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stumpy-joe - 19. Juni 2004 um 11:16:24 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch Tag 7 (Freitag, 18. Juni) „Liebes Tagebuch. Ich kann’s kaum erwarten: Dänemark gegen Bulgarien! Ein Match, auf das ich mich seit mindestens acht Jahren freue wie ein werdender Vater auf sein erstes Kind. War es nicht anno 96, als die beiden bei der EM in England die Zuschauer zuletzt begeisterten und die Fußballwelt seither in Agonie auf ein ähnlich spektakuläres Spiel zweier Weltklasseteams wartet? Heute, 18 Uhr, ist es endlich soweit: Hristov gegen Jörgensen, Petrov gegen Tomasson, Berbatov gegen Gravesen. Das ist Fußballglück in meinen Ohren: Das klingt nach rasend schnellen Ballstafetten und nach druckvollem Flügelspiel. Nach Fallrückziehern und Hacke, Spitze, Trallala. Nach Effet-Freistößen in den Torwinkel und nach packenden Zweikämpfen mit anschließendem Shakehands. Nach fairen Tacklings und nach lächelnden Schiedsrichtern, die ihre Karten ob des garantierten Sportsgeistes beider Mannschaften getrost in der Kabine vergessen können. Das klingt nach Spaß für die Galerie, nach einem 3:3 oder 4:4. Nach La Ola und Standing Ovations. Kurz: nach einem Fußballfest, wie es die Welt seit Italiens 4:3 nach Verlängerung gegen Deutschland bei der WM 1970 in Mexiko nicht mehr erlebt hat. Ach, am liebsten wäre ich jetzt im Hexenkessel des Estadio Municipal von Braga. Und ich werde nicht enttäuscht: Mit dem Anpfiff geht die Post ab. Nach 20 Minuten führen die Dänen in einem packenden, schnellen, technisch anspruchsvollen, taktisch erstklassigen und sportlich äußerst fairen Spiel mit 2:1. Obwohl es auch schon 3:3 stehen könnte, denn die mit Weltstars wie den drei Jensen-Brüdern und den großartigen Bulgaren Ivanov, Stoyanov und Lazarov gespickte Partie ist total ausgeglichen und an Rasanz kaum zu überbieten. Dann die 44. Minute: Der bulgarische Filigrantechniker Marian Hristov vom 1.FC Kaiserslautern nimmt eine Rechtsflanke quer in der Luft liegend volley ab und hämmert die Kugel so wuchtig ins Tordreieck, dass das Tor beinahe einstürzt. WAHNSINN! Das Stadion stürzt fast ein unter den begeistert trampelnden 22.000 Zuschauern. Die Partie verspricht, was sie hält. Die Akteure werden mit Ovationen in die Halbzeitpause geleitet. Zweite Halbzeit. Der Fußballzauber geht weiter. Jede einzelne Szene zu beschreiben, würde den Speicherplatz des größten Webservers der Welt sprengen. Es muss die Information genügen, dass am Ende ein 4:4 steht. Die Bulgaren gingen noch zwei Mal in Führung: ein Flugkopfball von der Strafraumgrenze aus und ein angeschnittener Heber vom Mittelkreis über den dänischen Torwart hinweg. Die Dänen glichen aus mit einem Hackentrick am Fünfmeterraum und einem brettharten Drehschuss nach sechsmaligem Ballhochhalten mit dem Rücken zum Tor. Nach den 90 Minuten sind die Spieler völlig ausgepumpt, der Schiedsrichter gratuliert allen 22 Akteuren plus den Trainern einzeln und Ehr‘ erbietend für die legendär gloriose Partie, die er pfeifen durfte. Die Zuschauer stehen noch 20 Minuten nach Spielende völlig hypnotisiert auf ihren Stühlen, schreien sich die Lunge aus dem Hals, um Zugabe zu fordern und wollen einfach nicht aufhören zu applaudieren. Die Spieler beider Mannschaften drehen gemeinsam eine Ehrenrunde und demonstrieren anschließend noch ein Mal die spektakulärsten Szenen in Zeitlupe nach. Die Fernsehsender verschieben die Hauptnachrichten und die Werbeblocks um zwanzig Minuten, damit die begeisterten Fernsehzuschauer langsam abchillen können. Die Staatschefs der EU-Länder, die in Brüssel gerade um die neuen EU-Verfassung ringen, unterbrechen ihre Verhandlungen, um kollektiv vor dem Fernseher Sekt trinkend die Feierlichkeiten nach diesem unglaublichen Spiel anzugucken. US-Präsident Bush zieht vor lauter Begeisterung die Truppen aus dem Irak ab. Osama bin Laden verkündet das weltweite Ende des Al-Kaida-Terrorismus. Die deutsche Wirtschaft verspricht unter dem Eindruck dieses unglaublichen Spiels die Schaffung von einer Million Arbeitsplätze in den nächsten sechs Monaten. Die Mineralölindustrie verkündet die Senkung der Spritpreise um 20 Cent pro Liter schon ab morgen. Die internationale Lebensmittelindustrie verspricht in einem Memorandum den Verzicht jeglicher unnatürlicher Zusatzstoffe ab sofort. Bayern-Manager Uli Hoeness gibt dem VfB Felix Magath zurück und obendrein 25 Millionen Euro, damit der die Gehälter seiner jungen Wilden in den nächsten fünf Jahren bezahlen kann und verzichtet gleichzeitig für die nächsten zehn Jahre freiwillig auf die Deutsche Meisterschaft. Und der liebe Gott verkündet Peace, Love and Happiness auf der Erde für die nächsten 800.000 Jahre. Dann wache ich auf und sehe im T-Online-Live-Ticker nach, was ich wirklich verpasst habe: das schlechteste Spiel dieser EM. Not gegen Elend. Kaum Höhepunkte. Eine Fehlpassorgie sondergleichen. Missverständnisse. Nicklichkeiten. Böse Fouls en masse. Kurz: unterhaltungsfreies Gekicke völlig talentfreier Akteure mit acht gelben und einer gelb-roten Karte. Als Einäugiger unter den Blinden gewinnen die Dänen schließlich 2:0, haben damit in zwei Spielen noch immer kein Tor kassiert und dafür jetzt beste Chancen auf das Viertelfinale. Die Bulgaren dagegen sind raus: 0 Punkte, 0:7 Tore. Ich freue mich auf die Realität von Spiel 2: Gelb-Blau gegen Blau-Weiß. Nein, leider nicht Brasilien gegen Frankreich, sondern Schweden gegen Italien. Doch allen Unkenrufen und negativen Vorahnungen ob eines abermalig chancenarmen Grottenkicks zum Trotz, tragen die beiden Mannschaften die symbolhaften Farben des vollendeten Fußballglücks beinahe zurecht: Gelb-Blau gegen Blau-Weiß, das ist auch dann ein großartiges Spiel, wenn Schweden und Italiener in diesen Trikots stecken. Von der ersten Minute an, und das ist wirklich kein Traum, Power und Rasanz, hohes Tempo und trotzdem technisch hochwertiger Fußball. Die Italiener präsentieren sich heute von ihrer besten Seite. Liegt es daran, dass „Lama Totti“ nicht dabei ist? Dass Del Piero und Cassano die Fäden ziehen dürfen? Dass Panucci rechts und Zambrotta links ein für die Italiener ungewöhnliches Flügelspiel aufziehen? Sie liegen nur deshalb nicht schon früh in Führung, weil Vieri in der Mitte die präzisen Flanken von Panucci und Zambrotta nicht so trifft, wie sonst. Da vergisst auch Reporter Johannes B. Kerner vor lauter Begeisterung für einen kurzen Moment, was er im Rechenunterricht in der zweiten Klasse gelernt hat, als er sagt: „Zählen wir die beiden Kopfbälle von vorhin mit, dann hat Vieri gerade eben seine vierte Torchance verpasst“. Aha. Das erinnert mich an Fritz Walter, ehemaliger, geistig vollkommener VfB-Stürmer über sich selbst und Jürgen Klinsmann: „Der Jürgen und ich, wir sind schon ein tolles Trio“. Trotz Vieri, Kerner und Fritz Walter: Immer muss man mit einem Tor der Schweden rechnen. Die Skandinavier halten das schnelle Niveau nämlich mit und tauchen mit den großartigen Spielern Ljungberg, Ibrahimovic und Larsson jederzeit vor Buffons Tor auf. Dort sind sie aber zu unkonzentriert oder scheitern an den Innenverteidigern Cannavaro und Nesta. „Eine italienische Abwehr“ möchte man diese Szenen nennen, denn an diesen beiden Abwehrspielern vorbei zu kommen, das schaffen wahrscheinlich nur Zidane und Ronaldo. Im Gegenzug kommen auch die Italiener immer wieder zu Torchancen, vor allem durch Del Piero, weil die Schweden riskant auf Abseits spielen und Reporter Johannes B. Kerner daraufhin fachkundig und besorgt fragt: „Ist es gefährlich, wenn man auf Abseits spielt?“ Ja, ist es, Herr Kerner! In der 38. Minute geht das risikoreiche schwedisch Defensivspiel nämlich schief und drei Italiener stehen plötzlich völlig frei, aber regelkonform vor dem schwedischen Torwart. Einer davon, Cassano, lässt Panuccis Flanke über seinen Scheitel ins linke untere Toreck gleiten. 1:0 für Italien – und Loddamaddäus, der heute ZDF-Experte sein darf, ist zur Pause ein glücklicher Experte, hat der Italienfan doch sechs Jahre seiner Karriere unter Drreeenerrdrrabbadoni drrenierren dürfen. Keine Niveauverschlechterung in der zweiten Halbzeit. Italien und Schweden liefern sich weiter einen großen, technisch feinen Kampf. Und wenn Del Pieros Lupfer von der Strafraumgrenze ins Tor gegangen wäre, dann würde man in 30 Jahren noch von diesem Spiel im Raumschiff Porto sprechen. Dummerweise für die Schweden liegen sie weiterhin 0:1 zurück und das Trainergespann der Skandinavier setzt jetzt alles mutig auf eine Karte: Sie wechseln mit Kim Kallström, Kalle Blomqvist und Lasse Samenström drei neue Stürmer ein. Was Reporter Kerner zur abermaligen Demonstration seiner Rechenkünste anspornt: „Die Schweden haben jetzt dreieinhalb bis vier Stürmer auf dem Platz.“ Herrje, was für ein witziger Sprachfuchs dieser Kerner doch ist! Die Einwechslungen verfehlen ihre Wirkung aufs Spiel nicht: Die dreieinhalb bis vier schwedischen Stürmer erspielen sich Torchance um Torchance und „eine italienische Abwehr“ kommt inzwischen ganz schön ins Trudeln. Vor allem Larssons Schuss aus spitzem Winkel hat’s in sich, den Reporter Kerner spontan jubilierend so kommentiert: „Oh Mann, war der spitz, der Winkel!“ „Wie Nachbars Lumpi“, möchte man angespitzt hinzufügen. Dann die 85.Minute: Schwedenstürmer Zlatan Ibrahimovic, den in Schweden alle nur „Zlatan“ nennen, wie uns Herr Kerner kenntnisreich aufklärt, lenkt einen Ball in der Luft mit der Hacke an Buffon vorbei. Der Ball senkt sich über den auf der Torlinie hochspringenden, 1,90 Meter großen Christian Vieri hinweg in den Torwinkel. 1:1, was für ein Tor! Und ich wähne mich schon im Traum des vorigen Spiels. Im Stadion rasten derweil Zehntausende gelb gekleideter Menschen völlig losgelöst aus und die Kameraleute haben Schwierigkeiten, ihre Lieblingsmotive bei Schwedenspielen einzufangen: blonde, angemalte, lachende und in jeder Hinsicht hüpfende Schwedinnen. Fünf Minuten später ist das Spiel aus. 1:1 trennen sich Italien und Schweden in einem hochklassigen Match, nur Italienfan Loddamaddäus ist etwas geknickt. Er trauert noch den vielen Kopfballchancen von Christian Vieri nach: „In seiner Dobbzeid hädde der Vieri die Dinger rreingemachd“. Es kommt noch schlimmer für Lodda: Wolf-Dieter Poschmann hat mit seiner Leuchtstiftbatterie mindestens 48 Szenen auf seiner Zettelwirtschaft markiert, die der Lodda jetzt alle analysieren muss. Das spare ich mir total auf und gehe mit der Hoffnung nach Hause, dass die Italiener im letzten Spiel die Bulgaren schlagen und ins Viertelfinale einziehen. Auf wen ich wohl im Meistertipp gesetzt haben mag? Bis Morgännnn!!! link me Freitag, 18. Juni 2004
ingittar - 18. Juni 2004 um 13:38:34 MESZ Jagutttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 6 (Donnerstag, 17.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Heute habe ich einen schweren Konflikt mit mir auszutragen. Obwohl ich das ja nicht laut sagen darf, denn eigentlich müsste die Sache klar und bar jeder Diskussion sein: Heute ist nämlich Donnerstag und Donnerstag ist Herrenabend. Da treffen sich Woche für Woche vier beste Freunde bei einem der Freunde und machen Sachen wie Grillen, Bäume fällen, Holz hacken, Tischbillard spielen und keinen Alkohol trinken (bis auf Rick, der hat immer ein oder zwei „Tannenzäpfle“ dabei). Und für den Herrenabend gibt es keine Ausreden. Und Fußball ist schon gar keine Ausrede. Was also tun, lieber Herr EM-Tagebuchschreiber, der sich, wie verabredet, um Punkt 18 Uhr – exakte Anpfiffzeit des Spiels England gegen die Schweiz – in Rohlaffs Garten im Schrebergartendickicht von Stuttgart-Hofen einfindet? Dort also, wo gar kein Fernseher sein kann und wo niemand auch nur ansatzweise auf die Idee kommen würde, den Herrenabend der intensiven Gartenarbeit wegen eines Fußballspiels England gegen die Schweiz für einen Abend vor dem Fernseher einzutauschen? Noch dazu bei derart sommerlichen Temperaturen? Aber es gibt ja geistige Fantasie in unseren Hirnen und technische Alternativen in unseren Vorratsschränken. Zum Beispiel das gute, alte Kofferradio. Wer erinnert sich nicht an die Zeiten vor 20, 30 Jahren, als man der Samstag-Nachmittag-Fußballreportage mit dem Weltempfänger lauschte, ohne dabei aufs Reparieren des Kadett B vor der Garage oder aufs Schneiden der Weinreben irgendwo in einem abgelegenen Weinberg zwischen Ochsenbach und Gündelbach oder aufs Grassensen im Stückle weit ab hinterm Hohenasperg verzichten zu müssen? Genau! Und der Rohlaff wäre nicht ein vorbildlicher Schrebergärtner, hätte er nicht einen ordentlichen Weltempfänger in seinem Geräteschuppen in seinem Garten in Stuttgart-Hofen liegen. Nur leider ohne Batterien. Also schnell hinunter zur Tanke in Mühlhausen radeln und vier Batterien kaufen. Wieder hoch schnaufen, Batterien einsetzen (erst mal natürlich falsch herum – aber das muss man dem aufgeregten und höchst nervösen Fußballhörer schon konzedieren dürfen, vor allem, wenn das Spiel schon läuft), Antenne ausfahren, Radio einschalten – und dann alle Wellen durchsuchen. „Chhhr, Chrrr, siosiosiossssss, slupp, ssssst“ – das sind in etwa die Geräusche, die toujours durch zu hören sind, wenn man den Sendersuchlauf eines Weltempfängers in einem Schrebergarten in Stuttgart-Hofen betätigt. Nun sind wir bei unseren Bemühungen wohl bei so manchem Piratensender oder offiziellem Staatsfunk unterhalb des Äquators gelandet, haben wahrscheinlich die Hörausgabe des arabischen Bombenlegersenders El Dschasira gehört und den irakischen Oppositionssender gleich hinterher. Sind auch bei Radio Toulouse vorbei gerauscht und haben ein Baseballspiel auf WHYC aus New Jersey gehört. Haben Lokalnachrichten aus Montevideo, Politagitation aus Serbien-Montenegro und Urlaubshits von der Deutschen Welle für Polynesien gelauscht. Doch auf den Schweizer oder den Britischen Sender etwa, der uns eine Live-Reportage des EM-Spiels England gegen die Schweiz beschert hätte, sind wir zumindest auf Lang- und Mittelwelle nicht explizit hörbar gestoßen. Und die Ultrakurzwelle ist zumindest in unserem Einzugsbereich für aktuelle Berichterstattung lebensnotwendiger Sportereignisse inzwischen ultra-ignorant geworden. Kein Fußball weit und breit zwischen SWR1 und Antenne 2. Dafür überall die selben Hits und die selben Möchtegern-Lustig-Sprecher. Kaum zu unterscheiden, ob sie ihre Sparwitze fürs Privatradio oder das Öffentlich-Rechtliche ablassen. Enttäuscht legen wir den Weltempfänger zurück in den Geräteschuppen und schreiten zur Gartenarbeit. Wir fällen einen Baum in Nachbars Garten, sägen seine Teile klein, entfernen die Holzreste, legen die Rindersteaks und die Schweinebäuche auf den Grill, erzählen uns die Stechmückenerlebnisse unserer Campingurlaube, mutmaßen darüber, was ehemalige Kumpels heute so machen, radeln zum Billard-Ausklang den Neckar entlang nach Remseck in meine Wohnung und vergessen bei diesem abwechselnden Programm völlig, dass heute Fußball-EM ist und ein Tagebuchschreiber eigentlich seiner Pflicht nachkommen sollte. Der höchste originelle Herrenabend wird mit einem hoch spannenden Billard-Turnier beendet, aber trotz dieser Spannung kann ich’s dann doch nicht lassen. Denn auch wenn’s nur England, die Schweiz, Kroatien und Frankreich sind, die heute gespielt haben: Ich muss einfach wissen, wie sie gespielt haben, gehe während einer Spielpause heimlich ins Internet und erfahre auf T-Online.de, dass die Briten die Schweizer mit 3:0 „überrannt“ und die Kroaten „Frankreichs Überheblichkeit bestraft haben“ - 2:2, weil die Franzosen scheinbar keinen rechten Bock hatten und nur am Anfang und gegen Ende des Spiels etwas aufdrehten. Mein Gott, wie wird das mal sein, wenn die Franzosen 90 Minuten lang aufdrehen? Hoffnung dagegen für die Kroaten, die das 2:2 leider ohne VfB-Verteidiger Zivkovic erreicht haben. Mit einem Sieg gegen England nächsten Dienstag wären sie eine Runde weiter. Schlechte Nachrichten werden auch über den anderen VfB-Spieler des Abends kolportiert: Hakan Yakin, der türkische Schweizer. Ihm und seiner Mannschaft wurde von einem 18jähriges Pickelgesicht namens Rooney (der Mann, von dem der Laber-Franz übrigens sagt, er erinnere ihn „an den jungen Schappa-Pa-Paaaaa“), die Grenzen des Schweizer Fußballs aufgezeigt – und ihnen sogleich demonstriert, dass man einfach nicht gewinnen kann, wenn man in jedem Spiel eine Rote Karte bekommt und das Match ergo mit einem Mann weniger beenden muss. So, wie es der Schweiz in diesem Turnier jetzt schon das zweite Mal hintereinander passiert ist. Und was lernen wir aus dem heutigen Tag? Erstens: Nix gegen ein Fußballspiel England gegen die Schweiz – aber Bäume fällen in Nachbars Garten ist auch eine coole Freizeitbeschäftigung. Zweitens: Wayne Rooney erinnert Franz Beckenbauer „an den jungen Schappa-Pa-Paaaa“ (sagt mir Bescheid, wenn ich mich wiederhole). Drittens: Im Gegensatz zu den Herren des Herrenabends reißen - bis auf Philipp Lahm - VfB-Spieler bei dieser EM keine Bäume aus. Viertens: Zu legendären Medienzeiten muss Fußball mal ein Live-Ereignis fürs Radio gewesen sein. Das heißt für mich: Wenn die Leser dieses Tagebuchs mal wieder über die Verbalgrätschen von Beckmann, Kerner, Beckenbauer, Netzer & Co. informiert werden wollen, muss ich ab heute wieder ins Fernsehen glotzen. Ich hoffe nur, dass am nächsten Donnerstag spielfrei ist... Bis Morgännn!!! link me ingittar - 18. Juni 2004 um 13:36:42 MESZ Jagutttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 5 (Mittwoch, 16.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Heute ist wie Urlaub am Meer. Die Sonne knallt, der Himmel ist blau und bei der EM kicken lauter Mittelmeerländer. Erst Griechenland gegen Spanien, dann die Portugiesen gegen Russland, was ja irgendwie auch beinahe am Mittelmeer liegt. Schon am Vormittag sehe ich in meiner romantischen Imagination die mit fanatischen, aber friedlichen Fußballfans gefüllten Tavernen in der Abendsonne, die gluckernden Weinkrüge auf den Tischen und den Duft herrlich gegrillter Köstlichkeiten aus der Rinderhüfte und aus dem Meer in der Luft liegen. Ich kann’s kaum erwarten und mache mich schon um halb sechs mit der Stadtbahn auf nach Stuttgart. Fürs Spiel Griechenland gegen Spanien hab‘ ich mir das Bohnenviertel ausgesucht. Das schwäbische St.Pauli, wo die Rotlichthäuser hinter der großen Leonhardskirche und den noch größeren Parkhäusern vor den Augen des Herrn versteckt werden, wo selbst in so einem Milieu die Kopfsteinpflastergässchen noch piccobello gefegt sind und wo in den Kneipen Luden neben Huren neben Drogisten neben Barflys neben Hausfrauen neben Künstlern neben Antiquitätenhändlern neben Touristen neben Polizisten sitzen. Nur halt ein bisschen kleiner das Ganze als im hohen Norden oder in anderen Hauptstädten des Sündenbabels. Auf dem Weg zur „Taverne Odyssia“ sehe ich, wie in einer Straßenkneipe ein Lude seinem Mädchen einen Geburtstagssekt ausgibt und zwei Kolleginnen ihr eine Torte mit grellen Plastikkerzen überreichen. Diese Szene unterbricht aber nur kurz das Vorfreudekino in meinem Kopf, in dem sich die Vorstellung verfestigt hat, pünktlich um 18 Uhr in eine randvolle griechische Kneipe zu gelangen, geschmückt mit blau-weißen Flaggen, gefüllt mit siegestrunkenen, Sirtaki tanzenden Griechen aus dem ganzen Viertel, die nach dem Eröffnungstriumph gegen Portugal wahrscheinlich schon die Party fürs Endspiel organisiert haben. Ich trete ein in die Taverne und... ...sehe zehn ältere deutsche Herren stumm um einen mächtigen Eichentresen herum sitzen und trinken und ich will mir nicht vorstellen müssen, seit wann sie da schon stumm vor sich hinsitzen und trinken. Ansonsten sitzt in der Kneipe ein älteres Paar und isst stumm Souvlaki, draußen vor der Türe ein weiteres älteres Paar, das einen Teller Gyros stumm vor sich hin speist. Auf dem Weg zur Küche steht ein kleiner Fernseher auf einem großen Tisch und man bräuchte einen Feldstecher, um das Spiel zu sehen. Später kommen noch zwei junge Typen mit einer jungen Griechin im Schlepptau hinein, die viel rauchen und Bier trinken und von ihren bisherigen EM-Kneipenerlebnissen erzählen. Da fällt auch schon das 1:0 für Spanien und die ältere griechische Köchin, die bestimmt Maria heißt, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen als sei die Akropolis gerade eben eingestürzt. Der Wirt und sein kellnernder Sohn machen abfällige Handbewegungen in Richtung Otto Rehhagel und die zehn Herren am Tresen sagen immer noch nichts, sondern trinken nur. Zur Halbzeit hab ich mein Viertel griechischen Weins ausgetrunken, der stilecht im schwäbischen Henkelglas ausgeschenkt wurde und der hundertprozentig verdünnt war. So wässerig kann kein griechischer Wein sein. Ich bezahle drei Euro und wechsle die Kneipe. Am anderen Ende des Bohnenviertels ist das „Sancho Panza“, eine von vier lustigen mediterranen Kneipen am Wilhelmsplatz. Schließlich wird sich doch wohl auch in Stuttgart das unumstößliche, weltweit geltende Gesetz bewahrheiten, wonach wirklich in jeder spanischen Kneipe ein permanent eingeschalteter Fernseher steht. Auf dem Weg zur Gesetzesverifizierung muss ich durch Stuttgarts kleine sündige Meile schreiten. Acht Minuten und drei unmoralische Angebote später betrete ich eine fast leere spanische Kneipe namens „Sancho Panza“, in der nur noch eine ältere Frau mit langen weißen Haaren und verschränkten Armen vor einem Fläschchen Wasser sitzt. Sie sieht aus, als hätte sie ihren dienenden Job zwei Häuser weiter schon vor längerer Zeit aufgegeben. Schon wieder nix mit der Vorstellung von einer prall gefüllten Kneipe voller gelb-rot gekleideter, „Espana“ und „Olé“ brüllender Fußballfans. Das „Sancho Panza“ wird stattdessen von zwei völlig entspannten und innerlich ruhenden Spanierinnen betrieben, die bestimmt beide Maria heißen und die den Spielernamen „Raul“ nicht annähernd so spanisch aussprechen wie der ungarisch stämmige ZDF-Reporter Bela Rethy. Dafür dienen sie mir in breitestem Schwäbisch ein Krügchen Rioja an und erlauben mir, am Bedienungstisch zu sitzen, weil dort der Blick in die Glotze am besten ist und weil die Kundschaft eh auf der Straße in der Sonne und nicht in der dunklen Kneipe vor dem Fernseher sitzt. Und wie’s der Zufall so will: Kaum ist das erste Glas Rioja leer getrunken, schießen die Griechen den Ausgleich. Einen Pass von Kapsis verwandelt Charisteas, der Bremer, mit links. Und während in der griechischen Taverne die Griechen den Führungstreffer der Spanier beklagen mussten, müssen jetzt in der spanischen Kneipe die beiden Spanierinnen über ein Tor der Griechen hinweg kommen. Das war locationmäßig ja mal wieder gut ausgewählt, Herr Tagebuchschreiber! Die Spanier schaffen den Siegtreffer nicht mehr, was den beiden schwäbischen Spanierinnen des „Sancho Panza“ herzlich egal ist, denn sie haben genug damit zu tun, Knoblauchhühnchen und andere wohl duftende Leckereien zu servieren, über die ich nur deshalb nicht herfalle, weil ich ja jetzt zu meinem Portugiesen ins „Lisboa“ in die Hohenheimerstraße rüber muss. Genau dieselbe Kneipe vom Samstag natürlich. Wir müssen doch mal die Portweingläser auf einen portugiesischen Sieg anstoßen! Und dabei macht es, nebenbei gesehen, wirklich niemandem etwas aus, dass ein Wirt aus einer Region nördlich von Porto seine Kneipe in Stuttgart „Lisboa“ getauft hat. Hauptsache, der Fernseher läuft. Ich komme pünktlich zum Vorbericht über die Stimmung in Portugal vor dem wohl alles entscheidenden Spiel gegen Russland. Der Wirt und sein Kumpel (diesmal ein anderer) sitzen in ihren rot-grünen Trikots bereits völlig angespannt an der Bar vor der Glotze. Außerdem anwesend: ein deutscher VfB-Fan, die Wirtin, noch eine Portugiesin und zwei kleine Kinder. Die drei Männer trinken nicht Wein, sondern Bier („Rothaus Tannenzäpfle“) und ich bestelle mir wieder diesen schweren Roten im Drittelesglas (der Wein ist so schwer, dass ich jetzt ganz sicher weiß, woher dieser portugiesische Schwermut eigentlich kommt). Und kaum habe ich das erste Mal an dem blutrorten Tröpfchen genippt, werde ich schon wieder mit Portugalklischees aus dem Fernseher drangsaliert. Der Autor des Vorberichts nennt das, was Reporter Beckmann am Samstag noch Melancholie und Pessimismus genannt hatte und das die portugiesische Seele definieren sollte, jetzt „Trauer und Trübsinn“. Schwermut schwappt also schon wieder tonnenweise aus der Glotze und zwar so heftig, dass man meinen könnte, man lauscht dem Augenzeugenbericht eines Überlebenden des größten Erdbebens, das Portugal je heimgesucht hat. Dabei hat Portugals Trainer Scolari im Vorfeld doch lediglich gesagt, dass es für seine Mannschaft heute im Spiel gegen Russland um „Leben oder Tod“ geht. Die beiden Portugiesen in der Kneipe lachen sich schräg über diesen Ausspruch und über die ganze Dramatik, die über ein doofes Fußballspiel mit portugiesischer Beteiligung im deutschen Fernsehen gelegt wird. Und als dann schließlich Reporter Steffen Simon das Wort eine Minute vor Spielbeginn ergreift, könnte man meinen, die 65.000 Zuschauer im Lissaboner „Stadion des Lichts“ werden Zeuge einer Staatsgründung nach jahrzehntelangem Kampf gegen Unterdrückung, Terror und Schreckensherrschaft. Sieben Minuten später Riesenjubel in Lissabon und im „Lisboa“. Maniche schießt das 1:0 für Gastgeber Portugal und es bildet sich Gänsehaut, denn diese Seelen tangierende Dramaturgie hätte kein Regisseur besser vorweg nehmen können. Doch bald herrscht wieder Schwermut allerorten, denn statt, dass die Portugiesen die Russen nach allen Regeln der Fußballkunst auseinander nehmen, verfallen die Spieler um Figo, Deco & Co. in ängstliche Lethargie. Jede Minute könnte der Ausgleich fallen. Doch dann die 45 Minute: Ein Moment, in dem man die portugiesische Seele mal so richtig kennenlernt. Der russische Torwart wird vom Platz gestellt, weil er außerhalb des Strafraums die Hand zu Hilfe genommen und somit ein todischeres Tor der Portugiesen vereitelt haben soll. Darauf steht im Regelbuch „Rot“, allerdings nur dann, wenn auch Absicht vorliegt. In der Zeitlupe sieht man aber, dass der Torwart den Ball nur ganz leicht und unglücklich berührt und sogar versucht, den Arm vom Ball weg zu halten – leider vergeblich. Die Rote Karte ist also eine Fehlentscheidung. Doch statt zu jubeln, wie jeder andere Fan in so einer Situation, hat der Portugiese an sich kein Verständnis für diese Schiedsrichterentscheidung. Denn jeder Portugiese hat genau gesehen, dass es keine Absicht war, was der russische Torwart da getan hat. Im Stadion ist es denn auch mucksmäuschenstill und im „Lisboa“ bedauern sie sogar, dass der russische Torwart die Rote Karte bekommen hat. „Das ist schade und nicht fair“, sagt der Wirt und sein Kumpel nickt heftig assistierend mit dem Kopf. Nein, auf diese Weise will er nicht gewinnen, der Portugiese an sich. Er gewinnt aber trotzdem gegen zehn Russen, nämlich 2:0, weil der eingewechselte Superstar Rui Costa von AC Mailand kurz vor dem Ende eine feine Vorlage des 19jährigen Ronaldo im Tor versenkt. Trainer Scolari hat das Spiel um „Leben und Tod“ gewonnen, und die Portugiesen nehmen den Sieg trotz des Spiels in Überzahl rundheraus an und sind erleichtert, in Lissabon wie im „Lisboa“. Doch kaum ist das Spiel vorbei, tritt schon wieder Skepsis zu Tage. Jetzt müssen die Portugiesen nämlich Erzfeind Spanien schlagen, um eine Runde weiterzukommen. Und das traut im „Lisboa“ nun wirklich niemand seiner Mannschaft zu. Und was ist die Moral von der Geschicht‘? Bei einem Sieg Portugals wird das Glas portugiesischen Landweins plötzlich um 50 Cent teurer und einen Portwein gibt’s dann auch wohl nur gegen Bezahlung. Ganz schön durchtrieben, der Portugiese an sich. Oder? Bis Morgännn!!! link me ingittar - 18. Juni 2004 um 13:21:35 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 4 (Dienstag, 15.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Die Spannung steigt ins Unermessliche. Wochenlang war nur über dieses eine Spiel geredet und geschrieben worden. Waren die sich gegenüber stehenden Kontrahenten aufeinander gehetzt worden. Schürte die Öffentlichkeit die Rivalität beider Völker, diskutierte alle taktischen Varianten wie Kriegsgeneräle und redete den Gegner heute schlecht und morgen übermächtig - und dasselbe mit dem eigenen Team. Doch heute ist Schluss mit Spekulatius, jetzt gilt’s! Und sowohl die tschechische als auch die lettische Presse kann jetzt nur noch ohnmächtig zugucken: Tschechien gegen Lettland, das Spiel der Spiele. Der Kampf um die Vormacht im Osten Europas. Der große Titelfavorit gegen den EM-Neuling und krassen Außenseiter. Die beiden Beitrittsländer im direkten Vergleich, hier die Topstars Nedved, Poborsky und Baros, dort die No-Names Prohorenkovs, Zellulitis und Verpakovskis. Nur die Höhe des tschechischen Sieges wurde wochenlang diskutiert. Und so begann auch das Spiel: drückende Überlegenheit der technisch unglaublich starken Tschechen. Der kleine Dortmunder Rosicky zaubert und der lange Vereinskollege Koller lenkt im Strafraum die Kugel in Richtung Tor. So soll es sein, von Anfang an. Doch es will partout kein Tor fallen, obwohl die tschechischen Fußball-Ballerinas aus allen Lagen auf das Tor des tapferen Letten-Torwart Kolinko schießen. Und es sieht aus, als ob Kolinko Kalinka tanzt, weil ihm die Geschosse nur so um die Ohren und an die Torlette fliegen. Doch aus dem Netz muss Kolinkokolinko den Ball nicht holen. Im Gegensatz zu seinem Gegenüber, Herrn Czech. In der 45. Minute ist die Überraschung nämlich perfekt: Die kleinen Letten gehen gegen die großen Tschechen in Führung, weil Ha-Ess-Vau-Verteidiger Umfall-Luschi im eigenen Strafraum über den Ball stolpert, ihn der Lette Verpaskovskis dagegen nicht verpasst, sondern souverän einpasst. Einsnull zur Pause für den krassen Außenseiter. In Osteuropa muss jetzt die Hölle los sein. Ich sehe schon den lettischen Boulevard breitlettrig jubeln: „Supiskis! Tschechovskis verknödelt!!“ Und der tschechische deprimiert meckern muss: „Scheiß EU! Wir treten wieder aus!!“ Zweite Halbzeit. Was machen die Tschechen jetzt? „Auf Schnitzer in der lettischen Abwehr warten?“, wie im T-Online-Live-Ticker gemutmaßt wird? Da können sie lange warten, denn Herr Schnitzer ist für die EM nicht nominiert worden. Und zum Holzfiguren basteln haben die Letten im Moment auch keine Zeit. Denn sie müssen kämpfen als ging’s um ihr Leben. Ein tschechischer Angriff nach dem anderen rollt auf den tapferen lettischen Torwart zu. Und der tanzt inzwischen Super-Kalinka. Dann sein „böser Patzer“ (T-Online-Ticker): Tschechenstar Baros schießt die Silberkugel ins lettische Netz, weil Kolinko den Ball vorher nicht festhalten konnte. 1:1. Der Bann ist geborchen. Und kurz vor Schluss auch der lettische Widerstand: Marek Heinz, laut genealogischer Forschung doch kein Nachfahre des amerikanischen Ketchupherstellers (dann müsste er ja auch mit der künftigen First Lady Amerikas verwandt sein), droppt fünf Minuten vor dem Ende den Ball zum 2:1 für den Titelfavoriten in die Maschen. Die Fußballhierarchie bleibt gewahrt, die Tschechen sind noch mal davongekommen und werden nun doch nicht aus der EU austreten. Was für ein dramatisches Spiel. Dass sich die Medien vorher derart überschlagen haben, um die Öffentlichkeit auf dieses Knallerspiel großspurig einzustimmen, war völlig berechtigt! Am Abend dann das zweite Spiel des Tages, der etwas im Schatten des Spiels Tschechien gegen Lettland stehende Vergleich der beiden mittelmäßigen Teams aus Holland und Deutschland. Beide stehen ja in der Weltrangliste weit hinter den Tschechen und haben ihre Vorbereitungsspiele gegen unterklassige und nicht teilnehmende Vereine wie Irland, Ungarn, Rumänien und Gelbien verloren. Es wird wohl ein Spiel Marke Not gegen Elend werden. Und wenn nicht wieder der Co-Franz dem ZDF-Poschi beratend zur Seite sitzen würde und dabei wahrscheinlich lustige Sachen sagen würde, man müsste doch zum Tierfilm auf Vox rüberschalten. Egal, wir gucken trotzdem – und zwar im Kreise unserer liebsten Familie, damit wir nicht wieder dieses doofe Fußballfachgesimpel halbgebildeter Kneipenbesucher ertragen müssen, sondern fundierte Analysen von Mutti: „Die Holländer können ja gar nicht singen!“, echauffiert sie sich schon vor dem Anpfiff, als ein elfköpfiger, orange gekleideter Chor in kurzen weißen Hosen versucht, die niederländische Nationalhymne darzubieten. Und als dann die folgenden Sangesversuche der weiß gekleideten Herrschaften mit viel zu lautem Pfeifteppich aus dem Publikum soundtechnisch ziemlich dilettantisch unterlegt wird, frage ich mich: Ja, iss denn schon wieder „European Song Contest“? Diesmal Open Air? Nein! Denn der Moderator, Herr Kerner, klärt uns in derilierendem Reportertremolo auf: „In Orange elf Superstars – in Weiß elf Männer!“ Herrje, was für eine Dramatik scheint sich da anzubahnen. Das Spiel ist offenbar doch wichtig. Und in der Tat: Die deutschen Straßen sind wie leer gefegt, was Vati so kommentiert: „Wer jetzt auf der Straße ist, muss ein Zeuge Jehovas sein!“ Schade, dass die Wachturmhalter nicht in Porto sind, den Reporter bekehren und ihn zur Ruhe mahnen. Denn der Kerner ist ja völlig am Ausflippen und von fundierten Kommentaren weit entfernt, was den älteren schwäbischen Genießer im Ledersessel zu folgender Aussage hinreißen lässt: „Der Kerner, des isch vielleicht ein guter Wein, aber schonsch nix!“. Davon sollte auch der holländische Trainer schleunigst nippen, damit seine unglaublich großen Schweißflecken unter den Achseln neutralisiert werden. A propos neutralisieren: Das Spiel ist vielleicht spannend, aber gut? Nein, nur das Tor des Holländers Ruud „Van the Man“ Nistelrooy ist wirklich Weltklasse. Am Ende 1:1, „schiedlich, friedlich“, wie Poschi in seiner Analyse irgendwann bestimmt sagen wird – und uns mal wieder nicht erklärt, was man eigentlich unter „schiedlich“ zu verstehen hat. Und weil auch der Co-Franz ausnahmsweise mal nicht stammelt, dafür aber auch nichts Substanzielles mitzuteilen hat, außer, dass es „ein sehr, sehr gutes Spiel war“ (also genau das Gegenteil von dem, was ich gesehen habe), warte ich auf die ZDF-Sendung danach. Sie heißt „Nachgetreten“ und soll lustig sein. Ein paar semi-berühmte und viertel-gute Fernsehwitzbolde kommentieren in dieser Sendung den EM-Tag und ich frage mich erneut, womit die Nation so etwas verdient hat und wer diesen Scheiß außer mir sonst noch anguckt. Da versucht der Möchtegern-Witzbold Ingolf Lück als Moderator seinen fünf Kollegen Witzbälle zuzuspielen, die diese in eine Pointe umzuwandeln versuchen und in den Lachmuskeln der Zuschauer versenken sollen. Das Ganze erinnert an RTL’s „7 Tage, 7 Köpfe“, ist aber nicht halb so grell. Die fünf Pointendrescher sind die dralle RTL-Blondine Ruth Moschner, die nur dadurch auffällt, dass sie gerne ihre Bälle von Oliver Kahn gehalten haben möchte. Der Sat1-Sportmoderator Oliver Welke, dessen Witze so sind, wie er heißt. Ein mir unbekannter, abgezwickter, hyperventilierender Glatzenzwerg, dessen einzige Pointe darin besteht, die Mannschaftsaufstellung der Letten mit Wortspielen im Sparformat zu kommentieren (im Tor Adilette, in der Abwehr Kotelette, im Sturm die beiden Skelette usw. usf) und ein völlig unwitziger, bebrillter Barde, der mitten in der Sendung unmotiviert und ungefragt zur Gitarre greift und Wolfgang Petrys Ballermann-Gröhlsong „Wahnsinn“ in „Kahnsinn“ umwortet. SCHRECKLICH!!!! Der einzige, der noch ein bisschen Niveau gehabt hätte, ist der türkisch-bayerische Kabarettist Django Asül, dem vorher aber bestimmt verordnet worden ist, sich dem Niveau seiner Kollegen anzupassen. Derweilen ZDF-Intendant Schächter (darüber gab’s auch mal ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, oder?) zur selben Zeit wahrscheinlich Schenkel klopfend und prustend in die Hose brunzend in seinem Villensessel vor der Glotze gesessen haben muss und sich angesichts der Millionen, die man RTL und Sat1 in den Hintern geschoben hat, um deren schlechte Comedians für vier Wochen auszuleihen, schon die Verteidigungsrede für die nächste Gebührenerhöhungsdebatte überlegt haben wird. Es wird sich wahrscheinlich so oder ähnlich anhören: „Liebe Gebührenzahler. Während der EM 2004 haben wir als öffentlich-rechtlicher Sender mit dem Auftrag, Gemeinwohl herzustellen, unsere Com-Kom bewiesen – unsere Comedy-Kompetenz! Harhar, gut gell? Die zustimmenden Kommentare, die ich von unseren Verwaltungsratsmitgliedern neulich in der Kantine beim Mittagessen wegen der Sendung „Nachgetreten“ erhalten habe, haben mich ermuntert, den Comedy-Etat des ZDF um 450 Prozent aufzustocken, um damit Franz Beckenbauer, Ingolf Lück, Ruth Moschner, diesen Gartenzwerg da und Oliver Welke für den Rest ihres Lebens inklusive Bestattung zu verpflichten. Die daraus folgende Gebührenerhöhung um 950 Prozent ist deshalb durchaus gerechtfertigt. Auch meine ARD-Kollegen haben bereits zugestimmt und signalisiert, mit den prognostizierten Mehreinnahmen in Milliardenhöhe RTL, RTL 2, Sat1, Vox und Pro 7 komplett aufzukaufen. Im Sinne des öffentlich-rechtlichen Gedankens eine Maßnahme, die unsere Gebührenzahler bestimmt unterstützen werden, denn sie bekommen ja jetzt von ihrem ZDF allerbeste Unterhaltung geboten“. Zum Glück hat Herr Schächter mich nicht eingekauft, denn wenn ich nachtreten sollen müsste, dann hätte er ob des peinlichen EM-Auftritts seines Senders wahrscheinlich sechs Abdrücke von 3er-Alu-Stollen in seinem Vorsorgebereich! Bis Morgännn!!! link me ingittar - 18. Juni 2004 um 13:20:32 MESZ Jagutttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 3 (Montag, 14.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Es ist Montag, 17.15 Uhr. Im Radio sagen sie, in einer dreiviertel Stunde beginne das Spiel Italien gegen Dänemark. Oh Schreck! Ich sitze noch an der Arbeit und weiß noch gar nicht, wo ich das Spiel gleich anschauen soll. Ich entscheide mich für Ludwigsburg. Da gibt es ja genügend Pizzerien und Eisdielen, in denen definitiv die Glotze läuft. Ich wähle eine Pizzeria direkt an der Straße, wo nach einem italienischen Sieg todsicher der Autokorso starten wird. Es kann nur das „O Sole Mio“ sein, seit Jahrhunderten die zuverlässigste Futterstation für Ludwigsburger Nachtschwärmer, Mittagspausenschüler und andere Schnellesser. Um so perplexer macht die Szenerie: im Mini-Fernseher des „O Sole Mio“ läuft n-tv mit Börsenband am Bildschirmrand und ein langhaariger Jungtyp schaufelt sich auf einem Barhocker sitzend eine belegte Teigscheibe zwischen seine Kiemen. Personal weit und breit nicht in Sicht – und das eine Viertelstunde vor Spielbeginn. Was tun? Ich weiß: das Eiscafé am Arsenalplatz. Welch Aussicht: Im Freien bei einem Becher Spaghettieis Fußball und Mädchen gucken. Doch was ist das? Die Bedienungen rennen zwar im Italia-Dress durch die Tischreihen – aber weit und breit hängt kein Fernseher. Hab‘ ich überall nachgesehen? Ja! Frau Totti hinterm Tresen hebt entschuldigend die Arme hoch und die Augen gen Himmel wie Del Piero nach einem Foulspiel. Noch fünf Minuten bis zum Spielbeginn, ich laufe runter zum Holzmarkt. Im „Ochsen“, der nächstältesten Pizzerei Ludwigsburgs muss unter allen hunderttausend Umständen ein Fernseher mit Fußball aufgestellt sein! Doch so weit brauche ich gar nicht zu laufen, denn ich bleibe in der wunderschönen Trattoria „La Signora Moro“ am Marktplatz hängen, das gelbe Haus unter den 300 Jahre alten Arkaden. Streckt man dort den Rücken in Richtung Marktplatz und die Augen auf die Häuserreihe, dann glaubt man wirklich, man habe sich gerade auf einer Piazza in Siena zum Abendessen verabredet. Aus dem Fenster heraus haben sie einen Fernseher auf die Terrasse gestellt. Es muss der älteste noch existierende Fernseher der Welt gewesen sein, zumindest der erste jemals produzierte Farbfernseher. Marke „Grundig“. Schieberegler, abgebrochenes Reglertürchen und das Bild wackelt wie anno 1969, als Armstrong die ersten Bilder vom Mond nach Houston und von dort in die Wohnzimmer dieser Welt beamte – nur jetzt eben in Farbe. Der wuchtige schwere Grundig-Kasten hält sich nur mühsam selbst auf dem 1,20 Meter hohen Bistro-Tischchen, der wiederum so aufrecht auf dem Asphalt steht, dass ich mir sicher bin: Die Restaurantfamilie muss ohne Zweifel aus Pisa stammen. Ich warte auf den Augenblick, da einer der Kellner oder Kellnerinnen an einem der ins Haus führenden, straffen TV-Kabel hängen bleibt. Um es vorweg zu nehmen: Die Konstruktion hielt das ganze Spiel über, es hat sich auch niemand großartige Sorgen darüber gemacht, dass eventuell etwas passieren könnte. Vor dem Fernseher sitzen der Wirt, seine Familie, Mitarbeiter, Bekannte und Geschäftspartner très legère beisammen und wissen schon nach fünf, sechs Minuten abfällig gestikulierend, dass es heute nichts wird mit einem Sieg Italiens. Sie trauen ihrer Mannschaft soviel zu die Deutschen der ihren. Der italienische Wirt schwätzt dabei so Schwäbisch wie Volksschauspieler Walter Schultheiß auf der Provinztheaterbühne Plieningen, seine kellnernden Kinder dementsprechend auch. Warum ich lauter Nebensächlichkeiten erzähle? Nun, der Trainer Trapper Toni hat seiner, aus lauter Topfußballern und Weltstars zusammen gesetzten Mannschaft (Vieri, Totti, Nesta, Del Piero, Buffon etc.) wohl vor dem Spiel gesagt, dass man ins Finale kommt, je öfter man 0:0 spielt und sich den Ball 90 Minuten lang gegenseitig in die Ballettschühchen schiebt. Das hat auch Günter Netzer so gesehen. In der Halbzeitpause stellt sich der ARD-Co-Kommentator nämlich die Frage, „wie die Italiener eigentlich durch das Turnier kommen wollen, wenn sie so weiterspielen“ – und bedauerte öffentlich, dass die Dänen nicht schon längst ein Tor geschossen haben. Reporter Steffen Simon ortete die Gründe für Italiens miserable Leistung unterdessen in den Tic-Tac-Toe-Zöpfchen von Mittelfeldregisseur Francesco Totti: „Mit so einer Mädchenfrisur kann man ja nicht gewinnen! David Beckham wäre damit wenigstens auf den Titelseiten des Boulevards. Der soll mal spielen ein Kerl!“ Die italienischen Modepüppchen schleppen gegen die krebsroten Dänen schließlich ihr 0:0 nach Hause und die einzig positiven Dinge, die mir an dem Spiel in Guimaraes auffielen, waren die VfB-Fahne hinter der Eckfahne in der linken Spielhälfte und die schnuckelige Signorina, die mir das Weißweinschorle an den Platz brachte. Spiel 2, Gruppe C: Schweden – Bulgarien. Who, the hell, will sich wegen so einer Partie an einem schönen Frühlingsabend vor die Glotze setzen? Ich jedenfalls nicht. Ich arbeite lieber am PC und schaue ab und zu in den T-Online-Live-Ticker. Und ich hätt’s mir denken können: Da guckt man mal ein Spiel nicht an – und schon fallen Tore wie reife Früchte. Dreinull führen die Schweden bereits, als ich zum ersten Mal nach einer Stunde Spielzeit in den Ticker schaue. Dort bekommt man zum Beispiel solche schönen Sätze zu lesen: „Die Bulgaren wollen unbedingt den Ausgleich. Gefährlich, denn dadurch sind sie hinten völlig offen“. Bejubelt wird der schwedische Altstar Henrik Larsson von Celtic Glasgow, der innnerhalb von zwei Minuten zwei Tore schiesst. Dabei müssen die Gulbaren in der ersten halben Stunde scheinbar das eindeutig bessere Team gewesen sein, versäumten es aber, ein Tor zu schießen. So isses halt phrasenschweinmäßig im Fußball. Doch dann: Ibrahimovic foult Kiriliov und bekommt Gelb! Warum foulen sich die Bulgaren jetzt schon gegenseitig? Und warum gibt’s dafür auch noch die Gelbe Karte? Ach so! Ibrahimovic ist Schwede. Jetzt wird mir einiges klar. Tja, im hohen Norden ist kulturmäßig auch nicht mehr alles so wie’s früher mal war. Nicht mehr alles nur Allbäcks, Lagerbäcks, Söderbäcks und Brodb...., Scheiße, jetzt ist mir das „ä“ ausgegangen. Scheiße auch, dass mir auch dieser Ergebnistip missraten wird, wenn die Bulgaren in den letzten 20 Minuten nicht mindestens noch vier Tore schießen. Hab‘ ich doch tatsächlich geglaubt, dass die Bulgaren unter Umständen das Überraschungst... Naja, seit Krassimir Balakov aufgehört hat, läuft bei den Bulgaren wirklich nicht mehr viel zusammen. Stattdessen die 77. Minute: Jetzt müssen die Bulgaren noch fünf Tore schießen, um zu gewinnen. Denn Ibrahimovic hat das 4:0 für die Schweden mit einem Elfmeter erzielt. Einige Experten dürften jetzt schon ihre Geheimtipps heimlich korrigieren. In der 90. Minute ist es dann soweit. Mein Lieblingsname Allbäck drückt die Kirsche zum 5:0 für die Gelb-Blauen über die Linie. Bulgarien ist erledigt, und die Schweden dürften jetzt auf Wolke 7 durchs restliche Turnier schweben. Alter Schwede!! Schade, dass ich das Spiel nicht sehen konnte, sondern lesen musste. Dafür habe ich völlig neue Spielernamen kennengelernt: Ibrahimovic, Ljungberg, Ivanov, Linderoth, Edman, Dimitrov, Zdravkov, Padzin, Wilhelmsson, Lazarov... Bis Morgännn!!! link me ingittar - 18. Juni 2004 um 13:18:35 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 2 (Sonntag, 13.6.) „Liebes EM-Tagebuch: Es ist Sonntag, 18 Uhr, und es regnet. Egal. Ich will wissen, ob man im Ludwigsburger „Brückenhaus“ EM-Fußball gucken kann. Das „Brückenhaus“, es liegt direkt am Neckar, ist, seit ich denken kann, eine Konstante für den immer noch real existierenden schwäbischen WG-Bewohner aus dem selbst renovierten Landhaus. Ich radle also den Neckar entlang von Remseck nach Hoheneck und komme ziemlich durchnässt an. Noch tropfend und außer Atem lasse ich mich zum „Brückenhaus-EM-Tipp“ hinreißen – Einsatz drei Euro. Die Endspielpaarung und das Ergebnis müssen stimmen, dann gibt’s als Gewinn den kompletten Einsatz aller Tipper plus ‚ne Flasche Sekt. Ich glaube den Leuten dort einfach mal, dass sie sich später noch an mich und ihre Worte erinnern und tippe Deutschland – Frankreich 0:2. Als Name hinter meinem Tipp steht „Wurschtsalat“, denn als ich sagen sollte, wie mein Tipp lautet, antwortete ich: „Habt Ihr auch Wurschtsalat?“ Ich bezahle also die drei Euro Tippeinsatz, bestelle den Wurschtsalat sowie ein Radler und setze mich unter das überdachte Fußballkino in Holzgestellform, das die Leute vom „Brückenhaus“ in wahrscheinlich vierstündiger Dauerhämmerarbeit in den Biergarten gestellt haben. Setzen muss man sich in ausrangierte Kinostuhlreihen aus Plastik. Der Sat-Receiver ist in die Wand genagelt worden. Kein Wunder, dass der Chef die Gäste einzeln begrüßen muss – es spielt die Schweiz gegen Kroatien. Und anlässlich des Grottenkicks fragt man sich, warum diese beiden Mannschaften überhaupt an einer EM teilnehmen dürfen. Die Kroaten foulen, schinden Freistöße, protestieren und sind aggressiv, bringen aber auch gegen zehn Schweizer nix zustande. Den Kommentator Kerner schert das nicht, er ärgert sich lediglich darüber, dass sich die Kraoten weiterhin weigern, ihre Nachnamen mit Vokalen auszufüllen – und zeigt deshalb während des Spiels Mitgefühl mit der „kroatischen Vokalarmut“. Die Schweizer kämpfen unterdessen wie seit Wilhelm Tell nicht mehr gesehen um ihr Leben und verteidigen das 0:0 wie ein renitentes gallisches Dorf ihre demokratische Unabhängigkeit. Unvergessen die Rettungstat von Torwart Stiel, der einem Ball unterschätzt, ihm hinterher rennen muss und ihn kurz vor der Linie und liegend mit dem Kopf stoppt. Es bleibt beim 0:0, was die Presse später zu dieser Überschrift verleitet: „Chappi und Co. klauen Punkt“. Wenn das die Schweizer lesen. Die fühlen sich wahrscheinlich als Rechtsbrecher und Hundefutterdiebe verunglimpft und werden prompt das nächste Anti-UN-EU-Referendum starten. 20.45 Uhr, das zweite Spiel des Abends beginnt. Frankreich gegen England. Endlich richtiger Fußball, endlich Emotion, endlich EM. Das weiß auch der Wirt und verteilt seinen Gästen selbst abgefülltes Popcorn. Inzwischen sind auch mehr Besucher gekommen. Die meisten sympathisieren mit den Franzosen, die auch wirklich ein feines Bällchen spielen – Pires angelt an der Auslinie einen 50-Meter-Pass von Zidane in Bedrängnis mit dem Fuß wie der Frosch sein Mittagessen. Gegen eine Mannschaft, die in der Abwehr nicht so gnadenlos wie die Engländer spielten, würden die Franzosen nach 20 Minuten bestimmt schon 2:0 führen. Doch es kommt ganz anders. Beckham zirkelt nach 38 Minuten einen Freistoß in den Strafraum, Lampard wuchtet die Silberkugel ins französische Tor – und alle Zuschauer im „Brückenhaus“ wundern sich nur über das neue Nackentattoo von Beckham. Es sieht aus wie ein Reichsadler und wir fragen uns, ob Beckham auch weiß, was ihm da in den Nacken tätowiert wurde. Und warum er sich über die Hakenkreuzträger wundert, die ihn seitdem ständig grüßen. Zweite Halbzeit. Die hoch gelobten Franzosen haben keinen Plan, wie sie den Engländern den Ausgleich einschenken sollen. Bis Beckham seine Verunsicherung über das Nichtwissen seines neuen Tattoos mit einem verschossenen Elfmeter dokumentiert. Und als der französische Torwart Barthez eine Minute später auch noch den Schuss eines Engländers mit der Nase abwehrt, schallt den Franzosen pure englische Häme entgegen. Doch irgendwie hat man das Gefühl, dass sich die martialische Überheblichkeit der englischen Fans in diesem Spiel noch umkehren wird. Und wie bestellt, kommt in der 90. Minute Zinedine Zidane, Fußballgott. „Zizou“ genügt nämlich die Nachspielzeit, um England zu erledigen. Ein Freistoß, ein Elfer und dann haben auch die Briten ihr Barcelona (remember Manchester United gegen Bayern München, das Champions-League-Finale 1999?). Und plötzlich steht es 2:1 für Frankreich. Die Zuschauer sind geschockt, fassungslos. Aber noch fassungsloser über das, was er gesehen hat, ist der Co-Kommentator des ZDF: „Jagüttääääh, das Spiel waaarrrr an Dramatik nicht zu überbieten“, versucht Franz Beckenbauer ein sachliches Urteil zu fällen, das er auch in dieser Wortgenauigkeit in den darauf folgenden fünf Minuten mindestens drei Mal wiederholt, bis ihm der bahnbrechendste Satz des Abend, ja der Fußballkommentatorengeschichte glückt: „Jagüttääähh, der Fußball, der kann sich zu dieser Leistung nur selbst gratulieren, hähähä. Das Spiel waaaarrrr an Dramatik nicht zu überbieten“. Noch weniger zu überbieten auch Franzens folgender Spruch über den 18jährigen englischen Jungstar Wayne Rooney: „Ja, der Rrrrooooney, der erinnert mich schon ein bisserl an den jungen Schappa-Pa-Paaaaaa“. Und als Wolf-Dieter „Poschi“ Poschmann seinen Co-Franz zu allem Überfluss bat, den genialen Freistoß des Fußballgottes zu analysieren, da war’s um den Größten aller Großen in allen Mediendisziplinen geschehen: „Jagütttääää, bei Standardpräs äääh Standpräz, aääh, jagüttääääh, da ist der Zidaaaane natürlich einer der besten in der Welt, hähä“. Die Plastiksessel im „Brückenhaus“ drohten jetzt unter den pöbelnden und schreiend lachenden Halbautonomen zu bersten und mir wird eines klar an diesem Abend: Das ZDF bestreitet das Honorar des Co-Kommentators Franz Beckenbauer offenbar aus seinem Comedy-Etat. Kopfschüttelnd radle ich nach Hause und erkundige ich mich im Internet über die letzten Schlagzeilen des Fußballtages: „Rudi gibt Rätsel auf“ und: „Weiß Holland über Völlers Taktik Bescheid?“ Und ich weiß, dass das einzig wahre Fußballspiel erst am Dienstag steigt. Es wird übertragen vom ZDF, deshalb kann es wieder nur ein Spiel werden, das an Dramatik wahrscheinlich nicht zu überbieten sein wird. Bis Morgännn!!! link me ingittar - 18. Juni 2004 um 13:17:11 MESZ Jaguttäääh – Mein EM-Tagebuch von stumpy-joe Tag 1 (Sa, 12. Juni) „Liebes Tagebuch. Geil! Das Eröffnungsspiel der EM habe ich in einer portugiesischen Kneipe in Stuttgart gesehen - Portugal gegen Griechenland. Als ich pünktlich zu Spielbeginn im „Lisboa“ eintraf, war außer dem Wirt und seinem Kumpel niemand drin. Aber wenn man einen üblichen roten Landwein bestellt, wie ihn jeder Portugiese trinkt, und wenn man dann noch sagt, dass man den Portugiesen die Daumen drückt, dann wird aus dem Viertele sofort ein Drittele. Die fachmännische Diskussion aber, warum Rui Costa statt Deco und nicht der junge Christiano Ronaldo von Manchester United von Anfang an spielt, dauert genau sechs Minuten. Da haben die Griechen nämlich das 1:0 geschossen. Besser gesagt, Karagounis, der Römer. Ihn nennen die Griechen „den Römer, weil er bei Lazio Rom spielt. Deshalb ist ihr Trainer, Otto Rehhagel, auch nicht der Otto, der Deutsche, denn er trainiert ja Griechenland. Nach dieser Logik wäre allenfalls bei uns Deutschen „Otto, der Grieche“. Aber wen interessiert das überhaupt? Inzwischen sind fünf Pickelgesichter eingetroffen und trinken Cola. Kurz darauf betritt ein sonnenbankgebräunter Stuttgarter in die Kneipe getänzelt, der so spricht und so tut als wäre er lieber mit Vertretern des eigenen Geschlechts zusammen. Er wackelt vor dem Fernseher doof herum, schnappt sich einen Stuhl und flötet nasal und in einem für diese Gruppe klischeehaftem Gestus, dass Portugal eh keine Chance habe. Dann setzt er sich ins Restaurant, wo auch ein Fernseher läuft, wartet auf seine Männergruppe und nervt die ganze Zeit mit lauten anti-portugiesischen Kommentaren. Besser gesagt: lauten pessimistischen Kommentaren, denn der Portugies‘ an sich ist melancholisch und pessimistisch, wie uns Kommentator Reinhold Beckmann kenntnisreich unterrichtet. Und wenn er mal nicht pessimistisch und melancholisch ist, dann fügt er sich Fado singend in sein Schicksal. Wusste ich bis jetzt nicht, weiß ich jetzt, dank Reinhold. Und irgendwie muss er recht haben, der Reinhold. Denn die Portugiesen schießen in Halbzeit eins noch genau zwei Mal in Richtung Tor. Da nutzt ihnen auch Luis Figo nichts, denn Otto, der Große, hat den einstmals lässigen griechischen Abwehrspielern innerhalb von drei Jahren humorlose deutsche Tugenden eingeimpft: immer feste druff uff den Gegenspieler. Dann kommt keiner an ihnen vorbei. Zur Pause ist der portugiesische Kneipenbesitzer aus einem Dorf nördlich von Porto an der Grenze zum galizischen Spanien trotzdem noch nicht niedergeschlagen. In seinem portugiesischen Nationaltrikot macht er mir die besten und die meisten gegrillten Sardinen mit Weißbrot und lächelt mir optimistisch und geheimbündlerisch zu.. Wir wissen beide, dass Trainer Scolari auf uns hören wird und in der Pause Deco für Rui Costa ins Mittelfeld und Stürmer Ronaldo einwechselt. Die zweite Halbzeit beginnt – und wir hatten recht: Deco spielt statt Rui Costa und Ronaldo wird jetzt die beiden Tore zum 2:1-Sieg schießen! Die Vorfreude darüber dauert wieder nur sechs Minuten, dann rennt Ronaldo einen griechischen Spieler im portugiesischen Strafraum über den Haufen. Elfmeter: 2:0 für die Griechen. Reinhold Beckmann ist außer sich. Jetzt hat Griechenland schon doppelt so viele Tore geschossen wie in allen EM- und WM-Turnieren in ihrer Geschichte zuvor. Es kann dafür nur einen Grund geben: Otto Rehhagel. In der Folgezeit rennen die Portugiesen planlos auf das griechische Tor zu (der VfB sollte vielleicht einen griechischen Innenverteidiger kaufen), doch nichts will klappen. Jetzt singt Reinhold Beckmann den Fado. 40 Minuten lang bis zum Ende des Spiels. Es ist der längste Fado, der je von einem Deutschen in Deutsch gesungen wurde. Der Stimmung nach zu urteilen, die Beckmann am frühen Samstag Abend in der portugiesischen Kneipe verbreitet, dürfte sich nach dem Schlusspfiff alle Portugiesen kollektiv in den Atlantik stürzen. Es kommt aber nur deshalb nicht dazu, weil der Portugiese gar nicht so ist, wie der Beckmann meint. Erstens schießt Ronaldo doch noch ein Tor (zwar in der Nachspielzeit, aber immerhin, er kann es doch!). Zweitens spielen die Portugiesen noch gegen Spanien und Russland und die beiden werden dabei so dermaßen vermöbeln, dass sie es bereuen, bei dieser EM dabei gewesen zu sein. Und drittens dauert die Traurigkeit der Portugiesen genau einen Portwein lang. Der ist, trauert man noch ein bisschen mit, so voll gefüllt, dass das Glas schon beim Angucken überschwappt. Ein Lächeln, ein kurzes Prost, ein Schluck – und weg ist die 1:2-Niederlage des Eröffnungsspiels und mit ihr der ganze Pessimismus, der die Portugiesen scheinbar so melancholisch macht. Bis zum nächsten Mal im „Lisboa“. P.S.: Aus Otto Rehhagel machte die Presse dank des Überraschungserfolgs anderntags „Otto, den Großen“ und titelte: „Rehakles erobert Portugal“. Spiel 2 des ersten Tages ist schnell erzählt: Ich habe es nämlich nicht gesehen. Aber glaubt man der Presse, dann konnten die Spanier trotz des 1:0-Sieges gegen Russland „keine Akzente setzen“. Ich meine: Das muss man sowieso erst mal können, Akzente setzen. Ich stelle mir das ganz schön schwierig vor. Ich hab’s auch mal probiert, mit einem „Accent t’aigu“. Das hat aber niemand mitbekommen. Auch nicht, als ich einen „Accent grave“ und einen „Accent circonflex“ hinterher schob. Später habe ich es noch mit meinem schwäbischen Akzent probiert. Da haben alle nur gelacht. Also hab‘ ich gelassen und kann jetzt die Spanier durchaus verstehen: Akzente zu setzen, das ist wirklich sehr, sehr schwer. Das macht ihnen aber offenbar nichts aus, denn die Spanier haben ja „Valeron, den Galicier“. Der hat im Spiel gegen Russland laut dpa „eines der schnellsten Jokertore in der Geschichte von Fußball-Europameisterschaften geschossen“. W-A-H-N-S-I-N-N!! Tja, wenn sie schon keine Akzente setzen, Jokertore schießen, das können sie, die Spanier! Da nutzte es ihrem Gegner auch nichts, dass sich Aleinichev nach dem Rückstand „zum Regisseur der Russen aufschwang“. Ich kann nicht wissen, wo der gute Aleinichev danach landete, denn ich habe das Spiel der „Seleccion“ gegen die „Sbornaja“ (auch dpa) ja nicht gesehen. Bis Morgännn!!! link me Nächste Seite |
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