. Zähne fletschend, fauchend, ungehalten. Zum Glück kam mir niemand in die Nähe. Die arme Sau hätte ich bestimmt so laut angeschrien, dass sie einen Herzinfarkt bekommen, mindestens aber fluchtartig meine Gegenwart verlassen hätte. So viele Sinne hatte ich aber noch beisammen, dass ich als aufgeklärter Fußballjunkie sofort wusste, was das war: ganz klar die ersten Entzugserscheinungen von der EM. Ein Tag ohne Live-Fußball, das ist wirklich hammerhammerhart. Lange darf das nicht andauern, allenfalls bis heute Abend. Sonst raste ich völlig aus. Ich schaltete das Radio an. Oh nein! Der Moderator auf „Das Ding“ war genau so drauf wie ich. Er fragte doch tatsächlich seine Hörer um Rat, wie er mit dem fußballfreien Tag umgehen solle und holte sich sodann einen weibliche Beistand aus der Redaktion ins Studio, die ihn erstmal sanft beruhigte. Doch so leicht ließ sich der Mann am Mikro nicht abkühlen. Mindestens ein Mal pro halbe Stunde sagte er mir über den Sender, „DASS HEUTE KEIN LIVESPIEL IM FERNSEHEN IST!“ „JA, HEULSUSE, ICH WEIß ES JETZT!!“, und schaltete um auf SWR3. Doch auch da fragte die Moderatorin ihre Hörer, was sie heute am zweiten fußballfreien Tag machen und holte auch ihren Redakteur ins Studio. Der sagte, er werde erst mal seine Wohnung von einer kompletten Schicht Kronkorken befreien und anschließend mit dem Dampfstrahler drüber gehen. Die Hörerumfrage auf SWR3 wollte ich mir erst gar nicht antun und versuchte es mit SWR1. Die älteren Herrschaften dort überbrückten den Tag mit der „Kleinen Länderkunde“ über die EM-Teilnehmer. Heute: Portugal. Und mit einem O-Ton-Beitrag über die Familie des Stuttgarter Linienrichters, der im Finale am Sonntag die Seitenlinie auf und ab laufen und immer dann mit der Fahne winken wird, wenn die Spieler etwas falsch machen. WER WILL DAS DENN HÖREN? Und auf allen Kanälen lief der EM-Song „Forca!“ von Nelly Furtado rauf und runter. ICH WILL DIESES LIED JETZT NICHT HÖREN! Irgendwie musste ich einsehen, dass es heute doch kein Livespiel gab, schaltete das Radio aus und ging ins Internet. Fußball wenigstens lesen und klicken. Das neueste, allerneueste und brandaktuellste von der EM erfahren. Yahoo, Kicker.de, Sport1, Spiegel Online. Und vielleicht meldet dpa ja, dass das Spiel Portugal gegen England wegen großer Publikumsnachfrage in ARD oder ZDF wiederholt, besser noch, neu angepfiffen wird. Oder vielleicht gibt’s ja irgendwo wenigstens ein paar Videostreams vom Spiel Holland gegen Tschechien aus der Vorrunde? Natürlich nicht und so vertrieb ich mir online die Zeit, um alle Nachrichten und Berichte zur und über die EM mindestens zwei Mal zu lesen und auswendig zu lernen. Die Schlagzeilen: „Deutschland doch im Finale – Markus Merk pfeift das EM-Endpiel“. „DFB wartet auf Zusage Hitzfelds“. „Hitzfeld wird kein Schnäppchen – er bekommt vier Millionen Euro pro Jahr“. „Porträtfoto von David Beckham in London beschmiert“. „Kritik an MV wegen Führungstils“, „Eilts nominiert 18 Spieler für U-19-EM“. „Kroatiens Trainer Otto Baric zurückgetreten“. „Erklärung des DFB zur Trainersuche“. „Schwarze Serie der Gastgeber bedroht Portugal“. „Rehhagel will nach EM über griechische Bürgerschaft entscheiden“. „Holland gegen Portugal ohne Kapitän de Boer“. Und so weiter und so fort. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs, in der Vorrunde hätte jetzt ein Spiel begonnen. Ich suchte im Internet Ablenkung mit anderen Themen. Vielleicht ein bisschen Boulevard auf Bild.de? „Schwangere Britney qualmt weiter“. Igitt! Hier kippt Britney ihren Aschenbecher vom Hotelbalkon“. Oder T-Online: „Bierkonsum – nur ein Land schlägt Deutschland“. Das kann ja nur Irland sein. Richtig geraten. Diese Erkenntnis nötigte mir aber auch nur ein Lippenzucken ab. Ich biss mir auf die Unterlippe und surfte ziellos weiter. Vielleicht ein bisschen Geld ausgeben auf Amazon.de? Jaaaaaaa! Ich fand das Buch, das mir garantiert helfen wird: „Bernd Müllender: Fußballfrei in 11 Spieltagen – Eine Entziehungskur für Süchtige“, Fischer-Verlag, 16,90 Euro. Aber elf Tage? Dann bin ich längst tot und die EM ist vorbei. Ich nahm von dem Kauf Abstand und sah wieder auf die Uhr: 20.30 Uhr. Ich machte den PC aus, ging wie in Trance ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Vielleicht doch ein Wiederholungsspiel in der ARD? Nix da. Eine entsetzlich Serie lief - „Familie Dr. Kleist“. Aaaaargl! Und im Zweiten? Vielleicht analysieren Poschi und sein Franz für mich nochmal die vergangenen Spiele und haben ein Exklusivinterview mit Mayer-Vorfelder zur Trainerfrage in petto? Nein, der Film im ZDF hieß „Die Stunde der Offiziere – ein Dokudrama“. Es ging um Graf Stauffenberg und das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. WARUM ZEIGEN SIE ES DANN NICHT AUCH AM 20. JULI UND WIEDERHOLEN STATTDESSEN PORTUGAL GEGEN ENGLAND? Vielleicht haben sie ja was auf DSF, Eurosport oder in den Dritten? In den Dritten gab’s aber nur Heimatkunde und die Sportkanäle konnte ich nicht sehen, weil ich immer noch keinen Kabelanschluss beziehungsweise eine Satellitnschüssel habe. Ich war der Verzweiflung nahe. Das Zittern am Körper nahm zu, ich begann zu schwitzen. Kalter Schweiß rann die Wangen hinunter. Meine Zähne klapperten, die ersten Tränen kullerten aus den Augen und mein Mund war so ausgetrocknet wie nach vier Wochen Sahara ohne Oase. Ich trank einen Liter Wasser, doch der Mund war so trocken wie vorher. Jetzt wurde mir richtig kalt, ich zog die Beine an den Körper und klammerte die Arme drum herum. Was sollte ich nur tun? Wo hätte ich jetzt meinen Stoff her bekommen sollen? Da konnte nur einer helfen. Ich rief meinen Hausarzt zu Hause an. „Sie müssen mir helfen“, winselte ich ihn an. „Kommen Sie in fünf Minuten in meine Praxis“, sagte er und legte auf. Ich raffte mich auf, zog mich langsam und überraschend ohne unkontrollierte Slapstick-Einlage an und fünf Minuten später war ich in seiner Praxis. Mein Arzt war völlig erschrocken: „Um Gottes Willen, wie sehen Sie denn aus? Was ist denn passiert? Kommen Sie, legen Sie sich auf die Liege“ „Herr Doktor, ich kann nicht mehr. Ich glaube, ich bin fußballsüchtig! Können Sie mich einweisen?“ „Sie sind ein Fußballjunkie?“ Ich schilderte ihm mit zitternder Stimme meinen Tag und der Doc hörte geduldig zu. Dann schüttelte er verständnislos den Kopf und ließ sich langsam in seinem Sessel nieder. „Da muss erst mal nachsehen.“ Er griff sich einen dicken Wälzer aus dem Regal und blätterte und blätterte. „Hm, das gibt’s bei mir gar nicht“, murmelte er. „Sie sind wahrscheinlich etwas überlastet zurzeit. Ich gebe Ihnen mal diese Pillen hier mit. Nehmen Sie jetzt gleich eine, noch eine vor dem Schlafengehen und morgen nach dem Aufstehen wieder eine. Und morgen Abend ist das bestimmt wieder weg.“ Ich riss ihm die Pillen aus der Hand und untersuchte sie eingehend. Sie waren aber weder silberfarben noch rund noch führten zwei schwarze Streifen über ihre Pole. Und auf der Packung stand auch nicht „Roteiro“ drauf. „Was? Das sollen Pillen gegen Fußballsucht sein?“, schrie ich meinen Doc empört an, holte mit einer Armbewegung alle seine Instrumente zu Boden, warf das Bücherregal um, knallte die Türe hinter mir zu, erschreckte die Assistentin am Empfang mit einem lauten Aufschrei („Foul! Böse Blutgrätsche!! Ihr Chef gehört vom Platz gestellt!!!“) und fegte großen Schrittes aus der Praxis. Liebes Tagebuch, ich glaube, mir ist nicht zu helfen. Ich bin fußballsüchtig im fortgeschrittenen Stadium. Es gibt nur einen Trost, eine Perspektive: morgen Abend, 20.45 Uhr. Der nächste Schuss, der nächste Kick. Zum Glück gibt es keinen Goldenen Schuss mehr (das „Golden Goal“ ist ja abgeschafft worden), sondern allenfalls noch das „Silver Goal“. Das heißt, es wird immer weitergehen, und immer am Rande des Abgrunds. Mein Arzt hatte recht: Heute Abend geht’s weiter. Halbfinale Portugal gegen Holland. Lechz, sabber, geifer. Meine Stimmung steigt. Wem ich die Daumen halte? Keinem. Denn nach zwei Tagen auf Entzug will ich 120 Minuten Fußball auf höchstem Niveau sehen. Und dann Elfmeterschießen mit einem 22:21. Denn alles andere ist schnullibulli! Bis Morgännn!!! link me stumpy-joe - 29. Juni 2004 um 08:45:00 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 17 (Montag, 27. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute ist ein grausamer Tag. Der erste Abend ohne Livespiel seit 17 Tagen. Wie kann das sein? Was geschieht mit mir? Was soll ich nur tun? Erstens: So ist eben das Leben. Zweitens: Gaaaanz ruhig bleiben! Und drittens: Wie wär’s denn mal mit Bude putzen? Oder ein bisschen nachdenken? Zum Beispiel darüber, ob Du, liebes Tagebuch, und Ihr, liebe Leser, alles verstanden habt, was ich da in den letzten 16 Tagen so alles verzapft habe. Als ich an Tag 15 nämlich plötzlich diese eine Frage einer Leinwandzuschauerin zu hören bekam, fiel es mir nämlich wie Schuppen aus den Haaren. Die Frage der jungen Szenekneipenbesucherin lautete: „Warum haben die Holländer heute kein orangenes Trikot an?“ Da musste ich kurz in mich gehen, verschlang beim legendären, bereits seit 28 Jahren bruzzelnden „Udo Snack“ in der Calwer Passage zu Stuttgart einen „Eggburger“ und sprach hernach zu mir: „Du kannst all die Millionen verzweifelten, worthungrigen Menschen, die Dein Tagebuch Tag für Tag wie einen „Eggburger“ von „Udo Snack“ verschlingen, doch nicht alleine lassen mit den vielen Begriffen, Namen und Fragen, die Du Ihnen täglich aufs Neue unerklärt servierst! Wer zum Beispiel soll den schon wissen können, wer, in Dreiteufelsnamen, dieser Schappa-Pa-Paaaa ist, der dem Co-Kommentator Beckenbauer ständig erscheint, wenn er den jungen Engländer Wayne Rooney kicken sieht? Oder: Warum müssen wir uns von inkompetenten, nur dämlich daher schwafelnden Fernsehreportern völlig falsch erklären lassen, was ein „Silver Goal“ ist? Nun ja, ich rutsche Euch bereits auf Knien entgegen, habe mir einen großen Jutesack gekauft und Asche hinein gefüllt und hoffe nun inständig, dass mir die geneigte Leserschaft nochmal verzeiht und dass es noch nicht zu spät ist für die... FREQUENTLY ASKED QUESTIONS ZU „JAGUTTÄÄÄÄÄH – MEIN EM-TAGEBUCH“, kurz: dem EM-FAQ
Das möchte ich auch gerne wissen. Denn die Geste dient zwar offensichtlich dem Geber des verunglückten Passes, aber scheinbar gibt’s das nur im Fußball, dass man Mannschaftskameraden auch für misslungene Aktionen vor laufenden Fernsehkameras feiert.
Gute Frage, da kann es nur eine Antwort drauf geben: Mit Schappa-Pa-Paaaaa meint der Kaiser Firlefranz den ehemaligen französischen Superstürmer Jean-Pierre Papin, der einst vor einer Dekade ein sinnloses Jahr bei Franzens undankbarem FC Bayern verschwendete. Und weil der Franz irgendwann mal in grauer Vorzeit Olympique Marseille trainierte, meint er seitdem, hervorragend Französisch sprechen zu können. Es weiß nur keiner...
Ist ja auch kein Wunder, diese Typen reden nämlich groben Unfug. Ich erzähle jetzt mal die Wahrheit über das „Silver Goal“: Es war einmal 1996, EM-Finale Deutschland gegen Tschechien. Damals hatte der deutsche Stürmer Oliver „Föhnwelle“ Bierhoff (wer kennt ihn noch?) das erste „Golden Goal“ der Fußballgeschichte geschossen. Die Regel besagte, dass ein Entscheidungsspiel beendet ist, sobald eine Mannschaft in der Verlängerung ein Tor schießt. In jenem Finale in London rutschte dem bedauernswerten tschechischen Torwart ein lascher Gurkenschuss von Deutschlands letztem Superstürmer Bierhoff durch die Flossen ins Tor hinein. Deutschland wurde Europameister, die Tschechen ganz arg traurig und die Fußballfans auf der ganzen Welt furchtbar böse. Denn sie empfanden das „Golden Goal“ als ungerecht. Viele Jahre diskutierte man landauf, landab über diese Regel und FIFA-Boss Sepp Blatter konnte vor lauter Beklemmungen und Durchfall gar nicht mehr schlafen. Doch plötzlich erschien in seinem Traum eine Fee mit einem Zauberstab in der Hand und sprach: „Hi Sepp, was denkst’n so rum hier. Willste nicht mal schlafen jetzt?“ „Neee, kann nich“, murmelte der Sepp völlig verpennt in sein Kissen hinein. Da sprach die Fee: „Na gut. Ich erfüll‘ Dir einen Wunsch. Aber danach musst Du endlich ratzen. Ok?“ „Ok!“, gab der Sepp nach, überlegte kurz und sagte dann: „Hörmal Fee: Die Sache mit dem ,Golden Goal‘ geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Was meinst Du? Wie soll ich entscheiden?“ „Hmmmm“, die Fee kam ins Grübeln, dann schnalzte sie plötzlich mit den Fingern und sprach: „Nenn es doch einfach um in, sagen wir, Silver Goal“. „Haha, guter Witz“, knurrte der Sepp missmutig. „Und was mach‘ ich dann mit der Regel selbst, Du Superfee?“ „Weiß‘ doch ich nicht. Wer von uns beiden ist denn hier der Fußballboss, Du oder Ich?“, keifte die Fee und verschwand mit einem „zing“ zurück ins Nichts. „Blöde...“, den Rest verkniff sich der Blattersepp und sinnierte und sinnierte und sinnierte. Dann hatte er eine Eingebung, sprang auf und jubelte: „Wir malen einfach den Ball silbern an und gucken mal, was passiert.“ Gesagt, getan. Der Blattersepp erließ ein Gesetz, in dem stand drin: „Paragraph 1: Alle Bälle müssen silberfarben sein. Zumindest für die EM 2004. Das entscheidende Tor ist dort deshalb das „Silver Goal“. Absatz 1: Ein entscheidendes Tor ist immer dann, wenn der Schiri pfeift. Das sagen die kickenden Dumpfbacken doch auch immer vor jeder laufenden Fernsehkamera. Absatz 2: Mir doch egal, wie die Kicker, Trainer, Schiris, Medien und Funktionäre damit klarkommen. Ich will jetzt schlafen.“ So, liebe Kinder, entstand also das „Silver Goal“: Es ist gefallen, wenn der Schiri pfeift und der Blattersepp es will. Und wenn sie nicht getroffen haben, dann kicken sie noch heute.
Einer der unwichtigsten Trainer der Bundesligageschichte. Hatte mal vor ein paar Jahren einen legendären Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“, in dem er dem verblüfften Moderator und dem staunenden Publikum wie ein Oberlehrer die „ballorientierte Raumdeckung“ an einer Kreidetafel erklärte. Damit meinte er die modernste und erfolgreichste Fußballtaktik der Welt. Leider hat bis heute keiner der von ihm trainierten Mannschaften kapiert. Den VfB Stuttgart und Hannover 96 orientierte er damit beinahe in die Zweite Liga. Jetzt ist Ralf Rangnick arbeitslos und wird auch seinen Ruf nicht mehr los, die professoralste, aber erfolgloseste Spaßbremse im deutschen Fußball nach Michael Skibbe zu sein.
Ihr kennt den Skibbe nicht? War bis zum Ausscheiden der Deutschen in Portugal DFB-Bundestrainer und Rudis wichtigster Berater. Öffentlich trat er aber nur mit unverständlichem, wichtigtuerischem und nichts sagendem Taktikgeschwafel in Halbzeitpausen in Erscheinung. Ansonsten hat er den deutschen Spielern wahrscheinlich die „ballorientierte Raumdeckung“ beizubringen versucht - die Ergebnisse sind bekannt. Der Legende nach soll er Rudi Völler immer eingeflüstert haben, wen er ein- und auswechseln und wie die Mannschaft spielen soll. Bei Borussia Dortmund war Skibbe vor ein paar Jahren auch schon wegen Erfolglosigkeit und garstig schlechtem Gekicke seiner Mannschaft rausgeflogen. Zum Beinamen „Skarabäus“: Ach, das war von mir nur der jämmerlich gescheiterte Versuch einer „vergleichsorientieren Alliterationsdeckung“...
Eine Turniermannschaft ist eine Mannschaft, die an einem Turnier teilnimmt. Deshalb konnte man natürlich immer sagen, dass die Deutschen gewinnen könnten, denn sie nahmen an dem Turnier ja teil. Im Umkehrschluss heißt das: Alle anderen 15 Mannschaften bei der EM in Portugal sind auch Turniermannschaften. Die Mannschaft, die das Turnier am Ende gewonnen hat, ist demnach die Turniersiegermannschaft.
Das sag‘ ich erst nach 23 Uhr!
Nein, ist es nicht!!
Na gut, aber nur, weil Du’s bist: Der „Delli“ ist Fernsehmoderator Gerhard Delling, der „Günni“ ist sein Schwafelpartner Günter Netzer, der „Gerri“ ist der DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder, der „Waldi“ ist der ARD-Reporter Waldemar Hartmann und der „Becki“ dessen Kollege Reinhold Beckmann. Und der „Rudi“ ist natürlich der Rudi Völler. Die anderen sind alles deutsche Spieler: Philip „Lahmi“ Lahm, Michael „Michi“ Ballack, Bernd „Berndi“ Schneider, Bastian „Schweini“ Schweinsteiger, Jens „Jensi“ Nowotny, Arne „Arnie“ Friedrich, Christian „Chrisie“ Wörns, Kevin „Kevi“ Kuranyi, Torsten „Toddi“ Frings, Dietmar „Didi“ Hamann und Oliver „Olli Kahn“. Und mit dem Kampfhund meinte ich den bissigen Einwechselspieler Jens „Jerri“ Jeremies.
Och, nichts... Warum fragst Du? Dann bis Morgännn!!! link me stumpy-joe - 28. Juni 2004 um 18:13:45 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 16 (Sonntag, 26. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute habe ich ein Fußballspiel zum ersten Mal in meinen Pantoffeln angeguckt. Und das, obwohl ich die Filztreter schon seit fast zehn Jahre habe. Der Fernsehsender Home Order Television (H.O.T.) hatte mir sie als Werbegag 1995 anlässlich seines Sendestarts geschenkt. H.O.T., das ist der Verkaufskanal, in dem zu Moderatoren umgeschulte Straßenverkäufer ihren Zuschauern Goldschmuckimitate, Bratpfannen, Fitnessgeräte und FC-Bayern-Trikots zu indiskutablen Preisen anpreisen und andrehen, und merkwürdigerweise kaufen viele H.O.T.-Zuschauer diese Artikel auch zu diesen indiskutablen Preisen. Wahrscheinlich aus lauter Bequemlichkeit, weil sie nämlich nicht mehr, wie früher, in die Stadt fahren müssen, um das Zeug einzukaufen, sondern weil sie es noch während der Sendung per Telefon bestellen können. Also ich, für meinen Teil, habe noch nie etwas bei H.O.T. eingekauft, weswegen sich der Kanal scheinbar nicht in meinem Hirnkasten verewigt hat, was wiederum dazu führte, dass die Fernsehpantoffeln nun schon seit 1995 in meinem Schuhschrank schmählich unbeachtet versauern. Irgendwie waren mir die fußangepassten Schlappen mit Gürtelstegen all die Jahre doch viel bequemer an den Füssen. Warum ich die Pantoffeln nun also ausgerechnet heute angezogen habe? Nun, ich war zu Gast bei Freunden in Starnberg bei München: bei meinem alten Kumpel Martin, seiner Frau Birgit und dem fünfjährigen Sohn Marius. Wir haben gegrillt, was allein ja noch kein Grund ist, plötzlich auf die Idee zu kommen, Fernsehpantoffeln anzuziehen. Noch dazu beim Grillen auf der Terrasse (es gab übrigens lecker Grillfleisch und Kalbswürstel mit Salat un Ciabatta-Brötchen). Nein, wir grillten nicht nur, sondern nahmen uns auch das kultivierte Betrachten des äußerst kultiviert zu versprechenden Fußballspiels Tschechien gegen Dänemark vor. Und dazu, finde ich, sollte man auch kultiviertes Schuhwerk anziehen. Zumal bei Martin, Birgit und Marius noch dazu zwei samtpfötige Katzen durchs Haus schleichen. Und außerdem löste die Begegnung Tschechien gegen Dänemark in mir die Assoziation „Pantoffelkino“ aus: Kasperletheater, Spielfigurenkabinett, Laienspielgruppe. Oder aber: Fernsehen ganz klein und kuschelig und schwarz-weiß wie in den 70er-Jahren. Tschechien gegen Dänemark oder „Lolek und Bolek“ gegen „Wicki und die starken Männer“. Faxe, Snore und – wie hieß noch gleich der, der zu Wickis guten Ideen automatisch in die Luft sprang, dabei seine Hacken zusammenschlug und „ich bin entzückt“ jubilierte? War ja nur ‚ne Frage. Und wen’s interessiert: Beide Zeichentrickserien liefen seinerzeit geschickterweise immer um 17 Uhr, sodass ich mich mit meinen Freunden Lolek, Bolek, Wicki, Faxe & Co. taktisch und mental perfekt auf das Fußballtraining danach vorbereiten konnte. Beide Zeichentrickserien waren also meine idealen Taktiktafeln der 70er Jahre! Zurück nach Starnberg und seinen Pantoffelhelden: Martin hielt zu Dänemark, Birgit drückte den Tschechen den Daumen und Marius war zu Spielbeginn um Viertel vor Neun, wie sich’s gehört, schon im Bett. So konnte ich leider nicht miterleben, dass er, wie mir überliefert wurde, bei Fouls prompt die Rote Karte fordert und anschließend fragt, wann denn endlich die Sanitäter auf den Platz kämen. Ich hielt übrigens mal wieder völlig emotionslos und nüchtern zu der Mannschaft, für die ich im Tippspiel auch getippt hatte. Und das spielt hier jetzt wirklich keine Rolle! Also nochmal: Tschechien gegen Dänemark oder „Lolek und Bolek“ gegen „Wickie und die starken Männer“. Und irgendwie wirkten die Dänen wirklich wie die chaotische, aber liebenswürdig tolpatschige Wikingertruppe: kahl geschoren der eine, Stoppelbart der andere, O-Beine der Dritte, dazu einen Verteidiger, der aussieht wie der Drummer von Metallica und alle hatten irgendwie einen grimmigen Gesichtsausdruck. Und kaum war der Anpfiff ertönt, ging’s auch schon vorwärts: Raus aus der Wikingergaleere und auf sie mit Gebrüll. Rennen, kämpfen, spielen. Dabei immer geradeaus und auf den direkten Weg zum Tor. Das aber möglichst schnell und dabei immer schön fair bleiben. Mit der Zeit sah das recht ungeschickt aus, weil es nicht viel einbrachte und die Tschechen die Wikinger mit Glück und Geschick meist vor ihrem Strafraum fern hielten. Das konnte nicht gut geht – für die Dänen! Denn unvermittelt schlugen „Lolek und Bolek“ gnadenlos zu. Und zwar unmittelbar nach der Halbzeitpause, als alle noch dachten: Auch dieses Spiel endet bestimmt wieder im Elfmeterschießen. Mitnichten: Bei drei ging’s plötzlich los und immer spielten die schlitzohrigen Tschechen die dänische Abwehr zu zweit aus. Zuerst Karel „Lolek“ Poborski auf „Jan „Bolek“ Koller – Ecke, Kopfball, 1:0. Zehn Minuten später: wieder Karel „Lolek“ Poborski diesmal auf Milan „Bolek“ Baros – schneller Pass in die Tiefe, den Ball mal eben elegant über den Torwart geschaufelt, 2:0. Und weil es so schön war, zwei Minuten später gleich noch einen hinterher: Diesmal war es Pavel „Lolek“ Nedved und der „Bolek“ war wieder Milan Baros – Steilpass in die Tiefe, dem Dänen-Verteidiger einfach davon gesaust, strammer Schuss unters Tordach, 3:0. Danach waren die Wikinger besiegt. Sie stürmten zwar noch um das Ehrentor, schienen aber irgendwie demoralisiert zu sein. „Lolek und Bolek“ besiegten also „Wicki und seine starken Männer“ mit 3:0, zogen ins Halbfinale ein und müssen nun beweisen, dass sie auch Ottos griechische Spielzerstörer auseinander nehmen können. Eine Viertelstunde brauchte die tschechische Schlitzohrigkeit unterm Strich, um die dänische Geradlinigkeit aus dem Turnier zu fieseln. Und was lernen wir jetzt daraus? Wer Fußball in Pantoffeln anguckt und das Spiel Tschechien gegen Dänemark mit 70er-Jahre-Fernsehserien vergleicht, gibt garantiert falsche Tipps ab! ... bis Morgännn!!! link me stumpy-joe - 27. Juni 2004 um 12:58:03 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 15 (Samstag, 25. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute war ich mal ganz hip! Hab‘ mich in meine wildledernen Bowlingschuhe, eine Nichtjeans mit modischem Haltebügel (denn „Hip Teens don’t wear Bluejeans“) und ein fein kariertes Siebzigerjahrehemd geworfen, darüber ein FDJ-farbenes Kapuzenteil gezogen und bin in die szenischste Szenenkneipe Stuttgarts gefedert: dem „Lotus“ in der Theodor-Heuss-Straße. Da sind Leute drin, die könnten direkt aus der Vodafone- oder der Bluna-Werbung hinein gebeamt worden sein. Und weil sie dort alle modische 70er-Jahre-Turnschuhe, 70er-Jahre-Turnleibchen mit einer Rückennummer drauf und Günter-Netzer-, beziehungsweise Karin-Tietze-Ludwig-Frisuren tragen, müssen sie ergo auch Fußball gucken. Das will der Wirt so und deshalb wird aufgefahren, was die Technik hergibt. Draußen an der Seitenwand zur Straße hin steht eine Riesenleinwand unter zwei riesigen Schirmen, die vorm Regen schützen sollen. Daneben eine Getränkebar sowie genügend Klapptische und Klappstühle, damit jeder Besucher Platz haben sollte. Die Betonung liegt auf „sollte“, denn der Andrang zum Spiel Schweden gegen Holland ist so riesig, dass die meisten Leute um die Sitzgelegenheiten herum stehen müssen. Aber das tut man in den szenischsten Szenenkneipen in deutschen Großstädten sowieso ständig, weil man dann gleichzeitig die Beine und den Rumpf zu dem Lounge-Sound bewegen kann, der nonstop aus den Boxen dröhnt. Drum & Bass – schnelle Percussions mit treibenden, wuchtigen Bässen, darüber jazzige Melodien gelegt, meist aus Saxophonen und Trompeten kommend. Keine Gitarren und kein Gesang nerven den Szene-Smalltalk. Allenfalls die Lautstärke, aber das stört wahrscheinlich nur Leute wie den Tagebuchschreiber, die vorher den ganzen Tag in der abgeschiedenen Natur verbracht haben. Schweden gegen Holland also. Rappelvolle Zuschauerränge vorm „Lotus“, man sollte es bei dieser Paarung nicht glauben. Aber wahrscheinlich hat das Interesse doch etwas mit den Farben zu tun. Denn Gelb-Blau und Orange sind ja wohl die oberschicksten Trendfarben der Saison, und sowas zieht die Szene magisch an. Dumm nur, dass die einen, die Holländer nämlich, heute nicht in den erwarteten Farben angetreten sind. Was im sachverständigen Publikum denn auch sofort essentielle Fragen aufwirft, die uns der TV-Reporter, der nur über Taktik und das Spiel schwafelt, natürlich nicht beantworten kann. Da müssen jetzt die modischen Typen ihrer modischen weiblichen Begleitungen ran. Folgende Frage kurz nach dem Anpfiff von ihr an ihn: „Duhuuuu, Du kennst Dich doch aus.“ „Klar, frag‘ mich!“ „Warum haben die Holländer heute keine orangenen Trikots an?“ Tja, da muss selbst der Fußball-Oberchecker kurz nachdenken, hat dann aber schnell die richtige Antwort parat: „Weil das ihre Ersatztrikots sind“. Das hat gesessen. Die weibliche Begleitung nickt, nuckelt an ihrem coolen Drink und sieht sich fortan das Spiel an – ohne weitere Fragen zu stellen. Und weil die Holländer also nicht in der Modefarbe der Saison spielen, wird klar, wem die Sympathien des Publikums gehören: Gelb-Blau, der anderen Modefarbe der Saison. Es sind aber auch originäre Sympathien für die Skandinavier zu identifizieren, denn es sind auch einige Schweden anwesend, die ihr Gelb-Blau, wie sich's in so einer Location gehört, nur dezent auf- und angetragen haben. Keine auffälligen und prolligen Fanartikel also, die Ausgehklamotten sind indes höchstwahrscheinlich vier Stunden lang vor dem Spiegel mit dem Rest des Körpers farblich abgestimmt worden. Und auch im Gesicht oder auf der Haut sind keine Fanausweise zu erkennen, man muss sich schließlich bei einer Niederlage des eigenen Teams relativ inkognito verkrümeln können. Und in einer der szenischsten Szenenkneipen wie dem „Lotus“ schickt sich Fanaufmachung sowieso nicht. So kann man sich ja nach dem Spiel nicht an der Bar oder auf der Tanzfläche blicken lassen und dabei einen coolen Drink schlürfen. Nein, das geht ja nun gar nicht. Was sollen bloss die anderen sonst denken? Da wird dann bestimmt drüber geredet: „Mensch, hast Du gestern gesehen?“ „Huch, nein, was denn?“ „Die Sophie und der Dominik“. „Was ist mit den beiden? Sag‘ schon! Sind die jetzt zusammen?“ „Nein, die K-l-a-m-o-t-t-e-n! Die hatten so, so, so Fußballsachen an. Farbe im Gesicht, Mützen, so Fansachen halt“. „Nein, wie primitiv! Meinst Du, mit denen kann man noch weggehen?“ „Hm, weiß nicht“. „Komm, lass‘ uns erstmal Shoppen gehen. Ich brauch‘ neuen Fummel“. „Ok, gute Idee, ich nämlich auch“. Blau-Gelb wird’s wohl werden, tippe ich. Oder doch Orange? Egal, das wird Montag sein. Jetzt erstmal Fußballgucken und mitfiebern. Und wenn draußen schon kein Platz ist, dann kann man das Spiel ja auch in den geräumigen Innereien des „Lotus“ angucken. Zum Beispiel spiegelverkehrt. Denn die Leinwand steht vor dem Haus vor einer riesigen Fensterfront und bekommt ihr Bild aus einem Projektor, der im Inneren der Kneipe steht und die Leinwand von hinten bestrahlt. Der Effekt: Stellt man sich in der Kneipe neben den Projektor, sieht man das Spiel auch – nur eben spiegelverkehrt. Aber weil in der zweiten Halbzeit immer mehr Gäste kommen und dieselbe Idee haben, kann man das Spiel auch da nicht mehr richtig angucken. Doch auch für diese Situation haben die „Lotusmacher“ einen Ausweg gefunden. Über der Flaschenbatterie hinter dem Tresen hängen zwölf Monitore, aus denen allen das Fußballspiel strahlt. Pro Barhocker ungefähr ein Monitor. Und das kommt nicht schlecht: Bei oberlautem Lounge-Sound auf einem Lederwürfel sitzen und in zwölf Monitoren über der Bar ein Fußballspiel angucken. Dazu einen Drink schlürfen und nebenbei beobachten, wie sich das distinguierte Szenevolk heutzutage aufführt. Als es dann zum Elfmeterschießen kommt, versammeln sie sich doch alle wieder vor den Bildschirmen und Leinwänden und bei jedem Schuss wird klar, dass auch im neutral gekleideten Publikum nur eine Minderheit die Holländer gewinnen sehen will. Die Hoffnung stirbt letztlich doch, denn Oranje gewinnt sein erstes Elfmeterschießen seit 412 Jahren und die Schweden müssen nach Hause fahren. Aber nur eine Handvoll Schweden sitzt noch eine Weile betrübt vor ihren Drinks, der Rest hat die traurige Nachricht wenige Augenblicke nach Spielende per MMS, SMS oder SOS mit den um den Hals baumelnden Miniaturhandys in den Kommunikationskreislauf hinausgeschickt. Oder war’s doch nur eine lapidare Botschaft an die Fußballmuffel im Bekanntenkreis? „Spiel ist aus Holland gewonnen Sind im Lotus Kommt Ihr noch nach?“ Und mich fragt mal wieder niemand. Kein Wunder, hab‘ auch kein Handy dabei und wahrscheinlich auch den falschen Fummel an. Weder Orange, noch Gelb-Blau. Und FDJ-blau ist ja schon lange ober-mega-out. Heimfahren. Schlafen. Und... ...bis Morgänn!!!! link me stumpy-joe - 27. Juni 2004 um 11:32:19 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 14 (Freitag, 25. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute haben wir wieder einen Baum gefällt. Diesmal eine Tanne, ca. acht Meter hoch und 20 Zentimeter dick. Das arme Stück Pflanze war zwar noch nicht komplett verendet, aber bereits derart abgemagert und dem Tod geweiht, dass wir sie damit wahrscheinlich erlöst haben. Direkt hinter ihren beiden Geschwistern und direkt vor der Grundstücksmauer hatte die Tanne keine Chance zu überleben und wäre beim nächsten Sturm wahrscheinlich umgeknickt wie ein Streichholz. Sie musste einfach raus. Erkannt, gesagt, getan: Eine halbe Stunde hat’s gedauert; mit der Handsäge wurde sie abgeholzt und anschließend zerhakt und zersägt. Jetzt steht die Tanne in Einzelteilen zerlegt hinter der Holzhütte. Diese großartige Aktion war aber nicht das einzig Produktive, das wir an diesem wunderschönen Sommerabend auf einem Grundstück im rebenreichen Stromberg irgendwo zwischen Ludwigsburg und Heilbronn unternommen haben. Zuvor wurde rhythmischen Schrittes die große Wiese des Stücks gemäht. Mannshoch stand das Gras bereits und vier Herren bahnten sich mit geschärften Sensen wie einst Harrison Ford im „Jäger des verlorenen Schatzes“ den Steilhang durch den größten Ochsenbacher Grasdschungel hinauf. Jetzt nur noch den Schwenkgrill aufstellen und drauf die Lappes: vier Mal Ribeye-Steaks und vier Schweinebäuche. Dazu Paprika, Gurken und lecker Rotwein. Und im Hintergrund die Fußballreportage Frankreich gegen Griechenland. Du hast es natürlich längst gemerkt, liebes Tagebuch: Der wöchentlich obligatorische Herrenabend fand diesmal an einem Freitag statt. Hat sich halt so ergeben, man muss auch im hohen Alter noch flexibel sein. Auch und vor allem in medialer Hinsicht. Versuchten wir vor Wochenfrist noch vergeblich, mit einem Weltempfänger das Vorrundenspiel England gegen die Schweiz mitzuerleben, hatten wir diesmal einen Miniatur-Farbfernseher dabei. Bastis Errungenschaft! Nicht viel größer als ein Kofferradio und mit einer Bildschirmdiagonale von vielleicht fünf Zentimetern. Dennoch zeigte sich das Bild überraschend scharf, wenngleich etwas körnig. Um dem rasanten Spiel jedoch folgen zu können, mussten wir uns mit dem Zuschauen abwechseln, denn allenfalls zwei Mann können gleichzeitig in den Winzfernseher hinein schauen. Allerdings ist der Blickwinkel dann so schräg, dass nicht viel zu erkennen ist. Also sich lieber mal einzeln davor stellen und zwar mit höchstens fünf Zentimetern Augenabstand. Sonst sieht man nur Bewegungen. Besser noch, man setzt sich ganz weit weg, stellt sich vor, das Gerät sei ein Radio und hört nur zu. Der Mini-Fernseher hat nämlich zwei Aktivlautsprecher, wie man sie vom PC her kennt und einen ziemlich guten Empfang, vor allem auf den Höhen des Strombergs. Guter Sound war also garantiert. Nun musste nur noch der Inhalt stimmen. Und wir hatten Glück: Der Reporter Steffen Simon hat das Spiel Griechenland gegen Frankreich so wortreich, plakativ und emotional in allerbester Radioreportermanier wiedergegeben, dass man überhaupt kein Bild dazu brauchte. Auch jene Herren des Herrenabends, die an ihrem Fleischstück zu arbeiten hatten und deshalb nur zuhören konnten, waren stets bestens informiert: Die scheinbar übermächtigen Franzosen hatten offenbar keinen Plan, wie sie Ottos Griechen aus den Angeln heben sollten. Im Gegenteil: „Rehakles“ hatte seine Mannschaft offenbar so intelligent und diszipliniert eingestellt, dass Zidane & Co. ihr gefürchtetes Zauberspiel gar nicht erst praktizieren konnten. Und als Charisteas, der Bremer, gar den Führungstreffer für die Griechen erzielte, war es um Herrn Simon endgültig geschehen. Man musste gar Angst haben um seine Gesundheit, so erregt fieberte er mit Griechenland und so enthusiastisch kommentierte er den Niedergang der Fußballgroßmacht Frankreich, einer Ansammlung alt und satt gewordener Egozicken. Man musste bei der Reportage bald froh drum sein, dass Simon nicht im Herzinfarkt gefährdeten Alter ist. Andererseits: Zuviel Arbeitsstress hat schon 30 bis 40jährige Männer in die Bypassabteilung manövriert. Am Ende hieß es 1:0 für Griechenland und Millionen Griechen in ihrer Heimat, in Deutschland und anderswo auf der Welt machten die Nacht autokorsal, tanzend und trinkend zum Tage. Steffen Simon hat das Spiel meines Wissens überlebt und nicht nur Griechenland, sondern nun auch Deutschland einen neuen Fußballgott: Otto Rehhagel aus Essen! Einst verhöhnt, verschmäht, belächelt und vertrieben. Hatte mit Werder Bremen 14 Jahre lang alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Dafür wurde er Mitte der Neunziger mit dem Trainerjob bei Bayern München geadelt, von Beckenbauer & Co. aber nach noch nicht einmal einem Jahr wieder aus der Stadt gejagt. Und das, obwohl er den UEFA-Cup holte und den Meistertitel nur knapp verpasste. Die Münchner Spieler und Medien hatten sich über ihn, seine kulturellen Vorlieben und seine Trainingsmethoden so lange lustig gemacht, bis er schließlich keine Autorität mehr hatte und einen Tritt in den Hintern bekam. Dann seine bittere Rache: Mit dem Zweitliga-Aufsteiger und Underdog 1.FC Kaiserslautern trieb er die Bayern eine Saison lang vor sich her und schnappte ihnen schlussendlich den Titel weg. Aber auch in Kaiserslautern wurde Rehhagel danach das Opfer hirnverbrannter Vereinsmeier und Wichtigtuer, wurde entlassen – und ging nach Griechenland. In ein Land, das uns die Demokratie, das dramatische Theater, allerlei Weltwunder, grandiose Mythen und herrliche Kost brachte. In dem Fußball aber noch nie eine große Rolle spielte. Bis vor drei Jahren. Bis Otto kam. Jetzt, bei der EM, haben die Griechen nacheinander Portugal, Spanien und Frankreich erlegt und stehen nun im Halbfinale. Eine Sensation sondergleichen, und es war köstlich anzuhören, wie die deutschen Reporter, Kommentatoren und Experten nach dem Sieg gegen Frankreich jenem Otto, den sie jahrelang lautstark belächelt hatten, inzwischen verbal zu Füßen lagen. Otto Rehhagel, und kein anderer, hatte es tatsächlich geschafft, die große „Equipe Tricolore“ zu erledigen, vor der jede andere Mannschaft der Welt seit sechs Jahren auf dem Platz vor Ehrfurcht erstarrt. Wie zum Beispiel die Deutschen, die noch vor nicht allzu langer Zeit im eigenen Stadion von ihnen gedemütigt wurden (3:0 in Gelsenkirchen). Abbitte mussten sie, die vorlauten Experten, in aller Öffentlichkeit vor Otto leisten. „Wir verneigen uns vor Otto Rehhagel“ sagte zum Beispiel Steffen Simon nach dem Schlusspfiff. Und es war eine Wonne, in der ländlichen Abgeschiedenheit des nächtlichen Strombergs Ribeye-Steak kauend dabei zuzuhören, wie Otto Rehhagel dem ARD-Waldi im Interview danach stellvertretend für alle genüsslich, eloquent, dabei aber durchaus höflich und Fakten orientiert vorhielt, was das deutsche Expertentum über die Jahre hinweg Dämliches über ihn verzapft hatte: Er könne nur Werder Bremen trainieren, er sei zu alt und sein System zu antiquiert, er könne mit den Medien nicht umgehen. Alles Bullshit! Es ist gerade umgekehrt und nun hat er’s den tollen Franzosen und den deutschen Besserwissern gezeigt. Jetzt finden Otto plötzlich alle wieder gut, wahrscheinlich auch deshalb, weil er neben dem Schiri Dr. Merk der einzige verbliebene Deutsche im Turnier ist. Und das betonen sie immer ganz besonders gerne, unsere Fernsehfuzzis, vor allem, weil es nun auch für die Deutschen immer noch einen Grund gibt, die EM einzuschalten. Und immer schön alles für die Quote, auch in ARD und ZDF. Pharisäer, alles Pharisäer! Bis morgännn!!! link me |
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