get shorties labor
 
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Sonntag, 27. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 14 (Freitag, 25. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute haben wir wieder einen Baum gefällt. Diesmal eine Tanne, ca. acht Meter hoch und 20 Zentimeter dick. Das arme Stück Pflanze war zwar noch nicht komplett verendet, aber bereits derart abgemagert und dem Tod geweiht, dass wir sie damit wahrscheinlich erlöst haben. Direkt hinter ihren beiden Geschwistern und direkt vor der Grundstücksmauer hatte die Tanne keine Chance zu überleben und wäre beim nächsten Sturm wahrscheinlich umgeknickt wie ein Streichholz. Sie musste einfach raus. Erkannt, gesagt, getan: Eine halbe Stunde hat’s gedauert; mit der Handsäge wurde sie abgeholzt und anschließend zerhakt und zersägt. Jetzt steht die Tanne in Einzelteilen zerlegt hinter der Holzhütte. Diese großartige Aktion war aber nicht das einzig Produktive, das wir an diesem wunderschönen Sommerabend auf einem Grundstück im rebenreichen Stromberg irgendwo zwischen Ludwigsburg und Heilbronn unternommen haben. Zuvor wurde rhythmischen Schrittes die große Wiese des Stücks gemäht. Mannshoch stand das Gras bereits und vier Herren bahnten sich mit geschärften Sensen wie einst Harrison Ford im „Jäger des verlorenen Schatzes“ den Steilhang durch den größten Ochsenbacher Grasdschungel hinauf. Jetzt nur noch den Schwenkgrill aufstellen und drauf die Lappes: vier Mal Ribeye-Steaks und vier Schweinebäuche. Dazu Paprika, Gurken und lecker Rotwein. Und im Hintergrund die Fußballreportage Frankreich gegen Griechenland.

Du hast es natürlich längst gemerkt, liebes Tagebuch: Der wöchentlich obligatorische Herrenabend fand diesmal an einem Freitag statt. Hat sich halt so ergeben, man muss auch im hohen Alter noch flexibel sein. Auch und vor allem in medialer Hinsicht. Versuchten wir vor Wochenfrist noch vergeblich, mit einem Weltempfänger das Vorrundenspiel England gegen die Schweiz mitzuerleben, hatten wir diesmal einen Miniatur-Farbfernseher dabei. Bastis Errungenschaft! Nicht viel größer als ein Kofferradio und mit einer Bildschirmdiagonale von vielleicht fünf Zentimetern. Dennoch zeigte sich das Bild überraschend scharf, wenngleich etwas körnig. Um dem rasanten Spiel jedoch folgen zu können, mussten wir uns mit dem Zuschauen abwechseln, denn allenfalls zwei Mann können gleichzeitig in den Winzfernseher hinein schauen. Allerdings ist der Blickwinkel dann so schräg, dass nicht viel zu erkennen ist. Also sich lieber mal einzeln davor stellen und zwar mit höchstens fünf Zentimetern Augenabstand. Sonst sieht man nur Bewegungen.

Besser noch, man setzt sich ganz weit weg, stellt sich vor, das Gerät sei ein Radio und hört nur zu. Der Mini-Fernseher hat nämlich zwei Aktivlautsprecher, wie man sie vom PC her kennt und einen ziemlich guten Empfang, vor allem auf den Höhen des Strombergs. Guter Sound war also garantiert. Nun musste nur noch der Inhalt stimmen. Und wir hatten Glück: Der Reporter Steffen Simon hat das Spiel Griechenland gegen Frankreich so wortreich, plakativ und emotional in allerbester Radioreportermanier wiedergegeben, dass man überhaupt kein Bild dazu brauchte. Auch jene Herren des Herrenabends, die an ihrem Fleischstück zu arbeiten hatten und deshalb nur zuhören konnten, waren stets bestens informiert: Die scheinbar übermächtigen Franzosen hatten offenbar keinen Plan, wie sie Ottos Griechen aus den Angeln heben sollten. Im Gegenteil: „Rehakles“ hatte seine Mannschaft offenbar so intelligent und diszipliniert eingestellt, dass Zidane & Co. ihr gefürchtetes Zauberspiel gar nicht erst praktizieren konnten. Und als Charisteas, der Bremer, gar den Führungstreffer für die Griechen erzielte, war es um Herrn Simon endgültig geschehen. Man musste gar Angst haben um seine Gesundheit, so erregt fieberte er mit Griechenland und so enthusiastisch kommentierte er den Niedergang der Fußballgroßmacht Frankreich, einer Ansammlung alt und satt gewordener Egozicken. Man musste bei der Reportage bald froh drum sein, dass Simon nicht im Herzinfarkt gefährdeten Alter ist. Andererseits: Zuviel Arbeitsstress hat schon 30 bis 40jährige Männer in die Bypassabteilung manövriert. Am Ende hieß es 1:0 für Griechenland und Millionen Griechen in ihrer Heimat, in Deutschland und anderswo auf der Welt machten die Nacht autokorsal, tanzend und trinkend zum Tage.

Steffen Simon hat das Spiel meines Wissens überlebt und nicht nur Griechenland, sondern nun auch Deutschland einen neuen Fußballgott: Otto Rehhagel aus Essen! Einst verhöhnt, verschmäht, belächelt und vertrieben. Hatte mit Werder Bremen 14 Jahre lang alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Dafür wurde er Mitte der Neunziger mit dem Trainerjob bei Bayern München geadelt, von Beckenbauer & Co. aber nach noch nicht einmal einem Jahr wieder aus der Stadt gejagt. Und das, obwohl er den UEFA-Cup holte und den Meistertitel nur knapp verpasste. Die Münchner Spieler und Medien hatten sich über ihn, seine kulturellen Vorlieben und seine Trainingsmethoden so lange lustig gemacht, bis er schließlich keine Autorität mehr hatte und einen Tritt in den Hintern bekam. Dann seine bittere Rache: Mit dem Zweitliga-Aufsteiger und Underdog 1.FC Kaiserslautern trieb er die Bayern eine Saison lang vor sich her und schnappte ihnen schlussendlich den Titel weg. Aber auch in Kaiserslautern wurde Rehhagel danach das Opfer hirnverbrannter Vereinsmeier und Wichtigtuer, wurde entlassen – und ging nach Griechenland. In ein Land, das uns die Demokratie, das dramatische Theater, allerlei Weltwunder, grandiose Mythen und herrliche Kost brachte. In dem Fußball aber noch nie eine große Rolle spielte. Bis vor drei Jahren. Bis Otto kam.

Jetzt, bei der EM, haben die Griechen nacheinander Portugal, Spanien und Frankreich erlegt und stehen nun im Halbfinale. Eine Sensation sondergleichen, und es war köstlich anzuhören, wie die deutschen Reporter, Kommentatoren und Experten nach dem Sieg gegen Frankreich jenem Otto, den sie jahrelang lautstark belächelt hatten, inzwischen verbal zu Füßen lagen. Otto Rehhagel, und kein anderer, hatte es tatsächlich geschafft, die große „Equipe Tricolore“ zu erledigen, vor der jede andere Mannschaft der Welt seit sechs Jahren auf dem Platz vor Ehrfurcht erstarrt. Wie zum Beispiel die Deutschen, die noch vor nicht allzu langer Zeit im eigenen Stadion von ihnen gedemütigt wurden (3:0 in Gelsenkirchen). Abbitte mussten sie, die vorlauten Experten, in aller Öffentlichkeit vor Otto leisten. „Wir verneigen uns vor Otto Rehhagel“ sagte zum Beispiel Steffen Simon nach dem Schlusspfiff. Und es war eine Wonne, in der ländlichen Abgeschiedenheit des nächtlichen Strombergs Ribeye-Steak kauend dabei zuzuhören, wie Otto Rehhagel dem ARD-Waldi im Interview danach stellvertretend für alle genüsslich, eloquent, dabei aber durchaus höflich und Fakten orientiert vorhielt, was das deutsche Expertentum über die Jahre hinweg Dämliches über ihn verzapft hatte: Er könne nur Werder Bremen trainieren, er sei zu alt und sein System zu antiquiert, er könne mit den Medien nicht umgehen. Alles Bullshit! Es ist gerade umgekehrt und nun hat er’s den tollen Franzosen und den deutschen Besserwissern gezeigt. Jetzt finden Otto plötzlich alle wieder gut, wahrscheinlich auch deshalb, weil er neben dem Schiri Dr. Merk der einzige verbliebene Deutsche im Turnier ist. Und das betonen sie immer ganz besonders gerne, unsere Fernsehfuzzis, vor allem, weil es nun auch für die Deutschen immer noch einen Grund gibt, die EM einzuschalten. Und immer schön alles für die Quote, auch in ARD und ZDF. Pharisäer, alles Pharisäer!

Bis morgännn!!!


 
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Freitag, 25. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 13 (Donnerstag, 24. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute haben der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima die portugiesische Seele errettet. Die Herrschaften hoch droben im Himmel ließen tief drunten auf dem Fußballrasen des „Estadio da Luz“ in Lissabon mindestens 15 heilige Fußballer sowie rund zehn Millionen Portugiesen vor den Fernsehschirmen durch das Fegefeuer schreiten und dabei Höllenqualen erleiden. Und vor allem Luis Figo haben sie errettet, der wahrscheinlich jetzt noch in der Umkleidekabine des Stadions sitzt und schmollt, um seine Seele und um das Fortbestehen allen irdischen Seins zittert. Sein Trainer nämlich, der explosive Brasilianer Luiz Felipe Scolari, der das ganze Viertelfinalspiel Portugal gegen England über nervös mit seiner rechten Hand in der rechten Hosentasche murmelnd und knödelnd am Spielfeldrand umher trippelte, hatte den begnadeten Fußballer und portugiesischen Volksheld eine Viertelstunde vor Schluss beim Stand von 1:0 für England ausgewechselt. Luis Figo, der just zuvor mit einem großartigen Schuss beinahe das 1:1 erzielt hätte, 65.000 Zuschauer im Stadion und 17,8 Milliarden Fußballfans auf der Erde – niemand wollte in diesem Moment die Welt und den Trainer Scolari verstehen. Wer, oh Herr, sollte denn jetzt noch Portugal retten?

Es können wirklich nur der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima ihre salbungsvollen Hände im Spiel gehabt haben. Denn es begab sich wenige Minuten vor Spielbeginn in dem portugiesischen Restaurant „Lisboa“ in Stuttgart: Da schritt ein portugiesischer Fan in einem rot-grünen Trikot zur Tat. Er zündete fünf Teelichte an, stellte sie vor den Schrein der Jungfrau von Fatima auf ein drapiertes Bistrotischchen vor einer ausgebreiteten portugiesischen Flagge unter dem Kneipenfernseher und murmelte mit gefalteten Händen ein kurzes, intensives Gebet. Dass der Schrein komplett aus Plastik war und wahrscheinlich in einem Trödelladen im Bohnenviertel für 3,99 Euro erstanden worden war, spielt jetzt nicht die geringste Rolle. Es geht hier schließlich um Höheres, um ganz Hohes, weswegen dem portugiesischen Fan die zahlreichen deutschen Schmunzler um ihn herum ob seines liturgischen Spektakels herzlich egal waren. Er blickte uns Ungläubige nur kurz grimmig und seelisch überlegen in die Augen, stellte sich zu seinen beiden anderen rot-grün gekleideten Fans, dem Wirt und seinem Kumpel, und hatte nur eines im Sinn: Lieber Gott und Jungfrau von Fatima, macht, dass Portugal gegen England gewinnt und ins Halbfinale einzieht! Wir werden auch weiter ehrfürchtig Eurer gedenken und bis ins Jenseits hinein an Euch glauben.

Die Erbittung hielt exakt zwei Minuten an, dann zirkelte der Engländer Michael Owen eine verunglückte Abwehr eines portugiesischen Abwehrspielers Costinha über den Keeper hinweg zum 1:0 für England ins portugiesische Tor. Der Liebe Gott schien für einen Moment in der Nase gepopelt zu haben. Oder er wollte es richtig spannend machen und seine Schäfchen einfach nur leiden lassen. Aber so Teelichte, die brennen ja lange... Wie auch immer. Die Portugiesen bestürmten in der Folge 80 Minuten lang vergeblich das englische Tor und ihre Fans in der Kneipe durchschritten in dieser Zeit die Hölle. Das wohl aber demütig und ohne den Lieben Gott, die Jungfrau von Fatima und ihre Fußballheiligen auf dem Rasen innerlich zu schmähen. Denn bei so viel Demut konnten der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima gar nicht anders, als eine Viertelstunde vor Schluss eine Fügung in die rechte Hosentasche des Trainers Luiz Felipe Scolari zu schicken. Scolari holte daraufhin seine Hand aus der Hosentasche, winkte damit den Ersatzspieler Postiga auf den Rasen und dafür den Volkshelden Luis Figo in die Umkleidekabine, wo dieser wahrscheinlich jetzt noch sitzt und schmollt. Wenige Minuten später wechselte Scolari noch einmal aus: Es kam Rui Costa ins Spiel. Und der Liebe Gott hatte recht und das Gebet des portugiesischen Fans in der Stuttgarter Kneipe hatte gewirkt. Fünf Minuten vor Schluss köpfte erst der eingewechselte Postiga das rettende 1:1. Fünf Millionen Portugiesen lagen sich in den Armen; es gab Verlängerung. Und es kam noch besser: Auch der zweite Einwechselspieler schien vom Herrn persönlich auf den Rasen geschickt worden zu sein: Rui Costa hämmerte die Silberkugel in der Verlängerung zum 2:1 ins englische Tor. Zehn Millionen Portugiesen schienen jetzt errettet zu sein. Die portugiesischen Fans im „Lisboa“ schickten zahlreiche Gebete gen Himmel. Szenen wie in Lourdes und bei einer Papstmesse vor dem Petersdom spielten sich ab.

Nur der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima hatten weiter kein Erbarmen mit ihren rot-grünen Schäfchen, die offenbar noch immer nicht genug gelitten hatten: Die beiden Sadisten im Himmel wollten vor ihrer Himmelsglotze nämlich ein Elfmeterschießen sehen und ließen deshalb den Engländer Frank Lampard fünf Minuten vor dem Ende der Verlängerung das 2:2 erzielen. Der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima bekamen, was sie wollten - und belohnten deshalb die Portugiesen für ihr demütiges Leiden und für ihren unerschütterlichen Glauben. Zuerst bedachten sie den ungläubigsten aller Fußballspieler mit der Schmach seines Lebens: Sie machten, dass der Engländer David Beckham bei seinem Elfmeter vor Milliarden Menschenaugen bei seinem Schuss in seinem linken Schnürsenkel oder einem Stück Rasen hängenblieb, den Ball über das Tor drosch und dabei fast auf die Schnauze fiel. Es sah wirklich aus wie die Strafe Gottes für die hässlichsten Tattoos, den gierigsten Schlund, das dämlichste Gequatsche und die schlechteste fußballerische Leistung des Turniers (nach den Deutschen). Beckham wird für den Rest seines Lebens wohl in der Fußballhölle schmoren müssen.

Und weiter ging’s nach dem Drehbuch Gottes: Denn scheinbar schien auch der gute Rui Costa in seinem vorigen Leben etwas falsch gemacht zu haben. Die Freude über sein 2:1 hielt nämlich nicht lange an – auch er verschoss seinen Elfer und drohte nun damit, sich und zehn Millionen Portugiesen in die tiefste Depression seit dem Verlust ihrer Vormachtstellung als Seefahrernation im 16. Jahrhundert zu stürzen. Doch dann schickten der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima die nächste Fügung ins „Estadio da Luz“. Sie traf wieder den offenbar in jeder Hinsicht braven Spieler Postiga: Denn als ob’s ein Schülerkick im Pausenhof im Lissaboner Arbeiterviertel sei, lief er an, und sluppte die Kugel unterschnitten über den englisch Torwart Calamity-James ins Tor. Was für eine coole, ja geniale Frechheit in der wichtigsten Situation der portugiesischen Welt vor den Augen von Milliarden Menschen! Was der Liebe Gott dem guten Postiga wohl geschickt haben mag? Wir wissen es nicht, wir ahnen nur, dass er und die Jungfrau von Fatima nun die nächste Fügung hinab sandte – sie landete in den Händen und im rechten Fuß des portugiesischen Torwarts Ricardo. Als es nämlich Spitz auf Knopf stand, hielt Ricardo einen Elfer des bedauernswerten englischen Stürmers Vassell – und zwar ohne Torwarthandschuhe! Und als ob dies der Heldentaten nicht genug sei, schnappte sich Ricardo kurz darauf den Ball und versenkte die Kugel mit dem nächsten Elfer im englischen Tor. Portugal hatte gewonnen und zog ins Halbfinale ein. Oder anders gesagt: 15 heilige Fußballer (elf Spieler, drei Ersatzspieler und der Trainer Scolari), der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima hatten ein ganzes Volk errettet.

Im „Lisboa“ lagen sich Stuttgarter Portugiesen in den Armen und der Mann, der vor dem Spiel die Teelichte unter dem Schrein auf dem Tischchen vor der Fahne anzündete und betete, der schritt noch einmal an seinen Altar, faltete die Hände, senkte sein Haupt für ein Moment und stieß vor den immer noch leuchtenden Teelichten einen kurzen Freudenjubel aus. Dann hängte er die portugiesische Flagge vor die Kneipe, gab mir einen Klaps auf die Schulter und sagte: „Bis zum nächsten Spiel“. Und hinterließ damit einen Tagebuchschreiber von Sinnen: War ich am Ende Teil der portugiesischen Fußball-Liturgie? Bin ich etwa ein portugiesisches Fußballmaskottchen? Muss ich jetzt katholisch werden und zum Halbfinale wieder das St.Pauli-Retter-T-Shirt anziehen? Und werden dann auch die gegrillten Sardinen und der Wein billiger für mich? Ich bin irritiert, aber irgendwie entzückt. Und denke an Luis Figo, den der Liebe Gott und die Jungfrau von Fatima inzwischen bestimmt aus der Umkleidekabine geführt und wieder in ihre portugiesische Mitte geschlossen haben.

P.S.: Falls jetzt irgend jemand irgend etwas vermisst haben sollte, noch dies: In der 27. Minute vertrat sich der 18jährige englische Stürmer Wayne Rooney den Knöchel und wurde ausgewechselt. Jener Wayne Rooney, von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“. Ich wollt’s einfach nochmal gesagt haben.

Bis Morgänn!!!!


 
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Donnerstag, 24. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 12 (Mittwoch, 23. Juni) „Liebes Tagebuch. Schnüff. Heute ist ein trauriger Tag. Alle meine Freunde vom Fernsehen gucken ganz bedröppelt in die Kameras, als ob ihnen in der großen Pause ein ganz doofer Blödmann klebrigen Zitronensaft in den Schulranzen geschüttet hätte. Und wenn sie nicht ganz, ganz starke Fernsehindianer wären, dann würden sie jetzt ganz bestimmt ganz doll weinen. Der Günni zum Beispiel sagt, er sei ganz arg enttäuscht, und man müsse „ganz deutlich sagen, dass uns einfach die Qualität fehlt“. Für den Becki war das, was er gesehen hat „nicht nur ein Schlag ins Kontor, sondern auch ein Schlag in die Magengrube“. Der Delli will das Ganze jetzt erstmal „aufarbeiten“ und der Waldi fragt den Gerri, ob es jetzt nicht „Konsequenzen“ geben müsse. Dann kommt noch der Rudi dazu und sagt, dass er das nun erstmal sacken lassen muss. Ich muss fast weinen, als ich das alles höre und würde meine Freunde vom Fernsehen deshalb am liebsten ganz doll drücken und trösten. Aber was ist denn nur passiert, dass alle so traurig sind?

Nun, etwas ganz Schlimmes ist passiert: Unsere Jungs haben das entscheidende Gruppenspiel gegen die Tschechen verloren und sind deshalb aus dem Turnier ausgeschieden. Obwohl alle daheim dachten, dass sie das Turnier gewinnen werden. Und noch viel schlimmer: Statt unseren Jungs sind jetzt diese dämlichen Käsköppe im Viertelfinale, weswegen wir von denen jetzt den selben üblen Spott um die Ohren geknallt bekommen, den sie noch vor zwei Jahren von uns zu hören bekamen, als sie die Qualifikation für die WM in Japan und Südkorea verpassten. Aber das Allerallerallerschlimmste ist, dass die Tschechen mit ihrer Ersatzmannschaft gegen uns gewonnen haben. Drei Angriffe, zwei Tore. Und unsere? 167 Angriffe, 98 glasklare Torchancen, ein Tor.

Wir haben also ganz viel leiden müssen heute! Zuerst hatten wir ja noch gedacht, dass wir gegen die Tschechen gewinnen, weil der Michi nach der schönen Vorlage vom Lahmi und vom Schweini nach 18 Minuten den Ball total klasse ins Tor schoss. Doch dann haute so ein tschechischer Ersatzspieler dem Olli einfach so einen Freistoß rein, und wir mussten wieder von vorne anfangen und weiter leiden. Dabei hätte doch nur ein Tor mehr als von den Tschechen gereicht. Aber unsere Jungs schossen immer am Tor vorbei oder gegen den Mann mit dem gelben Pulli im Tor von den Tschechen. Kein Schuss wollte reingehen, nicht der vom Kevi, nicht der vom Berndi, auch nicht der vom Didi und schon gar nicht der vom Toddi, vom Arnie, vom Poldi, vom Lahmi und vom Schweini. Und gleich gar nicht der vom Jerri, unserem Fiffi mit dem großen Gebiss und dem bösen Knurren, den der Rudi noch fünf Minuten lang aus seinem Käfig von der Leine auf den Platz gelassen hat – und zwar ganz ohne Maulkorb. Schön, dass es in Portugal noch keine Kampfhundeverordnung gibt!

Dabei standen unsere Jungs bei ihren Schüssen immer so dicht und immer so alleine vor dem tschechischen Tor, dass es fast schwieriger war, den Ball vorbeizuschießen als ins Tor. Das haben die Tschechen viel besser gemacht. Da hat ein Angriff gereicht in der zweiten Halbzeit: Der tschechische Stürmer war einfach zwischen dem Chrissie und den Jensi hindurch spaziert, hat den Olli angeschossen, den Ball dadurch wieder zurück bekommen und ihn dann ins Tor gemacht. So einfach geht das – wenn man Tscheche ist. Wenn man Deutscher ist, muss man arbeiten, muss man Wille haben, muss man mit der Brechstange hohe Flanken in den Strafraum schießen, muss man kämpfen, rackern, fighten. Bei uns ist Fußball nämlich überhaupt kein Spaß. Auch wenn ein Spieler mal „eine freiere Rolle“ bekommt, wie der Becki über den Jensi am Anfang gesagt hat.

Dabei waren wir alle noch so guter Dinge vor dem Spiel: Die Fans im „Brückenhaus“ zum Beispiel, mit ihren T-Shirts, wo „Canada“, „Jamaica“ und „Schland“ draufstand und die immerzu „Kevin, oh, oh, oh, oh, oh“ riefen und jubelten, weil der Schweini mal von Anfang spielen durfte: „Weltklasse! Mit dem Schweini klappt das ganz bestimmt“, hat der im „Jamaica“-T-Shirt fröhlich gesagt. Und noch viel mehr jubelten, als der Chrissie dem Schiri ein Bein stellte und der Schiri auf seinen Hintern flog. Und noch viel, viel mehr jubelten, als der Michi das Tor schoss und der kleine Poldi in der zweiten Halbzeit mitspielen durfte. Und ganz, ganz arg doll jubelten sie, als der Rudi den Jerri fünf Minuten vor Schluss eingewechselte: „Jawoll, jetzt fallen bestimmt die Netze, und gleich wechselt er noch Angela Merkel ein“, hat wieder der im „Jamaica“-T-Shirt gesagt.

Aber als der Schiri dann abpfiff und unsere Jungs tatsächlich 1:2 verloren hatten und ausgeschieden waren, da jubelte keiner mehr im „Brückenhaus“. Dann sagte plötzlich wieder der im „Jamaica-T-Shirt, das sei ja überhaupt kein Wunder, weil: „Uns fehlen halt die schwarzen Steppenläufer aus den Kolonien und ein richtiger Preisboxer wie der Rooney“ (von dem der Franzi übrigens sagt, dass der ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaa“ erinnert). Und alle im „Brückenhaus“ waren plötzlich ganz arg traurig und bestellten sich erstmal eine Runde Schnaps und ganz viel Bier und ich war mal wieder der einzige, der hören wollte, wie traurig der Günni, der Becki, der Delli, der Waldi, der Gerri und der Rudi darüber sind, dass unsere Jungs jetzt bei den Großen aus Frankreich, Portugal, England, Holland, Schweden, Dänemark, Tschechien und Griechenland nicht mehr mitspielen dürfen. Schnüff. Ist das traurig!

Bis Morgänn, schnüff!!


 
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Mittwoch, 23. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 11 (Dienstag, 22. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute hat mich die Muse geküsst. Und ich weiß nicht mehr genau, welch Antrieb es gewesen war. Wohl doch eine innere Fügung? Denn scheinbar ausgelöst von den wärmenden Abendstrahlen der tiefen Junisonne, die hoch droben über dem Neckar thronte, setzte die Fügung mich ins Auto und lotste mich hinauf nach Marbach. Geburtsort Friedrich Schillers. Standort des Deutschen Literaturarchivs und des Schiller Nationalmuseums. Früherer Wohnort meiner Schwester. Oh Herr, welch große Welt des Wortes, die sich da ihn Marbach auftürmt. Symbolhaft prächtig präsentiert im neoklassizistischen Museumsbau am Kopfe des sanft ansteigenden Ufers des Neckars zwischen Rebenhügeln und fruchtbaren Feldern. Und drunten an der Uferstraße stehst Du, kleiner Tagebuchschreiber. Staunend aufschauend als winz‘ges und dunkel beleuchtetes Verbalinstrument schwächlicher Sprachgewalt, das seine Worte aus dem minderwertigen Repertoire brachialer, männlicher Kampfeslust in Ballspielen auf einem begrünten Stadionviereck schöpfet. Du gut gemeinter Versuch von einem probaten Sprachrohr des Volkes liebster Freizeitbeschäftigung. Olééé, oléoléoléééééé.... Spötter würden sagen: „Jetzt ist er größenwahnsinnig geworden“. Und Wohlgesonnene: „Ein bisschen Bildung und sprachliche Schärfung kann diesem wollenden Sprachcharakter ja nicht schaden; und dereinst wirst vielleicht auch Du noch den richtigen Weg zur wahren Literatur finden und ihn stolz beschreiten.“

Ich selbst aber würde sagen: Hier in Marbach hat das wahre Drama seinen modernen Ursprung. Hier wurde einst die wahre Literatur eins mit jenem Moloch, der Jahrhunderte zuvor noch ein großes Reich gewesen war und irgendwann schändlich unterging, darob aus liederlicher Dekadenz, heillosem Übermut, sträflicher Ignoranz und grobem Dünkel. ROM! Heiliges Rom!! Heimstatt der Cäsaren und der mit Schweinskaldaunen gefüllter Weinamphoren. Hedonistischer Hort der üblen Sünde und des sündigen Übels. Caligula, Brutus und Gaius Bonus. Circus Maximus, Ben Hur und Wurstpellenmarmelade. Barbaorum, Laudanum und Hintenrum Ost. Muss ich noch mehr sagen? Unterdrückung, Sklaverei und Menschenverachtung. Vertreibung, Tod und Feldzüge wohin das Auge des Alten Kontinents nur blicken konnte. Dieses Rom war dem Untergang geweiht. Moritat te salutant – die Totgeweihten grüßen Dich! Doch wenn schon nicht bei Asterix & Obelix längst geschehen, dann wenigstens bei der EM 2004 in Portugal. Und welcher Ort eignete sich nicht besser dafür, diesen Untergang zu fokussieren, als der Hort der Aufklärung, des Strums und des Drangs, des Friedrichs und des Schillers. MARBACH! Denn war Schiller nicht auch mal irgendwann in Italien gewesen? Ach nee, das war Goethe. Also weiter im Text:

Marbach, ein freundliches, kleines, schwäbisches Städtchen, das den Charme eines toskanischen Dörfchens hoch droben auf einem Reben- und Olivenhügel versprüht. Hier ist das Kopfsteinpflaster noch wirklich so alt wie Schillers Geburtshaus. Hier ist das Fachwerk noch nicht aus dem Baumarkt rekonstruiert worden. Und hier spukt der Freigeist des 18. Jahrhunderts noch immer durch die engen Gässchen, in denen heute junge Künstler, Handwerker und Literaturfreunde ihr einfaches Leben leben. Hier stehen Olivenbäumchen und Sitzbänkchen aus Holz vor den Häuschen und ranken Weinrebchen die Fachwerkwändchen hinauf. Hier versperrt der Bauer mit seinem Erntetraktor noch den Weg zum Bürgerturm. Und hier sind die Hausschilder noch aus schwerem Schmiedeeisen, und hinten, aus den kleinen Fachwerkhäuschen, an denen diese Schilder prangen, hört man lautstark weibliche Stimmen bereits die römische Nationalhymne singen und es klingt, als tue die Stimme dies nicht freiwillig oder müsse irgendwem einen ganz besonderen Nationalstolz erweisen. Hier muss man sich einfach wie dort auf dem Stiefel fühlen, wo Rom einst herrschte. Und es kann deshalb nur einen Platz geben, den Untergang des modernen Roms zu erleben: eine Pizzeria mitten im Ort.

Es ist schließlich das entscheidende Spiel in Gruppe C, mit einer Ausgangslage, die nur zu einem Drama Schillerschen Ausmaßes werden kann. Und das mit Römern als tragischen Helden der Fußballgeschichte: den Legionären, Zenturios und Gladiatoren von Lazio Rom und AS Rom von Juventus Turin und von AC und Inter Mailand. Um jeden Preis gewinnen mussten sie gegen die bereits ausgeschiedenen Bulgaren. Aber ein Sieg half ihnen nur dann, sollten Dänen und Schweden im anderen Spiel der Gruppe nicht 2:2 spielen (sagt zumindest die UEFA und wir glauben ihr das auch, denn wahrscheinlich kann wieder mal keiner das Gegenteil beweisen). Alles andere als ein 2:2 zwischen Dänen und Schweden würde Rom also doch weiterbringen. Voraussetzung allerdings ein eigener Sieg, woran zu zweifeln für einen wahren Römer ja erst gar nicht erst zur Debatte steht – vene, vidi und vici, Himmelherrgottsakra! Viel schlimmer jedoch die Vorstellung römischer Ohnmacht: Das kultivierte Rom ist nämlich abhängig vom hoffentlich unabhängigen Sportsgeiste der beiden Wikingervölker. Werden die Barbaren, die ja das Blut ihrer Opfer aus deren Schädeln trinken und aus deren Häute ihre Zeltwände gerben, werden diese Barbaren wirklich wahren Sportsgeist an den Tag legen und lieber im gloriosen Bruderkampf die Waffen strecken und einen Sieger ermitteln als sich gegen das Große Rom hinterlistig zu verbünden, wie die römische Presse und die römischen Gladiatoren mit ihrem Trainer, dem Trapper Toni, vorab unkten? Beim Mars, beim Jupiter und beim Uranus: Welch Entscheidung von historischem Ausmaß hier und heute fallen wird!

Drei Pizzerien im Kern des mediterran-friedlichen Kulturstädtchens Marbach kamen also in Frage, den Kollaps des römischen Fußballreichs televisionär zu erleben. Und es ward kaum zu glauben: In keinem, ich wiederhole: in keinem dieser Lokale stand ein Fernseher. Dafür speiste holdes, feines, ja auserwähltes Publikum exquisites Mahl darin; und ihre römischen Kellner waren beschürzt mit langen, weißen und edlen Bedienungsroben, und bestürzt ob der Frage des Tagebuch schreibenden Kulturflegels, ob denn bei ihnen das Spiel Italien gegen Bulgarien gezeigt werde. Und alle Wirte zeigten mir unisono den Weg zum Fuße des Stadthügels: zum Café Provinz. Hier also, wo junge Marbacher Bier statt Wein trinken und mit Schinken und Käse belegte Fladenbrote statt marinierte Scalopine schmausen, hier also musste ich mir den Untergang Roms ansehen. Zwischen fünf jungen deutschen Fußballfans und zwei gelangweilten, jungen Pärchen, die sich offensichtlich alle das Scheitern Roms und den Triumph der Nordischen Allianz herbei sehnten.

Und es wurde in der Tat ein Drama Schillerschen Ausmaßes. Ja, es erinnerte gar an den Vier-Minuten-Meister-der-Herzen von 2001, an Schalke 04. In der 93. Minute schaffte Rom nämlich tatsächlich den Siegtreffer gegen Bulgarien und glaubte für wenige Minuten an das Fortbestehen seines Fußballreiches. Doch dann kam die Kunde aus Porto. Dort, in dem Stadion, das den Reporter Simon an das Millerntor in Hamburg, der Kultstätte des FC St. Pauli, erinnert, dort also schenkten sich die beiden liederlichen Wikingerbanden in der Tat gegenseitig ihr Wunschergebnis 2:2 – und sorgten damit für den Untergang des Römischen Fußballreiches. Der Ausgleichstreffer der Schweden fiel äußerst glücklich in der vorletzten Spielminute. Und wenn man sich das Tor in Zeitlupe genauer ansah, dann sei schon angemerkt, dass der dänische Torwart Sörensen, wenn er denn wirklich gewollt hätte, den Ball festgehalten hätte, den ein tapferer Schwede schließlich in sein Tor schoss. Tat er aber nicht und so bleibt es müßig darüber zu sinnieren, ob das Heilige Römische Reich nicht doch einem finsteren nordischen Komplott zum Opfer gefallen war. Hamlet lässt grüßen! Und welch Fügung an diesem schicksalhaften Tage: Rom ist untergegangen, die Aufklärung, Schiller und Marbach haben gesiegt. Und ich habe ein bisschen von großer Literatur einatmen dürfen. Alea jact est!

Bis Morgännn!!!!


 
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Dienstag, 22. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 10 (Montag, 21. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute habe ich die beste Pleskavica seit 21 Jahren gegessen, als ich noch Schüler war und zum bisher ersten und einzigen Mal in Kroatien, damals noch Jugoslawien, urlaubte. Eine Pleskavica ist eine ziemlich große, hart gepresste, gegrillte Hackfleischscheibe serviert mit Pommes, Djuvec-Reis, Ajvar-Relish und gehackten Zwiebeln. Dazu ein Pils. Djuvec-Reis ist übrigens gewürzter, in Paprikasauce angemachter Reis und Ajvar-Relish eine ziemlich scharfe Paprikapaste, sozusagen die kroatische Salsasauce. Ein Gedicht, das ich mir da in den Schlund gleiten ließ. So etwas Gutes bekommt man nur in einer Vereinsgaststätte serviert, denn in einer Vereinsgaststätte kocht der Koch praktisch für seinesgleichen. Das kann nur beste Küche sein, denn ich will mal den Koch einer Vereinsgaststätte sehen, der pfuscht und schlampt. Der wird von den Mitgliedern des Vereins unter Zuhilfenahme von deren Vätern, Brüdern und Kumpels wahrscheinlich zuerst kopfüber in den Suppentopf geworfen, darin mehrmals umgerührt - und wird auch danach kein schönes Leben mehr in seiner Küche haben.

Ich habe die Pleskavica im „Makarska“ gegessen, der Vereinsgaststätte der SKG Stuttgart Max-Eyth-See 1898 e.V., an einem Waldstück auf dem Weg nach Remseck und wenige Meter vor der Neckarstaustufe Mühlhausen, dem Open-Air-Lokal „Arschlöchle“ und Rohlaffs Schrebergarten in Hofen gelegen. Im und vor dem „Makarska“ ist eigentlich immer eine ganze Menge los. Auf den Fußballplätzen und Tennisplätzen drumherum wird ständig gespielt, egal ob Jugendmannschaften oder Erwachsene, werden Vereinsfeste gefeiert mit viel Bier und viel Grillen, oder man trifft sich auch mal zu einer privaten Zusammenkunft im Lokal. Vor dem „Makarska“ sind immer viele Fahrzeuge geparkt, und wenn die aus ihren Parklücken hinausgefahren werden, müssen ihre Fahrer ziemlich gut aufpassen, denn sonst überfahren sie garantiert Skater, Biker, Walker und anderes sportives Publikum, das dort in den sommerlichen Abendstunden und vor allem am Wochenende in der Stärke eines Ameisenstaates die Wege vor der Vereinsgaststätte kreuzt.

Derart bevölkert hatte ich mir die Lage auch heute Abend vorgestellt. Zumal es für die Kroaten bei der EM um Alles oder Nichts ging. Nur ein Sieg über England würde den Einzug ins Viertelfinale gegen Gastgeber Portugal bedeuten, alles andere die vorzeitige Heimfahrt. Die Stimmung ist gut unter den Kroaten, denn sie haben den großen Franzosen erst vor wenigen Tagen ein 2:2 abgetrotzt - und zwar ziemlich verdient. Jetzt also England, das verspricht ein großartiger Fight bis zur letzten Spielsekunde zu werden. Zwei Mannschaften, die es gewohnt sind, um jeden Ball und jeden Zentimeter Boden zu kämpfen, die austeilen und einstecken und ergo alles tun, um eine Runde weiterzukommen. Besser kann die Ausgangslage für ein großes Fußballfest in einem kroatischen Vereinslokal also nicht sein. Ich sehe sie schon vor mir, die vielen rot-weiß-kariert gekleideten Fans, die lautstark und im Chor „Hrvatska, Hrvatska“ schreien und jeden Ballgewinn, jede Torchance und jede Parade des eigenen Torwarts vor dem Fernseher stehend bejubeln und mit Beifallsstürmen beschenken.

Doch scheinbar trauen die Kroaten ihrer Mannschaft in diesem Jahr nicht viel zu. Denn vor dem Fernseher im „Makarska“, wo bestimmt 80 Menschen Platz gefunden hätten, hält sich zu Spielbeginn gerade mal ein einziger Mensch auf. Es ist der kroatische Wirt, der überhaupt nicht verstehen kann, dass die vielen Fans und Freunde, die sonst immer zu jeder Gelegenheit in sein Lokal stürmen, das entscheidende Spiel offenbar woanders angucken. Ein ganz schlechtes Omen für den Wirt, der darob dreinschaut als hätte man ihm soeben die Konzession entzogen. Ich setze mich zu ihm an den Tisch vor dem Fernseher, an dem mindestens 25 Menschen Platz gehabt hätten und bestelle eine Pleskavica und ein Pils. Das imponiert den Wirt überhaupt nicht und seine Miene erhellt sich erst in dem Augenblick, als ich ihm seine erste Gewissensfrage beantworte: „Und, junggäääär Maaaan, was tippen Sie?“ „1:0 für Kroatien“, sage ich weniger aus Höflichkeit, sondern weil ich dem Team von Ex-VfB-Trainer Otto Baric in der Tat eine Überraschung zutraue. Die Kroaten sind für mich stets zu allem fähig; außerdem hält der gute VfB-Verteidiger Zivkovic ihre Abwehr zusammen. Dann muss ich dem Wirt begründen, warum ich das Spiel gerade bei ihm angucke („weil es bei Ihnen die beste Pleskavica gibt“), ob ich Kroaten sympathisch finde („auf jeden Fall!“) und weswegen ich glaube, dass Kroatien das Spiel gewinnt („weil sie immer kämpfen bis zum Umfallen und weil VfB-Verteidiger Zivkovic die Abwehr zusammenhält“).

Der Wirt sieht mich an, als hätte ich ihm soeben verschimmeltes Brot als die neueste, gesündeste und wohlschmeckendste Innovation des Bäckerhandwerks am Anfang des 21. Jahrhunderts verkauft und lästert erstmal ordentlich über seine Mannschaft ab: „Die spielen doch alle in der ganzen Welt verstreut. Die haben doch gar keine Zeit gehabt, eine Mannschaft zu werden. Neenee, das wird nichts“. „Warten wir’s ab“, sage ich und kaum ist der letzte Atmer dieses Satzes in meinem Pilsglas verschwunden, führt Kroatien schon mit 1:0. Nach fünf Minuten drückt Niko Kovac von Hertha BSC eine miserable Abwehr von Englands Torwart James (auf der Insel wegen solcher Aktionen auch „Calamity-James“ gerufen) über die Torlinie. Der Wirt und ich klatschen uns ab – er glaubt nun doch, dass der Liebe Gott ein Herz für unterdrückte slawische Völker hat und ich habe meinen ersten richtigen Tipp dieser EM glitzernd vor Augen.

Nach dem 1:0 findet das Spiel nur noch vor dem kroatischen Tor statt. Die Engländer sind das definitiv bessere Team, spielen mit ihren Stars Beckham, Rooney (von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“), Scholes, Owen, Gerrard (der Mann, für den russische Ölmilliardäre 60 Millionen Euro Ablöse bezahlen) und Lampard Powerplay und es fällt nur deshalb nicht gleich der Ausgleich, weil sich die Kroaten mit Mann und Maus vor die Füße der Engländer werfen. Der Wirt raucht eine „Lord Extra“ nach der anderen und gibt seinem Team weiterhin keine Chance. Denn die Entlastungsangriffe der Kroaten sind ziemlich harmlos, und der Wirt ist ziemlich froh darüber, dass er für einen Moment in die Küche gehen kann, wo seine Frau meine Pleskavica zubereitet hat. „So, junggäääär Maaaaan, hier ist Ihr Essen. Stört es Sie, wenn ich rauche?“ Nein, es stört mich nicht. Es stört mich nur, dass sich die Kroaten von den Engländern derart einschnüren lassen, dass ich meinem Tipp schon nach 20 Minuten keine Chance mehr gebe. Das sieht der Wirt genauso und seine Laune verschlechtert sich von Minute zu Minute. Außerdem regt er sich darüber auf, dass der Reporter Johannes B. Kerner jedes Mal, wenn einer der vier kroatischen Bundesligaspieler am Ball ist, sagt, dass dieser Spieler in der Bundesliga spielt. „Ach, Ihrrr Deitschen! Warum muss er das immer sagen?“, fragt der Wirt zurecht und ich denke mir dazu: „Naja, ein gutes Zeugnis ist es zurzeit ja nicht gerade, in der Bundesliga zu spielen“. Und während der Wirt vor Aufregung mal wieder in der Küche nach dem Rechten sieht, fällt der Ausgleich. Und kurz danach auch das 2:1 für England durch den 18jährigen Shootingstar Wayne Rooney, von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“.

2:1 zur Pause, und der Wirt und ich wollen nicht mehr so recht an eine Wende glauben. Otto Baric wechselt einen Spieler namens Ivica Mornar ein, der Rechtsaußen spielt und der den Wirt in Optik und Motorik an den ehemaligen Bayernspieler Carsten Jancker erinnert. Und in der Tat: Mit Mornars Grobmotorik haben die Kroaten vorne noch weniger zu bieten. Im Gegenteil: Auf der Gegenseite fällt das 3:1, weil Stürmerstar Wayne Rooney, von dem Franz Beckenbauer sagt, er erinnere ihn an „den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“, den Ball lässig am guten kroatischen Torwart Butina vorbei ins Netz schiebt. Die Sache scheint gelaufen, doch die Kroaten wären nicht Kroaten, wenn sie nicht weiter kämpften, um die Ehre, um ihr Ansehen und natürlich um ihre letzte Chance. Verteidiger Tudor köpft eine Viertelstunde vor Schluss das 2:3, was den Wirt nicht sonderlich beeindruckt. Doch die kroatische Mannschaft bestürmt weiterhin tapfer das Tor von Calamity-James und könnte, mit etwas mehr Feinmotorik am Ball, längst das 3:3 geschossen haben.

Es kommt aber wieder ganz anders: Die Engländer setzen den nächsten Konter, den Lampard zum 4:2 abschließt und nun ist die Messe wirklich gelesen, die der kroatische Wirt aber nicht mehr zu Ende hören will und nun endgültig und restlos bedient in seiner Küche verschwunden ist. Trotzdem versuchen die Kroaten, bis zum Schluss ein Tor zu erzielen und das tun sie mit Moral und vor allen Dingen mit fairen Mitteln, womit mich dieser Abend in einem leeren kroatischen Vereinslokal im obersten Norden Stuttgarts um eine weitere Erkenntnis bereichert hat: Wenn Kroaten nur wollen, dann sind sie fair, sympathisch und freundlich. Und dann dauert es bestimmt auch nicht mehr 21 Jahre, sondern vielleicht nur noch 21 Tage, bis ich meine nächste Pleskavica esse. Und ich weiß auch schon, wo und von wem ich mir dieses leckere Futter servieren lasse.

Bis Morgännnn!!!


 
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Montag, 21. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 9 (Sonntag, 20. Juni) „Liebes Tagebuch. Seit heute weiß ich endlich, was ein richtiger Autokorso ist. Kurz nach halb elf Uhr abends ist die Stuttgarter Innenstadt nämlich komplett blockiert. Hunderte portugiesischer und griechischer Fans haben sich spontan in ihre Autos gesetzt und verstopfen jetzt die Hauptverkehrsadern der Stadt: vom Rotebühlplatz die B27 hinunter bis zum Hauptbahnhof, an dessen Front vorbei und hinten wieder die B14 hoch zum Charlottenplatz geht nichts mehr. Die Stuttgarter City ist von einem blau-weiß-grün-roten Fahnenmeer und einem Hupkonzert sondergleichen überzogen. Die Menschen stehen eingehüllt in griechische und portugiesische Flaggen in ihren Autos und jubeln aus den Autofenstern und den Schiebedächern hinaus. Andere haben ihre Fahrzeuge, auch Motorräder und Vespa-Roller sind darunter, komplett in ihre Landesflagge eingewickelt; sie schreien, singen und tanzen und erstmals wird so richtig deutlich, wie viele Griechen und Portugiesen in Stuttgart und Umgebung eigentlich zu Hause sind. Denn innerhalb kürzester Zeit haben sich auch Autos aus den umliegenden Kreisen ein den Korso eingereiht, wie an den Nummernschildern zu erkennen ist. Doch der Reihe nach: Heute war der entscheidende Spieltag in Gruppe A: Portugal gegen Spanien und Russland gegen Griechenland. Bis auf Russland konnten noch alle drei Mannschaften weiterkommen.

Um 20.47 Uhr hatte es noch gar nicht nach Autokorso ausgesehen. Denn die Russen schossen in Faro schon nach zwei Minuten das 1:0 gegen Griechenland und parallel dazu machten sich fünfzigtausendundelf Portugiesen in einem großen Stadion in Lissabon fast in die Hosen. Sie hatten Angst vor der Blamage, als Gastgeberland und Favorit der EM schon in der Vorrunde rauszufliegen, weswegen der wortgewaltige Trainer Scolari das entscheidende Spiel gegen Erzfeind Spanien im Vorfeld als „Krieg“ bezeichnete. Man muss wissen: Portugal verhält sich zu Spanien wie Österreich zu Deutschland. Und unsere Freunde aus dem südöstlichen Alpenland müssen sich ja auch immer martialisch aufmanteln, um wahrgenommen zu werden. Aber mal ehrlich, liebe politisch korrekten Kulturkritiker: Was schert es die Laterne, wenn sie von einem räudigen Straßenköter angebrunzt wird? Nochmal zur Erinnerung: Portugal muss gegen Spanien gewinnen, um weiterzukommen. Der große Bruder Spanien wäre dann draußen, was einer Kulturrevolution gleichkäme, die in so manchen Politikerhirnen auf der iberischen Halbinsel wieder die Sehnsucht nach Vormachtskämpfen wie im 16.Jahrhundert schüren dürfte. Wir befinden uns aber nach wie vor im 21. Jahrhundert und auf dem Fußballplatz, wo die Situation nach zwei Spielminuten hingegen auch an einem völlig anderen, relativ emotionslosen Menschentypus nicht vorbeigeht: dem Wetter. Der Wetter ist nicht etwa Regen oder Schnee oder Sonne, sondern ein Mensch, dem es völlig egal ist, ob sich ein Land wegen eines verlorenen Fußballspiels kollektiv in den Atlantik stürzt oder nicht – Hauptsache, die Quote stimmt.

Im Live-Wettbüro im Gerberviertel stehen die Quoten nämlich nach zwei Spielminuten wie folgt: Wer auf einen Sieg Russlands setzt, bekommt für einen Euro Einsatz einsneunzich zurück, wer einen Euro auf die Griechen setzt, bekommt zwoneunzich zurück. Ein Sieg Spaniens bringt dreivierzich, ein Triumph Portugals zwoneunzich. Das sind aber nicht die einzigen Live-Wetten, die in dem kargen, mit Neonlicht beleuchteten Wettbüro mit angeschlossenem Internetcafé angeboten werden: „Wer schießt das nächste Tor?“, fragt der Monitor an der Decke. „Wer gewinnt die erste Halbzeit?“ und „Wer schießt den nächsten Eckball?“ sind die weiteren Wetten, mit denen man seine Ersparnisse verjubeln kann. Vier, sagen wir mal, Kirgisier an dem einen Tisch und drei ältere, etwas verlebt wirkende Deutsche am anderen Tisch brüten derweil über ihren Tippzetteln – als plötzlich das 2:0 für Russland fällt. Hektische Betriebsamkeit im Wettbüro. Zwei Männer stehen hektisch auf und geben neue Tipps ab, ein südländischer, heftig tätowierter Typ stürmt plötzlich mit einem Bündel Scheinen in den Raum und erklärt der etwas korpulenten und nicht eben intelligent wirkenden Blondine am Tippschalter nachhaltig gestikulierend, was er mit dem Geld vorhat. Unterdessen sich die Quoten am Bildschirm minütlich ändern: Nach 18 Spielminuten gibt’s zwofuffzich für einen russischen und nur noch einsfünfundsechzich für einen griechischen Sieg. Relativ ausgeglichene Quoten dagegen beim anderen Spiel: Spanien zwoneunzich für eins, Portugal zwodreißich für eins. Acht Minuten später: Im Spiel Russland gegen Griechenland will sich Otto Rehhagel beinahe vom Tribünendach stürzen, weil Charisteas, der Bremer, den Ball aus drei Metern Entfernung vier Meter über das leere russische Tor drischt. Das wirkt sich sofort auf die Quoten aus: Für einen griechischen Sieg gibt’s jetzt neun für eins, für einen russischer Sieg gerade noch einszwanzich. In der 35. Minute bringt ein griechischer Sieg sogar zwölf für eins. Dann die 44.Minute: Die Griechen erzielen den Anschlusstreffer und zur Pause haben sich die Quoten zu Gunsten der Griechen verdrittelt: vierfuffzich gibt’s für ihren Sieg, wer jetzt noch auf die Russen setzt, bekommt einsfuffzich. In Lissabon gehen die iberischen Kontrahenten unterdessen mit einem 0:0 in die Pause. Die Portugiesen waren spielbestimmend, deshalb auch die Quoten: Spanien dreidreißich für eins, Portugal zwozwanzich für eins.

Wer jetzt glaubte, das Wettbüro in der Christophstraße werde in der Halbzeitpause von wettwütigen Portugiesen, Russen, Griechen und Spaniern aus den umliegenden Kneipen überrannt, wird maßlos enttäuscht: Nur die vier Kirgisier brüten weiterhin über ihren Tippzetteln und reden bereits über das morgige Spiel England gegen Kroatien. Die verlebten Deutschen holen sich aus dem Kühlschrank inzwischen einen Erfrischungsdrink (übrigens nur alkoholfreie Getränke drin!), vertreten sich die Beine und lauschen den schlauen Halbzeitworten des Netzers. Wie viel Euros nach dem Ende der Spiele an diesem Abend tatsächlich die Taschen der Besitzer wechselten, werde ich wahrscheinlich nie erfahren, denn ich bezahle einen Euro für das Apfelschorle und wechsle das Lokal. Jetzt wird’s nämlich richtig spannend und das will ich da erleben, wo die Fans sind. Ich entscheide mich für das „La Oncha“ am Wilhelmsplatz, gleich neben dem „Sancho Panza“ (vgl. Tag 5). Der Kneipenname kommt mir ziemlich spanisch vor, und ich vermute, dass hier richtig Stimmung ist. „La Oncha“ kann aber unmöglich spanisch sein, denn in dem engen Kellergewölbe zapft sich ein langhaariger Mann mit griechischem Fußballtrikot an der Bierzapfanlage beinahe um den Verstand. Direkt vor der Leinwand haben sich drei Frauen auf Barhockern aufgebaut, wobei die mittig platzierte mit ihrem Körperumfang fast die komplette Leinwand bedeckt und ihren Freundinnen dabei lautstark berichtet, warum die Lehrer sie in der Schule immer benachteiligt haben. Das restliche Publikum in der Kneipe sind auch weder Portugiesen noch Griechen noch viele Spanier, sondern Bier trinkende, deutsche Mittdreißiger, die gekleidet sind als lebten sie ihr Leben in ihren 30 Jahre alten Jeansjacken den gesungenen Geschichten von Johnny Cash und Kurt Cobain nach. Nur ein trauriger Spanier sitzt auf der Bierbank an der Wand, fiebert leise leidend mit seinem Team mit und umklammert dabei fest ein Stuttgarter Double von Jennifer Lopez.

Tja, Glück in der Liebe, aber Pech im Spiel. Seine Mannschaft muss in der 57. Minute nämlich den Siegtreffer der Portugiesen durch Volksheld Nuno Gomes hinnehmen und ich stelle fest: Wer Nirvana und Johnny Cash hört, steht im Fußball auf Portugal. Denn bis auf den traurigen Spanier mit der Jennifer Lopez im Arm jubelt die ganze Kneipe. Ist auch kein Wunder: Die Portugiesen spielen wesentlich schöner, engagierter und leidenschaftlicher. Und während die Spanier etwas uninspiriert versuchen, den Ausgleich und damit das Viertelfinale zu retten, versemmeln die Portugiesen bei ihren Kontern kurz vor Schluss tausendprozentige Torchancen, was Günter Netzer mitfühlen lässt – und zwar zugunsten der portugiesischen Sportsfreunde, die die Bälle in todsicherer Position in den Lissaboner Nachthimmel dreschen. Denn hätten die Spanier tatsächlich doch noch den Ausgleich geschossen und ganz Portugal damit in die Depression geschickt, hätte man die Fahrkartenschützen anderntags garantiert in eine Nussschale im Lissaboner Hafen gesetzt und rudernd nach Brasilien geschickt.

Ist, zum Glück für Portugal, aber nicht passiert, weswegen sich der traurige Spanier noch lange nach dem Schlusspfiff niedergeschlagen im Schosse seiner Jennifer Lopez trösten muss. Derweil die Kurt-Cobain-und-Johnny-Cash-Hörer zufrieden und lautstark Fußballszenen diskutierend ihr Jeansjackenleben an der Bar weiterführen – und dabei ziemliches Glück haben: Denn der Barkeeper im Griechentrikot kann leider nicht am Autokorso seiner Landsleute teilnehmen. Er muss Bier im Minutentakt zapfen, was er aber mit freudigem Gesichtsausdruck tut, denn auch sein Team ist trotz der 1:2-Niederlage gegen Russland im Viertelfinale angekommen.

...Bis Morgännn!!!


 
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Sonntag, 20. Juni 2004

Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch


Tag 8 (Samstag, 19. Juni) „Liebes Tagebuch. Heute ist der achte Tag, und am achten Tag hat der Liebe Gott ja bekanntlich die Harley Davidson gebaut. Behaupten zumindest Motorradfreaks. Fußballfans sagen ab heute und bis in alle Ewigkeit und bis hinter die noch weiter entfernteren Jagdgründe, dass der Liebe Gott am achten EM-Tag das Fußballspiel erfunden hat. Besser gesagt: dessen Sollzustand, wie ein Fußballspiel also idealerweise auszusehen hat. Der Liebe Gott hat nämlich das Spiel Tschechien gegen Holland gesehen und danach seine unwiederbringliche Entscheidung vom Zu-Sein-Habenden Fußballspiel definiert. Wo und wie er das Spiel geguckt hat, weiß wohl nur der Liebe Gott selbst. Ich habe es jedenfalls mit meinen Kumpels Rick und Tom in Ricks Ludwigsburger Wohnung geguckt. Und zwar so klassisch und stilecht, wie es sein muss: mit Familienpizza aus dem Karton vom Bringdienst (von den Pizzabäckern vom „O Sole Mio“, vgl. Tag 3) - belegt mit roter Paprika, schwarzen Oliven und fettiger Salami – sowie Bier aus dem Kasten („Tannenzäpfle“, was sonst?). Am Anfang ist die Stimmung gedämpft und nachhaltig nörgelnd negativ: die Holländer führen nach 20 Minuten nämlich bereits 2:0 und es droht ein Schützenfest in Orange, weil die Tschechen in der Abwehr so sicher stehen wie Fernseher-EM-Aufbauten in der Trattoria „La Signora Moro“ (vgl. ebenfalls Tag 3). Die Holländer dagegen scheinen ihre verordnete Sicherheitstaktik aus dem Deutschlandspiel völlig abgelegt zu haben und sind zu dem zurückgekehrt, was sie können und wollen: Herz erfrischendes Offensivspiel mit drei Stürmern, angetrieben von den beiden Pitbulls im Mittelfeld, Edgar Davids und Clarence Seedorf. Reporter Reinhold Beckmann ist verzückt von der Tatsache, dass er endlich mal ein taktisches Spielsystem identifiziert hat: „Trainer Dick Advocaat hat uns alle überrascht! Er lässt kein 4-4-2 und auch kein 4-3-3 spielen, wie wir es erwartet haben. Er hat ganz überraschend auf ein 3-4-3 umgestellt! Während die Tschechen mit nur einer hängenden Spitze spielen“. Beckmann, Du alter Fuchs! Hast’s erkannt!! Schon nach 20 Minuten!!! Wow!!!! Dem gemeinen, bierseligen deutschen Fußballfan hättest Du, lieber Beckmann, jetzt auch etwas vom 3-5-2, 3-3-1-3 oder 4-2-3-1 verzapfen können. Kapiert ausser Ralf Rangnick und Michael Skibbe eh keiner. Und wo, zum Kuckuck, steht eigentlich der Galgen mit der hängenden tschechischen Spitze, die Du gesehen haben willst? Egal, bei dem tschechisch-holländischen Gewusel auf dem Bolzplatz von Aveiro hat sowieso niemand einen Blick für Nebensächlichkeiten übrig.

Denn im Spiel Holland gegen Tschechien herrscht überhaupt keine Ordnung. Und das ist das Schöne daran. Ob orange oder weiß gekleidet: alle Mann vor mit Hurra und Trompete. Ohne taktisches Geplänkel, ohne Rochaden und ohne Zuordnungen aus dem Theorieknigge der Sporthochschule Köln, die uns der deutsche Taktikfuchs Michael „Skarabäus“ Skibbe bestimmt wieder zugemutet hätte. Im Gegenteil: Die Tschechen kontern nicht mit System, sondern mit Schmackes – Anschlusstreffer nach 24 Minuten. Der Zweimeterriese Jan Koller von Borussia Dortmund nutzt eine Vorlage des durchsetzungsfähigen Stürmers Milan Baros und Reinhold Beckmann flippt förmlich aus: „Drei Tore in 24 Minuten – Fußball kann so schön sein“. Und weiter geht’s, rauf und runter. Clarence Seedorf setzt einen Freistoß nur Millimeter neben das tschechische Tor und Beckmann schreit: „SEEDORF! Der Mann hat so viel Gefühl im Ball...“ Aber nicht in den Füßen, wie sich ein paar Sekunden später herausstellt. Da senst Seedorf nämlich den Tschechen Rosicky von hinten übel um, was Beckmann aufstöhnen lässt: „Hach, in den Zweikämpfen ist so viel körperliche Bereitschaft...“ Auch diesen Satz kann Beckmann Gott sei Dank nicht zu Ende reden, denn: „Der Ball läuft schon wieder“. Aber zum Glück nicht aus oder weg, sondern wieder in Richtung tschechisches Tor, wo sich Beckmann dank der nächsten Freistoßchance der Holländer ausnahmsweise mal rhetorisch um den Ball kümmern muss. Das silberne Spielgerät mit Kriegsbemalung heißt „Roteiro“ und ist nämlich höchst umstritten. Vielen Zuschauern gefällt der Ball gar nicht (Hallo Rick! Hallo Markus!) und auch manchem Spieler passt der „Roteiro“ überhaupt nicht, wahrscheinlich weil er nicht von selber ins Tor fliegt. Das haben die deutschen Kicker dem Herrn Beckmann scheinbar exklusiv und persönlich und wahrscheinlich auch höchst empört gesteckt, erfahren wir nebenbei. Der Reporter verrät uns nämlich: „Viele Spieler sagen, der Ball hätte kein Leben, er gebe nicht nach, wenn man gegen ihn tritt!“ So ein böser, böser Ball aber auch! Oder haben sie schon mal jemanden erlebt, der nachgibt, wenn man ihn tritt? In unterdrückenden Herrschaftssystemen mehrheitlich auf der südlichen Welthalbkugel mag dies vielleicht der Fall sein. Aber im Mikrokosmos der Fußbällegesellschaft? Ich hoffe, all die arbeitslosen Kulturwissenschaftler, Soziologen, Biologen und Ethnologen haben gut aufgepasst. Es gibt offenbar etwas neues zu erforschen und die zu erwartende Doktorarbeit dürfte heißen: „Die ethnische, soziale und kulturelle Zusammensetzung der Fußbällegesellschaft unter besonderer Berücksichtigung ihrer biologisch-anatomischen Beschaffenheit hinsichtlich der Trittbereitschaft von Fußballern bei wichtigen Wettbewerben – Versuch einer Annäherung“.

Zweite Halbzeit, zweites Bier. Und auch zweites Tor für die Tschechen? Rick sagt grinsend voraus, dass die Holländer noch verlieren werden. Tom hofft es und ich habe vor lauter begeisterndem Glotzen keine Zeit zu tippen, weil das Spiel jetzt noch besser wird. Torchance auf Torchance hüben wie drüben. Doch plötzlich kippt das Spiel: Der holländische Trainer Dick Advocaat nimmt seinen besten Spieler vom Platz (ein 19jähriger Linksaußen, der für alle holländischen Angriffe verantwortlich zeichnet) und wird dafür morgen in seiner Heimat bestimmt in der Luft zerrissen. Kurze Zeit später bekommt ein Holländer auch noch die Gelb-Rote Karte wegen wiederholten Foulspiels vom Schiri entgegen gestreckt. Die grandiosen Tschechen nutzen die Überzahl jetzt gnadenlos aus, geben Rick recht und biegen das Spiel tatsächlich noch in einen 3:2-Sieg um. Zuerst donnert Baros ein Brustvorlage von Koller volley und mit Karacho zum Ausgleich in den Winkel. Und kurz vor Schluss spielen sie den holländischen Torwart derart frech aus und schieben den angeblich leblosen „Roteiro“ so provokativ ins holländische Tor, dass Ricks Bude beinahe bebt vor Lachen und Jubeln. Unglaublich, wie die Tschechen das Ding nach Hause gebracht haben, vor allem, weil sie vorher noch Chance um Chance hatten und allen voran der großartige Spielmacher Pavel Nedved die holländischen Spieler stehen ließ wie überzwerch aufgebrezelte, rundum gepiercte Discopüppchen am Samstag Abend in der Ludwigsburger Fußgängerzone. Da muss sogar der Immer-ein-Haar-in-der-Suppe-findende Obernörgler und ARD-Experte Günter Netzer völlig bewegt stammeln: „Das war Weltklasse, g-r-o-ß-a-r-t-i-g-e Weltklasse!“ Noch schlimmer präsentiert sich nur das Tabellenbild von Gruppe D nach diesem Spieltag: 1. Tschechien 6 Punkte (damit vorzeitig qualifiziert), 2. Deutschland 2 Punkte, 3. Holland 1 Punkt, 4. Lettland 1 Punkt. Zu Deutsch: Jetzt müssen die Deutschen eigentlich bloß noch gegen die Tschechen gewinnen, um eine Runde weiter zu kommen. Ja, ja, nichts leichter als das, gell? Höhnisches Prusten und Gelächter schallt durch Ricks Wohnung – vor allem nach dem, was wir zwischen 18 und 20 Uhr auf der Großbildleinwand im „Café Ennuit“ beobachten mussten...

Nämlich ein Trauerspiel sondergleichen. Deutschland gegen Lettland 0:0. Aber wie soll so ein Spiel schon anders ausgehen, wenn man es im „Ennuit“ angucken muss? Eine Designerpseudoszenekneipe in der herausgeputzten und gewienerten Fußgängerzone Ludwigsburgs, wo Samstag Nachmittags die oben erwähnten Püppchen ihre sackteuren Klamotten für den Discoabend kaufen und sich anschließend zu einer „Latte“ und völlig sinnfreiem Gezicke niederlassen, bis der Alte das Konto wieder aufgefüllt hat. Dort also, im „Ennuit“, haben sie eine Riesenleinwand aufgebaut und zwar so geschickt, dass allenfalls zwölf Leute in maximalem Abstand von zweieinhalb Metern drauf gucken können. Wir tun‘s unseren Augen trotzdem an und verzweifeln an der deutschen Unfähigkeit, gegen den Fußballriesen Lettland auch nur eine überzeugende Torchance zu erarbeiten. Fußballer, die als Offensivspieler bzw. Stürmer aufgestellt worden sind und Namen tragen wie Kuranyi, Bobic, Brdaric, Klose, Frings, Schweinsteiger und Ballack, versuchen, sich gegen eine rote Mauer aus Freizeitkickern aus der russischen Winterliga, die Namen tragen wie Firnis, Leitzins und Zellulitis, oder so ähnlich, durchzusetzen. Das aber ohne Plan, ohne Raffinesse, ohne Idee, ohne System, ohne Begeisterung, ohne Leidenschaft, ohne Können am Ball etc.p.p. Unglaubliche Szenen müssen wir sehen: Frings stolpert beinahe über eine ausgerollte Klorolle auf dem Platz, Didi Hamann bricht sich beim Ballstoppen beinahe den Knöchel, Klose köpft in der Nachspielzeit völlig frei stehend am Fünfmeterraum der Letten den Ball zur Eckfahne und Wörns kann das Siegtor der Letten nur deshalb verhindern, weil er den Letten-Stürmer Verpakovskis im Strafraum in den Schwitzkasten nimmt – und der Schiri trotzdem keinen Elfer pfeift.

Teamchef Rudi Völler läuft über dieses Dilli-Gekicke derart empört rot an, dass Reporter Steffen Simon nur noch sagen kann: „Und Rudi Völler kocht!“. Einen Rührlöffel habe ich in Rudis Hand zwar nicht gesehen. Die gepfefferten und gesalzenen Verbalzutaten für ihn liefert uns nachher aber bestimmt wieder unser schonungsloses Fußballgewissen Günter Netzer ab. Der Günter, wie ich ihn in seiner Abwesenheit immer nennen darf, faselt nach dem Schlusspfiff völlig entsetzt etwas von „Verzweiflung“, „fehlender Qualität“ und ... da schaltet die aufgebrezelte Bedienung im „Ennuit“ auch schon den Ton ab. Eine Netzer-Analyse dieses grausamen Gekickes will man sich dort nicht auch noch antun. Und inzwischen ist auch dem letzten überheblichen Deutschen sein Hang nach Letten- oder Lattenwitzen vergangen. Nur Olli Kahn nimmt’s gelassen und blafft ins Reportermikro: „Wir brauchen uns doch jetzt nicht über dieses Lettenspiel hier aufzuregen!“ Richtig, Olli!! Ist doch eh alles nur dummes Lettengeschwätz hier!!!

Bis Morgänn!!!!


 
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